Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die neunschwänzige Katze: 9. Abenteuer der Familie Lederer
Die neunschwänzige Katze: 9. Abenteuer der Familie Lederer
Die neunschwänzige Katze: 9. Abenteuer der Familie Lederer
eBook579 Seiten8 Stunden

Die neunschwänzige Katze: 9. Abenteuer der Familie Lederer

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Was passiert, wenn ein aus Syrien geflüchtetes, alawitisches Mädchen sich in London nicht zurecht findet? Was, wenn sie den Tod ihrer Eltern gegenüber den Behörden bestätigen soll? Für die fünfzehnjährige Sheliza bin-Elik beginnt eine Odyssee, während ihre Pflegeeltern Henry Huxley und Holly Peterson sich vor Sorgen verzehren. Kann sich die werdende Mutter selber aus den Fängen der ISIS befreien?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Juni 2015
ISBN9783738030402
Die neunschwänzige Katze: 9. Abenteuer der Familie Lederer

Mehr von Kendran Brooks lesen

Ähnlich wie Die neunschwänzige Katze

Ähnliche E-Books

Action- & Abenteuerliteratur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die neunschwänzige Katze

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die neunschwänzige Katze - Kendran Brooks

    Vorgeschichte

    »Du kommst spät.«

    Holly Peterson versuchte, ihre Stimme nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen, sondern eher gleichgültig, was ihr ganz gut gelang. Sheliza blieb trotzdem im Flur stehen, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen, blickte ihre Ersatzmutter wie ertappt an, schaute dann betreten auf die Holzdielen.

    »Ja«, bekannte sie stockend, »ich hab nach dem Gebet noch mit ein paar Frauen geplaudert und die Uhrzeit darüber vergessen.«

    Sheliza bin-Elik, die Vierzehnjährige aus Syrien geflohene Alawitin, war von Henry Huxley nach London mitgenommen worden. Sie war eine Waise, besaß nur noch ihren Groß-Onkel Jussuf, der jedoch in der Türkei in Untersuchungshaft saß und einer langjährigen Haftstrafe entgegenblicken musste. Darum hatte Henry Huxley das Mädchen nach Großbritannien eingeladen und zu sich nach Hause genommen, doch nicht nur deswegen. Denn Sheliza hatte sich im letzten Sommer in einen sunnitischen Flüchtlingsjungen verliebt und trug seit drei Monaten dessen Kind unter ihrem Herzen. Der zukünftige Vater jedoch wollte weder von der angehenden Mutter noch vom heranwachsenden Baby etwas wissen, verstieß sie beide, wollte um nichts in der Welt die Verantwortung tragen, hatte nach seiner Aussage bloß den Spaß und die Bestätigung seiner Männlichkeit gesucht. Für die so junge Alawitin kam jedoch eine Abtreibung nicht in Frage.

    »Ist schon gut«, tröstete Holly Peterson das Mädchen, nickte ihr freundlich lächelnd zu, »ich hatte allerdings gehofft, du hilfst mir beim Backen.«

    Weihnachten stand vor der Tür und die Lebensgefährtin von Henry Huxley wollte das erste Mal seit vielen Jahren ein Frohes Fest mit allem Drum und Dran feiern, nun, da sie dank Sheliza unverhofft zu einer kleinen Familie zusammengefunden hatten.

    »Bitte entschuldige. War keine Absicht.«

    Noch immer sah die junge Alawitin auf den Dielenboden, wirkte jedoch nun nicht mehr demütig, sondern eher trotzig. Vielleicht behagten ihr als gläubige Muslimin die Aussicht auf ein Fest nach christlicher Tradition wenig. Womöglich machte sie sich aber auch bloß Sorgen um ihr Kind, auch um ihre eigene Zukunft. Wer vermochte schon in eine Vierzehnjährige hinein zu blicken?

    Endlich nahm sie den Niqab ab, hob danach den Halsausschnitt ihres Abaya über den Kopf und zog ihn über die Schultern vom Körper. Darunter kamen braune Halbschuhe, eine gelbe Stoffhosen und ein dicker, knallroter Wollpullover zum Vorschein, allesamt nicht modisch, auch nicht modern, sondern altbacken langweilig.

    Holly hatte einige Versuche unternommen, über die Kleiderfrage näher an die Jugendliche heran zu kommen, sie für sich zu gewinnen, sie auf ihr neues Leben im Westen vorzubereiten. Doch alle ihre Vorschläge und Anregungen fruchtete bislang nicht, schienen eher das Gegenteil zu bewirken, weckten in Sheliza den Trotz, führten bis zur völligen Ablehnung aller westlichen Sitten in Fragen der Kleidung. In Syrien hatte sie sich in ihrer Schulklasse noch geweigert, den Niqab zu tragen. Hier in London war er ihr dagegen Schutz vor einer Umwelt, in der sie sich bislang zwar sicher, jedoch nicht wirklich wohl fühlte.

    »Willst du eine heiße Schokolade? Die Plätzchen sind seit einer halben Stunde fertig gebacken und nun genügend abgekühlt.«

    Sheliza schüttelte stumm und ablehnend ihren Kopf, sah endlich vom Boden auf und der aparten Britin von Mitte vierzig ins Gesicht.

    »Nein danke, Holly. Denn wir essen doch bestimmt gemeinsam zu Abend, sobald Henry zurück ist, oder?«

    Henry Huxley verdiente sich sein Geld mit Geheimnissen, genauer gesagt, mit der Auflösung derselben. Seine Einkünfte waren zwar unregelmäßig, doch mehr als ausreichend. So war er, ähnlich wie sein guter Freund Jules Lederer aus der Schweiz, finanziell seit vielen Jahren unabhängig, was nicht bedeutete, dass er seine Leidenschaft mit Mitte sechzig aufgegeben hätte. Doch während die allermeisten Werktätigen zu festen Zeiten ihrer Arbeit nachgingen und ihre Einkünfte im Dienste eines Arbeitgebers oder von Kunden erwarben, traf der Brite seine vielen Kontakte wann immer möglich, gab Informationen weiter, erfuhr neue, hielt so seinen Daumen am Puls der Hauptstadt, an den Kreuzungspunkten ihrer Nervenstränge, wo sich Politik und Wirtschaft allzu oft mit dem Verbrechen trafen.

    Sheliza ging in ihr Zimmer, lächelte Holly beim Vorbeigehen wortlos zu.

    Die Britin hatte jahrelang unter dem Pseudonym Saxxon Paris als Edel-Escort-Girl gearbeitet, war noch kein Jahr mit Henry Huxley zusammen. Sie war gegen eins achtzig groß, besaß die reifen Formen einer aufregenden Milf, konnte vornehm wie eine Königin auftreten und schreiten wie ein Model auf den Parisern Laufstegen, war intelligent und dazu auch noch klug, verkörperte für viele ihrer früheren Kunden das Idealbild einer Geliebten, zu schön, zu anspruchsvoll, zu anstrengend, um mit ihr ein Leben zu verbringen, jedoch genau richtig für ein paar Tage Ausspannen auf Hawaii oder zwei Wochen Skiurlaub in St. Moritz.

    Für Henry sollte Holly ursprünglich einen heiklen Auftrag übernehmen, der jedoch nicht zu Stande kam. Stattdessen verliebten sich die beiden ineinander, zogen wenig später in eine geräumige Wohnung im Stadtteil Mayfair. Die junge Sheliza wollten die beiden so rasch als möglich adoptieren, hatten dazu auch den Segen von Jussuf, ihrem Groß-Onkel, erhalten, mussten sich jedoch erst noch mit den syrischen, türkischen und britischen Gesetzen arrangieren, was wohl noch viele Monate dauern würde. Denn in Syrien war eine Adoption von Muslimen durch Christen verboten, in der Türkei derzeit zumindest theoretisch noch möglich und Großbritannien sah darin keinen Hinderungsgrund. Doch welches Land und welche Rechtsauffassung waren ausschlaggebend für das Schicksal einer jungen Alawitin, die vor dem Bürgerkrieg über die Türkei nach London geflohen war?

    Aus dem Zimmer von Sheliza schallte Musik auf den Flur. Auf der Stirn, der immer noch nachdenklich unter der Küchentür stehenden Holly, zeigten sich Furchen und ihre Mundwinkel verhärteten sich. Denn statt Pop, Rock, Country oder Hip-Hop klang wieder diese grässliche orientalische Musik mit heptatonischer Tonleiter an ihre Ohren, dröhnend gespielt von schrillen Schalmeien und dumpfen Trommeln, mit einem arabisch klingenden Singsang, deren Inhalt die Britin nicht verstand, deren harte, abgehackte Vokale in ihr jedoch stets eine gewisse Unruhe erzeugten, ein anschwellendes Unbehagen, wie eine drohende Gefahr, die sich langsam an einen heranschlich, ohne dass man sie bislang klar erkennen konnte.

    »Mach dich nicht verrückt«, sagte sie gar nicht leise zu sich selbst und ging dann zurück an den Herd, rührte dort die Bratensoße um, in die sie die Rinderrouladen garen wollte, welche sie aus Rücksicht auf Sheliza selbstverständlich ohne Speck zubereitet hatte.

    Sheliza bin-Elik musste sich erst noch in den Takt der westlichen Millionenstadt einleben. Davon war die Britin überzeugt. Denn die bisherigen Teenager-Jahre hatte die gläubige Alawitin in einer kleinen Gemeinde im Norden von Syrien verbracht, einem Ort ohne Diskotheken, ohne Bars, ohne Internet-Kaffees, mit einem einzigen Kinosaal, der von einem Imam geleitet wurde und der darum ausschließlich religiös erbauende Filme aus dem arabischen Raum aufführte. Al-Busayrah war wie eine Kapsel für die junge Muslimin gewesen, ein Ort ohne echten Kontakt nach draußen, in die Welt hinaus, ein Ort, wo das Seelenheil jedes Einzelnen als weit wichtiger gewertet wurde als jeder wirtschaftliche Erfolg.

    Dschihadisten, von der sunnitischen Mehrheit herbeigerufen, hatten diesem beschaulichen Leben ein jähes Ende gesetzt. Sie überfielen die Stadt und begannen sogleich, die Christen und Alawiten auszurotten. Auch die Familie bin-Elik fiel ihnen zum Opfer, mit Ausnahme ihres Groß-Onkels Jussuf. Mit ihm zusammen war Sheliza in die Türkei entkommen.

    Bestimmt taute die Muslimin auf, sobald ihr Kind zur Welt gekommen war, sobald sie für einen jungen Erdenbürger die Verantwortung übernehmen musste.

    Sheliza war aufgeweckt, machte riesige Fortschritte in Englisch, würde ab Januar eine reguläre Schule im Quartier besuchen können. All dies musste Einfluss auf sie ausüben, musste sie verändern, sie aus ihrer Erstarrung lösen, in die sie seit ihrer Ankunft in London gefallen war, angesichts all der öffentlichen Obszönitäten, welche die europäische Hauptstadt mitprägten, angefangen bei den Plakatwänden mit halbbekleideten Frauen und Männern, über die Pfützen von Erbrochenem auf den Gehsteigen an jedem Samstagmorgen, bis hin zu den Minirock tragenden, Zigaretten rauchenden, stark geschminkten, meist älteren Frauen in den Gassen von Soho und Shepherd Market. Holly und auch Henry hatten viel mit dem Mädchen darüber geredet und diskutiert, über all den Schmutz und den Sittenverfall, über das Für und das Wider einer offenen Gesellschaft, über das Miteinander völlig unterschiedlicher Ansprüche und Lebensweisen. Noch fehlten bei Sheliza Einsicht und Toleranz. Nicht verwunderlich für einen Teenager. Man musste ihr einfach mehr Zeit lassen.

    Henry Huxley kam nach Hause, wurde von Holly mit einem Kuss begrüßt.

    »Ich kann in zehn Minuten anrichten.«

    »Ist gut, Liebling. Ist Sheliza zurück?«

    »Ja, selbstverständlich, auf ihrem Zimmer.«

    Mehr sagte Holly nicht, wollte nicht unnötig einen schlafenden Hund wecken, kannte ihren Henry längst gut genug, wusste, dass er der jungen Muslimin womöglich nachspionieren würde, falls er von ihrem häufigen Ausbleiben erfuhr und von all den nicht eingehaltenen Vereinbarungen der letzten Wochen.

    Man muss, wann immer möglich, den Menschen, die einem nahe stehen, Vertrauen entgegenbringen. Denn wie könnten wir ohne Vertrauen zusammenleben?

    Holly Peterson hielt sich an ihren Grundsatz, der sich meistens bewährt hatte, zumindest, solange es sich nicht um einen ihrer Kunden von früher handelte, sondern um hart arbeitende Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt noch selbst verdienten. Denn wer für sich und seine Familie Verantwortung übernahm, der ging auch mit anderen Menschen behutsam um.

    »Das wird schon«, beantwortete sie sich selbst die nicht gestellte Frage.

    »Ist was?«, schallte es von Henry und vom Sofa aus in die offene Küchenzeile hinüber.

    »Nein, alles Bestens.«

    Dezember 2013

    Es war bislang kaum Schnee gefallen und trotzdem war Weihnachten allgegenwärtig. Die Geschäfte hatten sich herausgeputzt, mit Plastik-Tannengirlanden und bunten Lichtern. Die Verkäuferinnen lächelten besonders freundlich, vielleicht in Erwartung einer möglichst fetten Umsatzprovision, bevor der Start der Ausverkaufssaison nach dem Boxing Day begann. Selbst die Passanten auf den Gehsteigen schienen beschwingter, auf jeden Fall jedoch umsichtiger und zuvorkommender als die übrige Zeit im Jahr. Niemand wollte es sich mit dem Christkind verderben, nicht einmal die Muslimen, Juden, Buddhisten und Hindi.

    Henry Huxley, Holly Peterson und Sheliza bin-Elik waren im Harrods unterwegs, hatten sich mit der passenden Winterbekleidung für die Vierzehnjährige herumgeschlagen, hatten sie zum einen oder anderen Stück überreden können. Zumindest vor Holly zeigte die junge Muslimin bislang keine Scheu, akzeptierte sie auch in den Umkleidekabinen, war für ihren Ratschlag durchaus dankbar, auch wenn sie sich stets für das langweiligste und damit auch günstigste Teil aus einer Auswahl entschied.

    »Hier ist alles so furchtbar teuer«, meldete Sheliza ihre Bedenken immer wieder an, »eine wollene Mütze für achtzig Pfund? Das sind doch Halsabschneider.«

    Die Britin lächelte jeweils nachsichtig, wiegelte ab, fand auch aufmunternde Entschuldigungen oder sprach über das oft sehr hohe Einkommen der Londoner. Sie zeigte große Geduld mit der Alawitin aus Syrien, wollte sich die Weihnachtsstimmung nicht durch möglicherweise berechtigte, aber ungelegene Anklagen und Diskussionen vermiesen lassen.

    Später fuhren sie ins Kellergeschoss, besuchten dort den Supermarkt, wo Henry sich eingehend beraten ließ und sich vom Verkäufer fürs Neujahr einen erst kürzlich eingetroffenen, spritzig-fruchtigen Champagner eines kleinen aber feinen Herstellers wortreich aufschwatzen ließ, während Sheliza und Holly ohne großes Interesse die Regale mit den Weinflaschen abgingen und sich die junge Muslimin wiederholt über die aberwitzig hohen Preise beschwerte und den Konsum von Alkohol ganz generell anprangerte.

    »Toleranz«, meinte Holly nachsichtig, »muss jeder Mensch erst einmal lernen, Sheliza. Christus hat das Abendmahl der Überlieferung nach mit Brot und Wein gefeiert. Deshalb ist Alkohol bei uns nicht verboten, auch wenn er viel Böses anrichten kann, wenn es jemand mit dem Trinken übertreibt.«

    »Darum verstehe ich das auch nicht«, meinte die Vierzehnjährige kopfschüttelnd, »man weiß genau, dass Alkohol für Menschen nicht gut ist und erlaubt ihn trotzdem? Das ergibt einfach keinen Sinn? Zumindest die Religion sollte ihn doch verbieten?«

    »Die Bibel lässt den Menschen sehr viele Freiheiten, Sheliza, engt sie weit weniger in der Gestaltung ihres Lebens ein als zum Beispiel der Koran oder die Thora der Juden. Das Christentum glaubt nämlich an zwei Dinge. An die Selbstverantwortung der Menschen für ihr Leben und an die Selbsteinsicht der Menschen, wenn sie sich im Gebet an Gott wenden und ihn um Rat fragen.«

    »Aber wäre es nicht besser, wenn auch die Bibel mehr Dinge verbieten würde? Nicht nur das Trinken, sondern auch all die nackten Bilder von Frauen und Männern in der Werbung? Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, wenn die Sitten so zerfallen? Das Zusammenleben ist doch viel einfacher, wenn die Menschen mehr Regeln befolgen?«

    »Ach, Sheliza«, seufzte Holly leise, »die Welt ist doch weit komplexer, als dass sie durch ein heiliges Buch für alle Zeiten abgebildet werden könnte. Sieh dir doch an, was überall auf der Welt geschieht, ob unter den Christen, den Muslimen, den Buddhisten oder den Hindi. Gewalt tritt überall auf, aber auch Ungerechtigkeiten, Übervorteilung und Betrug. All das verbieten zwar die heiligen Bücher und trotzdem werden sie verbrochen, selbst von gottesfürchtigen Menschen. Die Religion gibt zwar einen Rahmen vor. Doch umsetzen müssen ihn die Menschen selbst und daran hapert es in allen Kulturen und zu allen Zeiten.«

    Sheliza schien sich im Moment mit der Erklärung abzufinden, interessierte sich auch nicht länger für den Wein und die Spirituosen, schlenderte gedankenverloren weiter, hinüber zu den Gestellen mit den Konserven. Die Britin folgte ihr wie unabsichtlich und mit Abstand, behielt sie jedoch fast ständig im Auge, versuchte die Gedanken und Gefühle der Vierzehnjährigen zu erraten, wenn sie irgendwo stehenblieb und sich irgendwelche Verkaufswaren näher betrachtete.

    Was versprach sich ein muslimischer Teenager von seinem Leben?, fragte sich Holly immerzu und nach einer Weile ergänzte sie in Gedanken, was versprach sich ein schwangerer, muslimischer Teenager von seinem Leben?

    *

    Alles sprach vor allem vom Karneval, der bereits in wenigen Wochen stattfand. Doch auch in Rio de Janeiro hatten sich die Geschäfte zur Weihnachtszeit herausgeputzt, hatten ihre Auslagen mit weit teureren Produkten als üblich bestückt und mit besonders schönen Verpackungen versehen, ließen die Schaufenster lustig blinken, füllten ihre Verkaufsräume mit möglichst stimmungsvollen Liedern. Chufu Lederer und Mei Ling kämpften sich durch die Massen an Menschen, die mit ihnen zusammen das Barra da Tijuca Einkaufszentrum an diesem Samstagmorgen bestürmten. Die Suche nach möglichst passenden Geschenken trieb die Leute in die Läden und damit den Verkäufern in die gierigen Hände.

    Die beiden Psychologie-Studenten waren längst schwer bepackt, schleppten ihre bisherige Beute in wohl gefüllten Kunststofftaschen mit sich.

    »Komm, setzen wir uns für einen Moment«, reklamierte Mei das sture Vorwärtsdrängen ihres Freundes von Geschäft zu Geschäft, als sie an einer Gruppe von Parkbänken vorbeikamen, die man an der Kreuzung zweier Gänge aufgestellt hatte. Aufatmend ließ sich der Philippine auf einer von ihnen nieder, stellte die Einkaufstaschen links und rechts von sich ab. Die chinesisch-stämmige Mei Ling setzte sich neben ihn, quetschte sich mit ihren Paketen in die noch freie Lücke zwischen Chufu und der anderen Armlehne.

    »Puuh«, meinte sie als Einleitung, »das wird von Jahr zu Jahr schlimmer«, beklagte sie sich über den Ansturm der anderen Käufer auf die Shopping-Mall.

    »Wo bleibt nur die Wirtschaftskrise, wenn man sie am dringendsten braucht«, antwortet Chufu sarkastisch. Ein gehetzt blickender Mann blieb irritiert stehen, stierte den Philippinen kurz und ohne rechtes Begreifen an, hetzte kopfschüttelnd weiter.

    »Wie weit sind wir mit der Liste?«

    »Wir haben alles. Bis auf Die Schande«, antwortete Chufu und wirkte erschöpft.

    Mit Die Schande, bezeichnete der Philippine seit einiger Zeit Shamee, die jüngste Schwester von Mei, benannt nach einer Figur in einem chinesischen Theaterstück, das ihr Großvater sehr geliebt hatte, als er noch lebte. Chufu hatte ihren Namen zum englischen The Shame verballhornt, nicht etwa aus lauter Bosheit, sondern weil die Jüngste der Ling Geschwister oft hochnäsig auftrat und sich unnahbar Stolz gab, andere Leute darum oft vor den Kopf stieß und man von ihr in der Öffentlichkeit immerzu beschämt wurde.

    »Was wollten wir noch für Shamee besorgen? Ach ja, dieses neue Parfüm von Yves Saint Laurent, dieses Rosenzeug«, sagte Mei mehr zu sich selbst als zu Chufu. Die Psychologie-Studentin trug seit jeher Chanel N° 5, konnte die Mädchen und Frauen nicht verstehen, die ständig hinter neuen Düften herjagten.

    Sie packten wieder ihre Taschen und erhoben sich von der Bank, gingen weiter bis zur nächsten Parfümerie, kauften dort die 125ml Flasche, ließen sie hübsch einpacken und nickten sich zu, als sie das Geschäft verließen.

    »Mission abgeschlossen«, vermeldete Chufu in möglichst militärischem Tonfall, »alle Feinde niedergestreckt. Der Sieg ist unser.«

    *

    Auch Lausanne hatte sich weihnachtlich geschmückt, wenn auch weit weniger farbenfroh als Rio de Janeiro und auch nicht so großstädtisch wie London. Hier sah man den Schaufenstern oft noch die liebevolle, aber unbeholfene Hand einer Lehrtochter an oder die Nadeln rieselten bereits von den Fichtenzweigen zu früh geschnittener, dafür echter Äste. Es war das kleinstädtische, das provinzielle, das Alabima Lederer ganz besonders an Lausanne gefiel, das etwas behäbige, gemütliche. Auch mit Jules, ihrem Ehemann, lief es seit ihrem mehrwöchigen Besuch in Addis Abeba und bei ihren Eltern wieder besser. Sie hatte ihm verziehen, sein Misstrauen, seine Verschlossenheit, seine Feigheit. Das glaubte sie zumindest.

    Die Äthiopierin freute sich auf die nächsten Wochen. Denn noch vor Weihnachten wollten Henry Huxley und Holly Peterson bei ihnen vorbeischauen und zusammen mit Sheliza bin-Elik die Schweiz besuchen. Alabima kannte das syrische Mädchen noch nicht, hatte nur von Jules von ihr erfahren. Doch was er ihr von der jungen Alawitin erzählt hatte, rührte sie an und machte sie gleichzeitig neugierig.

    Ihre Tochter Alina war noch in der Schule. Und ihr Taekwondo-Training, von dem ihr Ehegatte Jules immer noch nichts ahnte, hatte sie eben im Kampfsport-Center beendet, dort geduscht und war nun zu Fuß auf dem Weg zum Markt, um fürs Mittagessen einzukaufen. Tomaten hatten längst keine Saison mehr, doch sie brauchte welche. Und auch Bananen würde sie erneut kaufen. Denn Jules sollte auf Anraten seiner Augenärztin mehr Magnesium zu sich nehmen, was der Schweizer jedoch verweigerte, zumindest in Tablettenform, während er zufällig herumliegenden, gelben Schlauchäpfeln nicht widerstehen konnte, ähnlich einem behaarten Urwaldbewohner, der eben erst gelernt hatte, sein Gleichgewicht auch auf zwei Beinen zu halten. Der Vergleich gefiel der Äthiopierin und sie lächelte still in sich hinein. Nicht, weil sie Jules als Affen sah. Eher weil das Tier so perfekt zu einem Menschen passte, der seine Freiheit nur ungern eingeschränkt sah und darum lieber töricht handelte, sich gleichzeitig den Anschein von Besonnenheit gab, als hätte er alles wohl durchdacht, nur um danach doch ganz instinktiv und unbewusst einer Verlockung zu erliegen.

    Die Auswahl an Salaten war erstaunlich groß und sie wählte diesmal Endivien und Zuckerhut aus, wollte den bitteren mit einer sehr würzigen Soße veredeln, die gerippten Blätter des anderen zum Wickeln von Gemüse-Rouladen verwenden. Rosenkohl wanderte ebenso in ihre Tragetasche, wie ein Kilo Mohrrüben, eine Knollensellerie und zwei kleinere Kohlrabi, deren Geschmack Jules ganz besonders mochte. Alina hingegen würde sich einmal mehr beschweren, sobald sie den Duft des Kohlgemüses in die Nase bekam. Die Sechsjährige mochte ihn nicht, hatte ihn nie gemocht, würde ihn nie mögen, wie sie stets behauptete, wenn er wieder einmal auf den Tisch kam.

    Alabima blickte sich um, sah nicht die vielen Menschen, sah auch nicht die wenigen Tauben, die da und dort hockten oder pickten, sah auch nicht die Häuserfront mit den Geschäften, nahm dafür das Gefühl von Weihnachten in sich auf, die irgendwie gedämpften Geräusche, die auf einmal spürbar lauere Luft, die friedvoll anmutende Stimmung.

    Das Leben ist doch schön, oder?

    So hatte es ihr Jules einmal übersetzt, dieses gesprochene Intro von Konstantin Wecker auf CD, als der bayerische Künstler auch von einer besonderen Stimmung sprach, spät nachts, in einer Kneipe, auf dem Pissoir, wenn selbst der Mann mit der vergrößerten Prostata diese Worte wählte, während er die Tropfen fast einzeln aus seiner Harnröhre quetschte. Sie lächelte.

    *

    »Eine wichtige Hürde haben wir geschafft«, vermeldete Henry Huxley zufrieden lächelnd nach seiner Rückkehr in ihr Appartement. Holly und Sheliza sahen den Briten auffordernd an, wollten mehr erfahren.

    »Unser Anwalt hat die schriftliche Aussage deines Groß-Onkels erhalten und übersetzen lassen. Jussuf bestätigt, dass deine Eltern mit allergrößter Wahrscheinlichkeit tot sind. Dr. Coppers meint, wir sollen gleich morgen früh mit ihm zusammen vor Gericht erscheinen, damit auch du, Sheliza, eine eidesstattliche Erklärung abgeben kannst. So lässt sich dein Status als Waise juristisch bestimmen.«

    Holly sah freudestrahlend Sheliza an. Die Muslimin jedoch, die seit ein paar Tagen auch in der Wohnung stets ein Kopftuch trug, weil sie sich so wohler vor den Augen von Henry fühlte, nicht so nackt und ausgestellt, zeigte eher erschrockene Augen. Es schien ihr erst in diesem Moment bewusst zu werden, dass sie bislang noch keine offizielle Waise war, dass noch niemand den Tod ihrer Eltern bezeugt hatte. Und nun sollte sie also die letzten Nägel in die Särge von Vater und Mutter, aber auch von ihren Geschwistern treiben?

    »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, meinte sie kleinlaut.

    Holly rückte sogleich auf dem Sofa näher zu ihr hin, nahm sie in den Arm, was die Vierzehnjährige geschehen ließ.

    »Es ist ein großer Schritt, Sheliza, ohne Zweifel«, sagte sie zur jungen Muslimin, »doch jeder Mensch muss lernen, los zu lassen, irgendwann. Henry und ich wollen dich zu nichts drängen. Doch auch für dein Kind wäre es das Beste, als Britin zur Welt zu kommen.«

    Henry sah seine Freundin mahnend und warnend zugleich an. Ihm war das Zusammenzucken der Schultern der Alawiten bei der Erwähnung der Adoption ebenso wenig entgangen, wie der verloren wirkende Blick des Mädchens danach. In so jungen Jahren ein Kind zu bekommen, das war bereits mehr Verantwortung als ein Teenager leisten konnte. Der Brite empfand das Vorpreschen von Holly eher als Zusatzbelastung für Sheliza und keineswegs als Entscheidungshilfe.

    »Wir müssen nichts überstürzen«, meinte er väterlich zur Muslimin, »weder den Termin bei Gericht noch eine Adoption.«

    Die Alawitin sah auf und direkt in sein Gesicht, schien darin etwas zu suchen, eine Antwort vielleicht auf ihre ständig bohrende Frage, ob die beiden Briten womöglich auf ihren früheren Entscheid einer Adoption zurückkommen wollten und sie gar nicht mehr in Betracht zogen.

    »Ich wäre überglücklich, wenn du einer Adoption durch uns irgendwann zustimmst«, versicherte er ihr mit einem offenen Lächeln, »doch wir werden dich niemals bedrängen, niemals von dir dies einfordern. Du bleibst unser höchst geschätzter Gast, unser Pflegekind, solange du noch nicht bereit bist für eine Adoption.«

    »Geht das überhaupt? Adoption ohne Ehe?«, fragte die Vierzehnjährige.

    Holly drückte sie noch etwas enger an sich.

    »Darüber haben Henry und ich längst gesprochen. Wir würden selbstverständlich vorher heiraten.«

    »Heiraten? Nur meinetwegen?«

    Die junge Alawiten schien entsetzt.

    »Nein, weil wir uns lieben und wir zusammenbleiben werden«, versuchte die Britin das Mädchen zu beruhigen, »du wärst nur der Anlass, Sheliza, nicht der Grund.«

    Das verwirrte die Muslimin sichtlich, diese Unterscheidung zwischen Anlass und Grund. Denn so weit war ihr Englisch noch nicht entwickelt, dass sie die exakte Abgrenzung zwischen Reason, Cause und Motive verstand. Henry sprang darum ein.

    »Was Holly damit ausdrücken will. Wir beide heiraten auf jeden Fall, auch wenn wir noch keinen Termin dafür vereinbart haben. Doch wir würden es sofort tun, wenn es Einfluss auf eine raschere Adoption hätte.«

    »Ich will nicht, dass ihr meinetwegen heiratet.«

    Holly wollte etwas entgegnen, Henry winkte beschwichtigend ab. Bestimmt kam Sheliza von selbst drauf, wie sie die Worte von ihnen beiden verstehen musste. Sie brauchte bloß ein wenig Zeit dazu. Ein weiteres Eindringen auf den Teenager war eher schädlich als hilfreich. So drückte die aparte Frau das Mädchen noch einmal fest an sich, ließ sie danach los.

    »Können wir den Termin morgen früh noch verschieben?«

    Die Stimme der Vierzehnjährigen war bittend.

    »Selbstverständlich. Ich ruf Dr. Coppers gleich an und sag ab. Eile ist unnötig. Warten wir mindestens bis nach unserem Besuch in der Schweiz damit. Okay?«

    Sheliza nickte dankbar. Holly Peterson warf Henry Huxley einen beunruhigten Blick zu. Die junge Muslimin tat so, als hätte sie ihn nicht bemerkt.

    *

    »Mein Gott, was bist du doch für ein Tölpel«, herrschte Shamee den Bediensteten an, »wie kann man nur so blöd sein und mir dieses Zuckerzeug bringen.«

    Angewidert stellte sie das Glas Cola zurück aufs Tablett, das Carlos, der zwanzigjährige neue Angestellte des Hauses ihr immer noch vorhielt. Wie sollte er auch wissen, dass Cola bei Shamee stets den unausgesprochenen Zusatz Zero trug? Gertenschlank war diese Chinesin doch, mager wie ein Bambusrohr.

    »Abmarsch. Bring mir das Richtige.«

    Es war sein erster Arbeitstag und er hatte die anwesenden Familienmitglieder erst vor wenigen Stunden und auch nur ganz kurz kennengelernt, war vom Major Domus, Aílton Santoro, bis eben noch in den Haushaltsbetrieb der Lings eingeführt worden, wurde von ihm zu seinem ersten Einsatz nach oben und zu dieser hochnäsigen Pute geschickt, die Sturm geklingelt hatte, als gälte es einen Großbrand zu löschen.

    »Sehr wohl, Senhorita Shamee Ling«, versuchte er freundlich zu bleiben, was ihm nicht ganz gelang, denn seine Stimme drückte durchaus auch den großen Ärger aus, den er verspürte, »ich bin gleich zurück.«

    »Tu bloß nicht so vornehm, du Kanaille«, meinte die Siebzehnjährige schroff, »wenn du mit mir auskommen willst, dann gewöhne dir rasch einen anderen Ton an, Freundchen. Frag Marta oder Aílton. Die können dir erklären, was Sache ist.«

    Sie entließ ihn mit einem abfälligen Winken ihrer Hand, hatte die Geste womöglich in einem Kostümschinken aus den 1950er Jahren gesehen und sich vor dem Spiegel selbst beigebracht.

    Carlos nickte, nicht besonders tief, nicht besonders ehrerbietig, presste dabei seine Kiefer zusammen, konnte so die spitze Antwort auf seinen Lippen zurückhalten, drehte sich abrupt weg und verschwand. Er war auf den Verdienst in diesem Haus dringend angewiesen, musste seine Mutter und die beiden jüngeren Geschwister finanziell unterstützen, die noch zur Schule gingen und mehr aßen, als erwachsene Männer und trotzdem ständig ein Loch im Bauch fühlten. Nachdem er die Stelle in der Kartonfabrik verloren hatte, mussten sie drei Wochen lang sogar hungern, so knapp waren ihre Geldmittel. Doch die Miete für die Dreizimmer-Wohnung ging nun einmal vor, denn ohne feste Adresse bekam man in der größten Stadt Brasiliens auf dem Arbeitsmarkt keinen Fuß mehr auf den Boden. Sein Onkel kannte zum Glück die Köchin des Hauses Ling. Sie vermittelte sein Vorstellungsgespräch mit dem Major Domus. Der hatte ihn eingehend befragt und auch getestet. Überglücklich erfuhr er am Vortag vom positiven Entscheid, war heute sogar eine Stunde früher als ausgemacht vor dem Gittertor des Anwesens erschienen, hatte beinahe fiebrig auf die vereinbarte Zeit gewartet. Der Lohn war recht gut, sogar besser als in der Fabrik, und die Arbeit erschien ihm ausgesprochen leicht. Etwas Dienern, Botengänge erledigen, bei Reparaturen mithelfen. Ja, einfach und angenehm, das hatte er zumindest angenommen, bis eben erst.

    Mit einem stummen Fluch auf den Lippen stieg er die Treppe zur Küche hinab. Unten erwarteten sie ihn am großen Tisch sitzend wie die Geier, der Major Domus Santoro, die Köchin Marta und das Hausmädchen Naara, das fürs Putzen und Bettenmachen angestellt war.

    »Und? Alles zufriedenstellend verlaufen?«, fragte ihn die Köchin beinahe anzüglich.

    »Du wusstest, dass sie Cola Zero erwartete?«

    Er stellte zwar die Frage, kannte jedoch längst die Antwort.

    »Wir dachten, es wäre nur gut, wenn du unseren Augenstern gleich zu Anfang richtig kennenlernst.«

    Die dicke Köchin sah ihn aufmunternd an.

    »Nimm´s dir nicht allzu schwer, mein Junge. Shamee schikaniert uns alle, wo sie nur kann.«

    »Dieser Philippine, dieser Chufu, der Freund von Mei Ling, wisst ihr, wie der sie nennt?«, fragte Naara anzüglich und sah die anderen triumphierend an.

    »The Shame«, meinte Major Domus Aílton Santoro trocken.

    »Und das bedeutet?«, fragte Carlos zurück, der kaum ein englisches Wort sprach.

    »Desondra

    Carlos sah ihn nachdenklich an. Die Klingel von oben meldete sich wieder und alle vier zuckten unter dem schrillen Dauergeläut zusammen. Zero wurde wohl dringend erwartet.

    »Ja, der passt«, gab Carlos zurück und beeilte sich.

    *

    Die wenigen Tage in der Schweiz hatten ihnen trotz allem gutgetan. Die vierzehnjährige Sheliza hatte zwar auch bei den Lederers zu Hause stets ein Kopftuch aufbehalten und eine Niqab übergezogen, sobald sie das Haus verließen. Doch im Gegenzug musste sie die Fragen der aufgeweckten sechsjährigen Alina über sich ergehen lassen. Warum sich verschleiern? Wozu dieser Abaya, der doch jede Frau so unförmig erscheinen ließ? Wieso ein Kopftuch sogar im Haus drinnen, wo doch gar kein Wind wehte?

    Die Vierzehnjährige hatte mehr als einmal hilfesuchend Henry oder Holly angeblickt, von ihnen jedoch nur ein nachsichtiges Lächeln oder Schulterzucken erhalten. Den Kampf mit der Kindergartenschülerin musste die Alawitin schon selbst bestreiten. Und so versuchte die junge Muslimin der noch jüngeren Christin glaubhaft zu vermitteln, dass sie sich unter den Tüchern weit sicherer vor neugierigen Blicken fühlte. Als aber die Kleine meinte, dass doch die Frauen im Dorf dies auch nicht täten und die Leute überall gleich wären und überhaupt, dass es doch höchstens eine Frage des Selbstbewusstseins sein müsste, da wurde Sheliza zornig.

    »Meine Religion verlangt das von mir«, gab sie wütend bekannt, worauf die störrische Kleine jedoch nur ihren Kopf verneinend schüttelte und meinte: »Wie kann das sein, wenn doch du Alawitin bist, so wie die Frau eures Präsidenten Assad? Und die trägt kaum je ein Kopftuch, geschweige denn so einen Haube mit Augenschlitzen.«

    Sheliza fühlte sich in die Ecke gedrängt, war vom Sofa hochgesprungen und die Treppe hoch in ihr Zimmer gerannt. Alina sah ihre Eltern kurz und etwas verstört an und wollte ihr dann folgen, wurde jedoch von Alabima zurückgerufen.

    »Nein, bleib hier, Liebling, lass sie für einen Moment in Ruhe, ja?«

    Selbstverständlich waren die Lederers von Holly und Henry vorgewarnt worden, hatten gewusst, dass sich die Muslimin mit ihrem neuen Leben im Westen schwertat, sich wohl darum auf Traditionen besann und sich immer mehr zurückzuziehen schien. Deshalb hatten die Lederers ihre Tochter auch entsprechend unterrichtet, hatten mit ihr über die Kleidung muslimischer Frauen gesprochen, ihr auch Bilder gezeigt. Mehr brauchten die Eltern nicht anzustoßen, kannten sie ihr Kind doch gut genug.

    Henry meinte zu Alina: »Weißt du, Sheliza muss sich erst wieder selbst finden. Sie hat Schlimmes erlebt, fühlt sich allein auf der Welt, ist sehr verunsichert. Doch spätestens nach der Geburt ihres Kindes wird sie zuversichtlicher in die Zukunft blicken. Denn Verantwortung lässt jeden Menschen wachsen.«

    Oder scheitern, dachte sich Jules, denn er verglich die Sheliza von eben mit dem aufgeweckten und positiven Teenager, den er auf Mor Gabriel nur wenige Wochen zuvor das letzte Mal gesehen hatte. Doch zu Holly und Henry sagte er: »Wie können wir ihr helfen? Auf diesem neuen Weg? Vielleicht lasst ihr dem Mädchen zu viele Freiheiten, lasst es zu, dass sie sich abkapselt? Besser wäre es, ihr würdet sie zwingen, sich zu öffnen.«

    Holly sah den Schweizer entsetzt an, während Henry ihn mit leicht zugekniffenen Augen fixierte, weil der Brite annahm, dass im Kopf seines Freundes ein Bündel von Maßnahmen bereitlag, welches er sich längst ausgedacht hatte und das Jules auch anzuwenden wollte.

    »Keine Experimente, Jules, bitte«, warnte er ihn deshalb und warf auch einen bittenden Blick hinüber zu Alabima, die zustimmend nickte und sich beschwichtigend an ihren Ehemann wandte: »Ich denke, Holly und Henry machen es schon richtig. Sie kennen Sheliza doch am besten?«

    Aber der Schweizer ließ noch nicht locker, sah seinen Freund aus London zwingend an.

    »Denk an die junge Gomaa«, sagte er eindringlich, »auch dort haben wir beide den Einfluss der Religion unterschätzt.«

    Henry schluckte schwer und Holly Peterson sah ihren Lebensgefährten alarmiert an, sah danach auf Alabima, las in ihrem Gesicht, dass die Äthiopierin die angesprochene Geschichte wohl kannte.

    »Später«, meinte Henry nur kurz angebunden zu ihr, »ich erzähl dir alles später.«

    Alinas Neugierde war jedoch bereits geweckt, hatte sie den Erwachsenen doch still zugehört und versucht, alles zu verstehen.

    »Was ist denn mit dieser jungen Gomaa passiert?«, wollte sie von ihrem Vater wissen, »wer ist das überhaupt?«

    Jules sah seine Tochter lächelnd an.

    »Dafür bist du noch zu jung.«

    Sogleich erschien die Zornesfalte auf ihrer kleinen Stirn und sie rief ärgerlich aus: »Immer bin ich zu klein. Jedes Mal, wenn ich etwas wissen will, sagt man mir, ich sei noch zu jung. Du bist gemein.«

    »Geh doch hoch zu Sheliza, Alina, und tröste sie ein bisschen. Sag ihr auch, dass dir die Fragen von vorhin leidtun und dass es für dich in Ordnung geht, wenn sie solche Kleider trägt.«

    Die Tochter sah ihre Mutter an und verstand, denn ihr Ärger war bereits verflogen und ein listiges Lächeln hatte das Stirnrunzeln abgelöst. Sie verschwand wie der Blitz aus dem Wohnzimmer.

    »Die Anklage gegen dich wurde fallengelassen?«, fragte Holly bei Alabima direkt nach und die Äthiopierin nickte sogleich: »Ja, denn es lagen ja keine eindeutigen Beweise vor, nur Indizien und später dann das entlastende Material. Sie mussten mich letztendlich laufen lassen.«

    »Dann ist der Fall endgültig abgeschlossen?«

    Die dunkelhäutig Frau zuckte mit den Achseln: »Zumindest wurden die Untersuchungen gegen mich von der Staatsanwaltschaft eingestellt.«

    »Und dieser Muffong?«

    Nun blickte Henry fragend Jules an, denn der Brite hatte von Holly vom aufdringlichen und übereifrigen Kriminalkommissar erfahren.

    »Muffong und dieser Staatsanwalt Snyder sind wohl Geschichte«, winkte Alabima ab, während Jules bloß Henry ansah, seine Schultern hob und wieder sinken ließ. Für den Schweizer schien die Angelegenheit wohl noch lange nicht bereinigt. Denn die Mühlen der Justiz konnten sehr langsam mahlen und polizeiliche Untersuchungen jederzeit wieder aufgenommen werden. Henry nickte, aufmunternd und verstehend zugleich.

    Am Nachmittag fuhren sie mit dem Motorboot hinaus auf den See, ließen sich bei kühlen Temperaturen aber in dicke Mäntel gehüllt für eine Stunde den Wind um die Nase wehen. Selbst Sheliza zeigte Spaß, wenn ihr auch das Hüpfen auf den niedrigen Wellen in den Magen und in die Beine ging und sie Jules deshalb bat, nicht gar zu stark zu beschleunigen. Der Schweizer überließ ihr daraufhin das Ruder, zeigte ihr, wie sie Gas geben und steuern musste. Und bald einmal jagte die angehende Mutter recht mutig geworden selbst über die Wellenkämme, hatte ihre Furcht und die Zurückhaltung verloren, zeigte, dass sie trotz Schwangerschaft und Religion im Grunde ihres Herzens ein ganz normaler Teenager blieb.

    Holly saß mit Henry zusammen auf der breiten Lederbank, den Außenbordmotor im Rücken, hatte sich an den Briten gekuschelt, schaute rundum fröhlich und zufrieden drein, stieß Henry auch leicht mit dem Ellbogen an und nickte mit dem Kinn stumm zu Sheliza am Steuerruder hinüber, die das erste Mal seit langem wieder einmal das ungestüme Wesen einer Vierzehnjährigen zeigte und dabei glücklich schien, sandte einen dankbaren Blick auch zu Jules hinüber, der grinsend wie ein Lausebengel neben der jungen Alawitin stand und sie immer wieder auf mögliche Gefahren auf der Wasseroberfläche hinwies, auf schwimmende Äste oder irgendwelchen Unrat.

    Ja, die weiteren Tage am Genfersee waren danach zwar kurz, jedoch weiterhin auflockernd gewesen, hatten den Panzer von Sheliza zumindest angeknackst, auch wenn sich an ihrer verhüllenden Kleidung nichts veränderte. Doch ihre Augen strahlten wieder vermehrt, zeigten neu erwachte Freude am Leben. Und auch ihr Blick war ruhiger und besonnener geworden, nicht mehr ständig auf Konfrontation aus, sondern milder gestimmt, nachsichtiger. Sahen so womöglich die Anfänge von Toleranz bei einem Teenager aus?

    *

    »Verdammt noch mal, wo ist meine neue Haarbürste?«

    Shamee starrte die Haushaltshilfe Naara zornig an.

    »Ich weiß nicht, Senhorita Shamee Ling«, gab diese demütig zur Antwort und zuckte mit den Schultern.

    »Hast du sie gestohlen?«, verdächtigte die Siebzehnjährige die junge Bedienstete.

    »Aber nein, Senhorita Shamee Ling«, entrüstete sich diese.

    »Aber irgendjemand hat die Bürste entwendet«, beharrte Shamee auf ihre Sicht der Dinge, »wenn nicht du, dann wohl ein anderer der Angestellten? Gestern noch hatte ich sie in dieser Handtasche bei mir getragen. Und heute ist sie verschwunden.«

    Naara stand da wie ein begossener Pudel, wusste nichts darauf zu antworten.

    »Ich ruf die Polizei an«, drohte die jüngste der Ling Schwestern aufgebracht, »du kommst ins Gefängnis, wenn du mir meine Bürste nicht sofort zurückgibst.«

    Die Hausangestellte blickte bestürzt drein: »Aber ich habe doch nichts …?«

    »Schweig, du Diebin«, wurde sie von Shamee unterbrochen, »du hast bis heute Nachmittag Zeit. Wenn die Bürste bis dahin immer noch nicht an ihrem Platz am dem Frisiertisch liegt, dann lernst du mich richtig kennen. Haben wir uns verstanden?«

    Naara nickte stumm, während ihre Pupillen wild umherstreiften, keinen Punkt festhalten konnten und voller Panik blickten.

    »Dann geh. Verschwinde endlich«, wurde sie barsch entlassen und Naara rannte aus dem Zimmer.

    Ein boshaftes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht von Shamee. Eben war ihr nämlich eingefallen, wo sie die Bürste mit dem vergoldeten Schildpatt-Rücken gelassen hatte. Das war gestern gewesen, als sie ihr Freundin Cäcilia besucht hatte. Dort nahm sie sie mit ins Bad und ließ sie dort wohl liegen. Sie würde nach dem Mittagessen kurz bei Cäcilia vorbeifahren und sie holen. Die dumme Naara würde am Nachmittag bestimmt große Augen machen, wenn die Bürste auch ohne ihr Zutun auf einmal wieder vorhanden war.

    *

    Es wurde ein recht stilles Christfest für die Lederers. Chufu war in Brasilien geblieben, die Verwandten von Alabima in Äthiopien weit weg, Freunde oder gute Bekannte feierten mit ihren eigenen Familien. Alina freute sich sehr über die Geschenke, auch wenn sie nur einen Bruchteil von ihrem Wunschzettel erhalten hatte. Sie wusste seit letztem Jahr, dass nicht das Christkind oder der Weihnachtsmann, sondern die Eltern die Gaben kauften, quasi als Stellvertreter. Darum hatte sich die Sechsjährige diesmal besondere Mühe gegeben und viele leicht erfüllbare Wünsche aufgelistet, um Alabima und Jules in keine Bedrängnis zu bringen. Der große Tannenbaum im Wohnzimmer mit den vielen, dieses Jahr für einmal sehr bunten Kugeln und den echten Kerzen, hatte sie mit ihrem Vater zusammen auf dem Markt ausgesucht und nach Hause gebracht. Mit ihrer Mutter zusammen wurde er danach geschmückt. Nur auf Lametta musste die Sechsjährige verzichten, denn ihre Mutter wollte dieses Jahr einen recht festlichen, aber zurückhaltenden Baum, keine Glitzerpyramide. Jules trat wenig später mit künstlich aufgesetzter, wichtigtuerischer Miene ins Wohnzimmer, trat vor die geschmückte Tanne, inspizierte sie so streng wie ein Ausbilder in der Armee seine Rekruten, nickte manchmal zufrieden, runzelte ein anderes Mal seine Stirn, ging einen Schritt zurück, kniff die Augenlider etwas zusammen, trat wieder hinzu, hob seinen Arm, berührte eine der Kugeln, so als wollte er sie verschieben, wohl um das Gesamtbild zu verbessern, tat es dann doch nicht, sondern nickte ernst, aber zustimmend.

    »Ja, okay. Ihr könnt abtreten«, meinte er gönnerhaft zu den beiden Frauen.

    Alabima lächelte nur milde, denn Jules hatte ihr schon vor Jahren die Geschichte eines seiner flüchtigen Bekannten erzählt. Der hatte sich nämlich vor ihm damit gebrüstet, dass seine Frau und seine beiden Söhne jeweils den Baum schmücken durften, während er selbst erst am Ende noch korrigierend eingriff, um ihm quasi den letzten Schliff zu verpassen. Auf die Rückfrage von Jules, ob das seinen Kindern und der Ehefrau nicht grässlich auf die Nerven ginge, meinte sein Bekannter voller Überzeugung: »Nein, meine Frau und meine Söhne freuen sich über die Korrekturen und versichern mir stets, wie schön der Baum doch erst dank meiner Hilfe ausschaut.«

    Sein Bekannte merkte nicht einmal, wie er mit seinem rücksichtslosen Verhalten den größten Teil des Weihnachtszaubers regelmäßig zerstörte. Aber vielleicht war ihm das nach dem Einreichen der Scheidungspapiere endlich klar geworden, wahrscheinlich aber nicht einmal dann.

    Alina jedoch hatte ihrem Vater stirnrunzelnd zugeschaut. Und ihre Augen hatten gefährlich zornig aufgeleuchtet, als der seine Hand nach einer der Kugeln ausstreckte. Mit geradem Rücken hatte die Kleine verharrt, behielt ihre Arme hinter ihrem Rücken verschränkt und stand trotzdem bereit, sogleich dazwischen zu springen, falls sich ihr Vater erdreisten sollte, an ihrem Werk mit der Mutter etwas zu verändern. Nur langsam entspannte sich die Tochter nach den Worten ihres Vaters wieder, schnaufte noch einmal durch ihre Nase, wie ein gereizter Stier durch seine Nüstern. Doch dann drehte sich Jules rasch zu ihr hin, hob sie hoch und wirbelte sie herum.

    »Reingefallen, Prinzessin. Ihr habt großartige Arbeit geleistet. Und ich werde mich hüten, auch nur eine Kerze oder eine Kugel anzurühren. Der Baum ist einfach perfekt.«

    Nach dem Abendessen zündeten sie die Kerzen an, löschten alles übrige Licht, sangen gemeinsam zwei Lieder, danach sprach Alina ein kurzes Gedicht, das sie im Kindergarten gelernt hatte. Und während ihre Tochter die Geschenke öffnete, sich freute und sich immer wieder bei ihren Eltern bedankte, saßen Jules und Alabima eng beieinander auf dem Sofa, spürten die Wärme ihrer Körper, hielten sich an den Händen gefasst.

    *

    Sie waren in die St. Pauls Kathedrale gegangen, nicht zur Mitternachtsmesse, sondern bereits um fünf Uhr am Nachmittag. Sheliza trug ihren Abaya, hatte auf den Niqab jedoch für dieses Mal verzichtet, trug nur eine Hidschab. Einige Kirchengänger betrachteten die Muslimin trotzdem stirnrunzelnd, die meisten lächelten sie jedoch freundlich an, dachten sich wohl, sie schnuppere an der älteren Weltreligion, könnte sich für sie möglicherweise erwärmen. Henry, Holly und Sheliza blieben im hintersten Teil der Kirche, gleich neben dem Eingang, stehen, nahmen auch nicht aktiv an der Messe teil, hörten sich die Orgelklänge und den Chorgesang an, folgten der Zeremonie mit den Augen, achteten kaum auf die Predigt. Hinterher, auf dem Nachhauseweg, den sie gemütlich zu Fuß zurücklegten, auf dem sie auch ein paar der noch offenen Geschäfte besuchten und zu einer Tasse Tee bei Fortnum & Mason einkehrten, da sagte Sheliza plötzlich, sie standen zu dritt am Zebrastreifen vor dem Ritz und warteten auf das Umschalten der Fußgängerampel: »Danke«.

    »Wofür bedankst du dich?«, fragte Holly ruhig zurück.

    »Dafür, dass ich bei euch sein darf, hier in London, in Sicherheit.«

    Holly legte ihren Arm um die Schulter des Mädchens, drückte sie sanft.

    »Du bist eine große Bereicherung für unser Leben, Sheliza. Ich möchte dich unter keinen Umständen mehr missen.«

    Die Vierzehnjährige sah die Mitte-Vierzig-Jährige skeptisch an.

    »Bei all den Schwierigkeiten, die ich euch mache?«

    »Was

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1