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Im Fegefeuer: 10. Abenteuer der Familie Lederer
Im Fegefeuer: 10. Abenteuer der Familie Lederer
Im Fegefeuer: 10. Abenteuer der Familie Lederer
eBook331 Seiten4 Stunden

Im Fegefeuer: 10. Abenteuer der Familie Lederer

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Über dieses E-Book

Drei voneinander unabhängige Handlungsstränge erzählen Geschichten in Grossbritanien, in Brasilien und in Kenia. Wir begleiten Sophie Shi und Fu Lingpo ein Stück weit. Die beiden bauen sich im Nordosten des Landes ein neues Leben auf. Doch die al-Shabaab Milizen und alte Bekannte aus Hongkong hängen wie Damoklesschwerter über ihrem zukünftigen Glück. In Brasilien erfahren wir endlich, warum und wohin Shamee Ling zweimal spurlos verschwand. Und wir begleiten die chinesstämmige Brasilianerin ein Stück auf ihren steinigen Wegen. In London ist Sheliza bin-Elik mit ihrer neugeborenen Tochter nur scheinbar sicher und dem Terror-Regime der ISIS entkommen. Denn Verblendete gibt es überall. Wer schützt die junge Mutter und ihr Kind vor den radikalen Islamisten in Grossbritannien?
Die drei Erzählungen werden vom Besuch einer katholischen Messen in Lausanne umrahmt. Jules begleitet Alabima und Alina an diesem Sonntagmorgen und macht sich seine ganz eigenen Gedanken zu dem, was er dort sieht und hört und fühlt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Okt. 2015
ISBN9783738043822
Im Fegefeuer: 10. Abenteuer der Familie Lederer

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    Buchvorschau

    Im Fegefeuer - Kendran Brooks

    Vorgeschichten

    »Du hast was?«

    Jules Lederer stand mit einem irritierten Gesicht unter der Tür zur Küche, hielt einen eingeschriebenen Brief des Tribunal d‘Arrondissement de Lausanne in seiner Hand und blickte auf Alabima, die am Tisch saß und Gemüse kleinschnitt.

    »Ich habe ein rassistisches Arschloch K.O. geschlagen«, antwortete seine Gattin geduldig und gelassen, als spräche sie zu einem Kleinkind, sah nicht zu ihm auf.

    »Und wann soll das gewesen sein?«

    Der Schweizer schien ratlos, während seine äthiopische Ehefrau unbekümmert mit den Vorbereitungen fürs Mittagessen weiterfuhr und mit Messer, Schnittbrett und Gemüse hantierte.

    »Das war bei der Einschulung von Alina. Sie hatte sich neben einen hübschen Blondschopf gesetzt. Als deren Vater das sah, verlangte er von seiner Tochter, sich woanders hinzusetzen.«

    »Und deswegen hast du den Mann verprügelt? Womit denn?«

    Jules Lederer, um die fünfzig Jahre alt, war ein Selfmade-Millionär. Sein Vermögen hatte er sich mit der Erledigung von delikaten, aber auch gefährlichen Aufträgen für eine wohlhabende Klientel verdient. Seine Ehefrau Alabima lernte er vor acht Jahren kennen, als er sich geschäftlich in Äthiopien aufhielt. Die beiden heirateten und adoptierten wenig später Chufu, einen damals 15-jährigen philippinischen Waisenjungen, der mittlerweile in Brasilien Psychologie studierte und kurz vor dem Abschluss stand. Zudem bekamen Jules und Alabima Lederer nach einem Jahr Ehe eine Tochter, die sie auf den Namen Alina taufen ließen.

    Der Schweizer hatte schon als Jugendlicher asiatischen Kampfsport betrieben und war auch mit fünfzig noch recht fit. Dass allerdings auch seine Ehefrau kräftig zuschlagen konnte, davon hatte er bislang nichts gewusst.

    »Ich hab ihm zuerst in seine Eier getreten und ihn anschließend mit einem Palkup Chigi mattgesetzt«, verkündete die aparte 40-jährige immer noch äußerlich gelassen, wenn auch diesmal mit leichtem Triumph in ihrer Stimme.

    »Palkup Chigi? Mit dem Ellbogen?«, fragte Jules verdutzt nach. Er hatte seine Ehefrau noch nie über Taekwondo-Begriffe reden hören, geschweige denn sie anwenden sehen, »aber…?«

    »Ich gehe seit fast einem Jahr regelmäßig ins Training«, gab sie endlich zu, ließ ihre Arbeit kurz ruhen und blickte ihren Ehemann schelmisch lächelnd an, »in ein Kampfsportzentrum in Lausanne.«

    Jules Lederer schüttelte verblüfft seinen Kopf und schaute seine Lebenspartnerin immer noch irritiert an, verlangte ganz offensichtlich nach weiteren Erklärungen.

    »Ich wollte dich irgendwann damit überraschen«, bot sie ihm einen Grund für ihre bisherige Geheimniskrämerei an, »leider hat mir nun die Anklage wegen Körperverletzung alles verdorben.«

    »Und wer ist dein Trainer?«

    »Mein Sahbum-Nim ist Song Dae-Sun. Er war Mitglied der Olympiamannschaft Südkoreas 1992 in Barcelona«, ihr Ehemann schien immer noch verwirrt, weshalb sie rasch anfügte, »weißt du, ich hatte einfach das Bedürfnis, mich sportlich etwas mehr zu fordern.«

    »Und dann nimmst du Taekwondo-Unterricht? Statt Gymnastik oder Yoga?«

    Sie nickte, diesmal ohne aufzublicken, und schnitt weiter das Gemüse klein.

    »Und wie gut bist du?«

    »Für den verdammten Rassisten hat’s auf jeden Fall locker gereicht.«

    Jules las noch einmal das Schreiben des Gerichtshofs durch.

    »Wirst du von Pierre verteidigt?«

    »Oui, mais sûre mon chéri. Pierre und einer seiner Kollegen, der sich auf Körperverletzung spezialisiert hat.«

    »Wie groß war denn der Kerl?«

    »Eins-neunzig, schätze ich«, mutmaßte sie, »und bestimmt über hundert Kilogramm schwer.«

    »Und du hast ihn tatsächlich K.O. geschlagen?«

    Sie antwortete mit einem stummen Nicken.

    »Wann wolltest du mir eigentlich davon erzählen?«

    Die Stimme des Schweizers klang nicht länger verblüfft und schon gar nicht ärgerlich, sondern amüsiert und Alabima hob als Antwort nur kurz ihre Schultern, ließ sie wieder sinken.

    »Ich dachte mir, der Kerl ziehe seine Anklage zurück, noch bevor es zum Prozess kommt. Ich hab ihm dafür zehntausend Franken angeboten. Leider lehnte er ab.«

    »Und deine frühere Bewährungsstrafe?«

    Die Äthiopierin hatte vor einigen Jahren versucht, ein experimentelles, nicht zugelassenes Medikament gegen Krebs in die Schweiz zu importieren, um den todkranken Jules damit behandeln zu lassen, war aber erwischt und zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt worden.

    »Pierre meint, selbst bei einer Verurteilung wegen Körperverletzung wird der Richter sie kaum vollziehen lassen.«

    »Kaum?«

    »Kaum.«

    »Wir könnten eigentlich mal gemeinsam trainieren?«, lockte Jules nun seine Ehefrau, war weiterhin gutgelaunt, wirkte richtiggehend aufgeräumt.

    »Ohne mich«, quittierte Alabima jedoch umgehend seinen Wunsch, »mit dir lass ich mich vorerst noch nicht ein, mon petit chou.«

    Die Lederers hatten viele gute, aber auch einige äußerst schlechte Tage in ihrer mittlerweile acht Jahre andauernden Beziehung erlebt. Denn die Aufträge von Jules hatten seine Familie einige Male in höchste Gefahr gebracht. Einmal sah sich Alabima sogar aus lauter Angst gezwungen, sich von Jules zu trennen. Sie reiste mit der noch nicht jährigen Alina zurück nach Äthiopien und lebte einige Wochen lang bei ihren Eltern in Addis Abeba. Doch die Eheleute fanden schließlich wieder zusammen, liebten einander immer noch, wussten und spürten ganz einfach, dass sie keinen besseren Lebenspartner für sich finden konnten, egal, wie oft ihre Beziehung durch Drohungen und Gewalttaten auch belastet wurde.

    Alabima verzieh Jules sogar sein über einige Monate anhaltendes Fremdgehen in einem Sado-Maso-Club in Vevey, während er einsehen musste, dass auch die kurze Leidenschaft seiner Ehefrau zu einem Studenten in Lausanne unbedeutend für ihre Beziehung war. Zwar hatte sich der Schweizer beim Gedanken an die Untreue seiner Partnerin monatelang herumgequält, dachte selbstverständlich auch an Trennung oder gar Scheidung, auch an irgendeine Form von Revanche oder Rache. Doch dann war ihm endlich bewusst geworden, dass Alabimas Persönlichkeit perfekt mit seiner eigenen harmonierte und sie vervollständigte, was sie beide zu eigentlichen Seelenverwandten machte.

    Jules war ganz Können und Wissen, maß weder dem Stolz noch der Ehre echte Bedeutung zu, besaß nach eigener Einschätzung auch nur wenig innere Würde, konnte durchaus fies oder gar niederträchtig handeln. Der Schweizer empfand sich selbst als eine Art von Nerd, allerdings als einen höchst gewaltbereiten. Seine Ehefrau hingegen besaß eine große, angeborene Würde und ihr Stolz war völlig natürlich, entsprach dem Wesen des äthiopischen Volkes der Oromo, das sich als einziges von ganz Afrika über all die Jahrhunderte hinweg nie einer fremden Macht beugen musste. Selbst der Versuch der Unterwerfung durch die europäischen Kolonialmächte England, Frankreich und Italien scheiterten am unbeugsamen Freiheitswillen der Oromo. Auch die Ehre der Familie ging Alabima über alles. Sie war unverzichtbarer Bestandteil eines erfüllten und glücklichen Lebens.

    Die Stärke ihrer Partnerschaft beruhte auf der Verschiedenheit ihrer beiden Persönlichkeiten, deren Eigenschaften sich ideal ergänzten. Deshalb hatte ihre Lebensgemeinschaft bislang alle Tiefen, den Schmerz und das Leid überwinden können.

    Jede gute Partnerschaft beruhte auf einer Gleichberechtigung. Diese erreichte man jedoch nur durch gegenseitige Wertschätzung. Waren sich die beiden Menschen in ihrem Wesen jedoch sehr ähnlich, standen sie in ständiger Konkurrenz zueinander. Aus einem Wettbewerb heraus ergab sich jedoch nie ein Gleichgewicht, kam es immer zu einem Sieger und einem Verlierer, was unweigerlich zu Spannungen in der Beziehung führte. So jedenfalls empfand Jules seit einiger Zeit, nachdem ihm diese Zusammenhänge richtig bewusstwurden. Computer-Dating-Plattformen mochten stets das Gleichartige und Verbindende zweier Menschen suchen. Doch der wahre Kitt in der Beziehung zweier Individuen bestand in den Unterschieden ihrer Persönlichkeit, handelte es sich um Liebe oder um Freundschaft. Gleichartige Vorlieben vermochten das Interesse am anderen zwar zu wecken und auch zwei Menschen kurzzeitig aneinanderbinden. Doch nur unterschiedliche, sich gleichzeitig ergänzende Wesenszüge führten zu langfristig stabilen und damit erfolgreichen Partnerschaften. Hatte man aber sein perfektes Gegenstück im Leben mit sehr viel Glück gefunden, so hielt man es selbst über turbulenteste Zeiten hinweg fest.

    »Ich könnte bestimmt dafür sorgen, dass der Kerl seine Strafanzeige noch vor der Verhandlung zurückzieht«, bot der Schweizer seine Unterstützung an, ohne Näheres zu verraten. Aber Alabima wusste auch so, was Jules damit meinte.

    »Lieber nicht. Denn ich habe in der Zwischenzeit erkennen müssen, dass uns die Staatsanwaltschaft überwachen lässt.«

    »Immer noch?«

    Der Schweizer schien weder überrascht, noch beunruhigt.

    »Ja. Denn im Gegensatz zu dir wusste die Polizei von meinem Taekwondo-Training.«

    Die Lederers waren den Behörden in der Vergangenheit schon mehr als einmal aufgefallen. Vor Jahresfrist sah sich Alabima sogar mit einer Anklage wegen Anstiftung zum Mord an ihrem früheren Liebhaber konfrontiert, saß mehrere Wochen in Untersuchungshaft, bis sich das Verfahren als Justizirrtum herausstellte. Deshalb wunderte sich Jules auch nicht über die weitergehende Beschattung durch den Staatsapparat, sondern nickte gleichgültig.

    »Trotzdem könnte ein wenig Druck auf den Kerl nicht schaden?«

    Alabima schüttelte nun jedoch sehr heftig und klar ablehnend den Kopf, blickte ihren Gatten zwingend an und sagte knapp, aber befehlend: »Nein, Jules!«

    Er nickte zustimmend und gab nach. In einer knappen Viertelstunde musste er Alina von der Schule abholen, während Alabima das Mittagessen fertigkochen wollte. Es war ein fast normaler Dienstagvormittag bei den Lederers.

    *

    »Und wie wollt ihr mich bestrafen?«

    Sheliza bin-Elik blickte ernst, aber auch auffordernd Henry Huxley und seine Lebenspartnerin Holly Peterson an. Die 15-jährige, syrische Alawitin hatte ihre Eltern verloren, floh vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat in die Türkei. Im Flüchtlingslager lernte sie den zwei Jahre älteren Sherif Nimraui kennen. Die beiden verliebten sich ineinander und Sheliza erwartete wenig später ein Kind. Doch der junge Vater verstieß die angehende Mutter, wollte von ihr und ihrem gemeinsamen Kind nichts wissen. Henry Huxley nahm die verzweifelte 15-jährige Waise mit nach London, betreute die werdende Mutter seitdem zusammen mit seiner Lebenspartnerin Holly Peterson. Die beiden Briten dachten sogar schon an Adoption.

    Doch die gläubige Muslimin hatte sich sehr schwer getan im freiheitlichen und freizügigen Westen mit seiner allgegenwärtigen Sittenlosigkeit. Mit dem Fortschreiten ihrer Schwangerschaft fühlte sie sich immer unwohler, dachte auch oft an ihre Familienangehörigen, die womöglich doch noch irgendwo und irgendwie in Syrien überlebt hatten. Noch vor der Geburt ihrer Fadoua verließ Sheliza heimlich London, reiste mit Unterstützung eines salafistischen Imams zurück in ihr Heimatland, gab sich dort als Sunnitin aus, die zu ihrem kämpfenden Ehemann unterwegs war. Doch die Suche nach Überlebenden ihrer Familie blieb erfolglos und als ihr Schwindel schließlich aufflog, geriet sie in die Fänge der ISIS-Terroristen. Henry Huxley musste zusammen mit seinem guten Freund Jules Lederer viele Hebel in Bewegung setzen, um die junge Mutter und ihr Neugeborenes in Syrien aufzuspüren und heraus zu holen. Bei der Rettung von Mutter und Tochter erhielt der Brite eine Schussverletzung am Unterschenkel, zwar nicht wirklich schlimm und doch äußerst schmerzhaft und hinderlich. Darum humpelte der Brite derzeit noch mit Krücken oder zumindest einem Stock herum.

    Erst am Tag zuvor waren Henry Huxley mit Sheliza bin-Elik und ihrer wenige Wochen alten Tochter Fadoua von Bagdad aus nach London zurückgekehrt, waren von Holly Peterson in Heathrow abgeholt worden. Die drei hatten bislang noch nicht über die vergangenen Monate gesprochen, über das heimliche Verschwinden der werdenden Mutter aus London, über den Vertrauensbruch von Sheliza gegenüber ihren Pflegeeltern, auch nicht über die großen Gefahren, denen sich der Teenager mit seiner Tochter ausgesetzt hatte und in die sich Henry Huxley und Jules Lederer begeben mussten, um die beiden aus dem Bürgerkriegsland zu retten. Nein, diese Aussprache fand noch nicht statt, weil Holly und Henry am Vortag darauf bestanden hatten, als erstes bei Harrods die Ausstattung für das Kinderzimmer von Fadoua auszusuchen und gleich in ihr Appartement liefern zu lassen und anschließend bei Harvey Nichols alles Notwendige an Wäsche und Kleidung für die Kleine zu besorgen. Der gestrige Nachmittag und der Abend waren darum mit Besorgungen und dem Einrichten des Zimmers ausgefüllt gewesen und Mutter und Tochter gingen wenig später todmüde zu Bett.

    Doch an diesem frühen, nächsten Morgen war Sheliza bin-Elik in die Wohnküche des großen Appartements getreten und verlangte von ihren Pflegeeltern ein Urteil.

    »Wie kommst du darauf, dass wir dich bestrafen wollen?«

    Henry Huxley und Holly Peterson schienen nicht wirklich überrascht oder irritiert, hatten etwas Ähnliches erwartet. Trotzdem fragte Holly nach.

    »Na, ich war sehr undankbar euch gegenüber, habe euch angelogen und mich heimlich aus dem Staub gemacht. Trotzdem suchtet ihr wochenlang nach mir. Henry und Jules mussten mich und Fadoua aus höchster Gefahr retten und Henry wurde dabei sogar verletzt. Nicht auszudenken, wenn ihm…«, sie stockte und sprach erst nach einer Weile weiter, »… ich mache mir riesige Vorwürfe.«

    Henry und auch Holly lächelten der jungen Mutter aufmunternd zu.

    »Das brauchst du nicht, Sheliza«, stellte der Brite entschieden klar, »es irrt der Mensch, solang er strebt«, zitierte er einen von ihm hoch geschätzten Deutschen Dichter, den er auch der jungen Muslimin schon ans Herz gelegt hatte, »du bist noch so jung und darum für dein Ungestüm nicht vollends verantwortlich.«

    »Ich fühle mich aber schuldig. Und ich erwarte eure Bestrafung.«

    Die beiden Engländer konnten in das Herz der Syrierin blicken, erkannten die muslimische Erziehung, wonach Vater und Mutter unter allen Umständen geehrt werden mussten. Und Henry und Holly waren in den vergangenen Monaten irgendwie zu ihren Ersatzeltern geworden. Darum nickten die beiden Briten nun, was aber nicht nach Einverständnis aussah. »Wir sind wirklich der Auffassung«, begann Holly, »dass eine Bestrafung falsch wäre. Denn du, Sheliza, warst noch ein unbedarftes Mädchen, als du uns wegliefst. Zurückgekehrt bist du jedoch als Frau und Mutter, die in Zukunft Verantwortung tragen wird, für sich selbst, aber auch für ihr Kind. Die frühere Sheliza hätten wir bestrafen können und auch bestrafen müssen. Doch dich? Eine junge Erwachsene? Nein, dich zu bestrafen wäre falsch und unnütz.«

    Sheliza blickte die immer noch so schöne, fünfundvierzig Jahre alte Britin offen, aber auch nachdenklich an, begann dann zu nicken.

    »Ich verstehe euch zwar, denn auch ich fühle, wie sehr ich mich in den letzten drei Monaten verändert habe, wie ich heute ganz anders denke als noch vor einem halben Jahr. Doch ich schäme mich so sehr, euer Vertrauen missbraucht zu haben…?«

    Ihre Stimme versagte ihr und sie senkte ihr Gesicht vor Scham, blickte hinunter auf ihre Tochter Fadoua, die sie sogleich anstrahlte und unvermittelt versuchte, mit der winzigen Hand die Nase ihrer Mutter zu erwischen. Doch die Kleine verschätzte sich gehörig in der Entfernung, wischte nur durch die Luft und schaute deshalb verwundert auf ihre immer noch leere Hand.

    »Das ist ein Teil des Erwachsenwerdens«, begann Henry und als Sheliza aufblickte, fügte er sanft hinzu, »ich meine, Fehler zu begehen. Wir alle lernen aus ihnen und das sollte auch dir genügen.«

    In der Wohnung stützte sich Henry nur auf einen Laufstock, wollte den durchschossenen Unterschenkel nicht länger mit Hilfe zweier Krücken schonen, glaubte mit Bewegung und Belastung eine raschere Heilung zu bewirken.

    »Aber irgendeine Strafe müsst ihr mir auferlegen«, verlangte die junge Syrierin.

    Wiederum sahen sich die beiden Briten einverständlich an, so als hätten sie die Forderung von Sheliza in dieser Art erwartet und alles Weitere längst miteinander besprochen und festgelegt.

    »Na gut«, entschied Holly, »zur Strafe wirst du den Antrag fürs Gericht unterzeichnen, mit dem du deine Eltern und Geschwister für tot erklärst. Anschließend lässt du dich von uns beiden adoptieren.«

    Sheliza bin-Elik war zwar noch sehr jung und wirkte öfters naiv wie ein Kind, schien diesmal jedoch hinter der Forderung der Britin sogleich auch die List zu erkennen.

    »Ihr wollt doch bloß, dass Fadoua und ich finanziell abgesichert sind. Ist es nicht so?«

    Sie sah Henry und Holly triumphierend an. Doch die beiden Briten zeigten nicht das von der Muslimin erwartete Lächeln, sondern blickten ihre Pflegetochter ernst und sogar voller Teilnahme an.

    »Das ist auch gar keine Strafe«, meinte die 15-jährige entschieden und auch ein wenig bekümmert, »denn in Al-Sukhna haben mir unsere früheren Nachbarn glaubhaft versichert, dass alle meine Angehörigen durch die Dschihadisten umgebracht wurden.«

    Henry schüttelte trotzdem langsam und verneinend den Kopf.

    »Du irrst dich, Sheliza. Es ist ein sehr großes Opfer, das wir von dir erwarten. Wenn du beim Notar vor dem Schriftstück sitzt und es dir noch einmal in Ruhe durchliest, wird dir die Konsequenz deiner Unterschrift bewusstwerden, nämlich dass du mit deinem Namen den Tod deiner Eltern und deiner Geschwister bezeugst. Spätestens dort wirst du spüren, wie hoch die Strafe ist, die wir dir heute auferlegen.«

    Die Syrierin blickte den Briten erst erstaunt und dann nachdenklich geworden an. Und sie forschte in sich nach der Antwort auf seine Behauptung. Plötzlich begann ihre Unterlippe zu zittern. Sie nahm sie zwischen ihre Schneidezähne, klemmte sie fest und schluckte dann trocken, nickte langsam und verstehend, während Holly und Henry mit ansehen mussten, wie die 15-jährige mit den Tränen kämpfte.

    *

    Die Strafanzeige gegen Alabima wurde bis zur Verhandlung nicht zurückgezogen. Auch auf den Vorschlag der Staatsanwaltschaft, ein abgekürztes Verfahren durchzuführen mit bedingter Busse und einer finanziellen Genugtuung für das Opfer, willigte der Kläger mit seinem Anwalt nicht ein. So fand sich Alabima Lederer als Angeklagte vor dem Einzelrichter wieder. Der nahm die Anträge der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung und des Anwalts des Privatklägers entgegen und verurteilte die Äthiopierin nach kurzer Befragung zum Hergang und den exakten Verletzungen des Opfers zu einer Busse über fünfzigtausend Schweizer Franken auf zwei Jahre bedingt. Zudem verlangte er eine Therapie der Angeklagten zur Verminderung ihrer Gewaltbereitschaft durch einen vom Gericht anerkannten Psychologen. Und er sprach dem Opfer ein Schmerzensgeld über fünftausend Franken zu. Alabima sollte neben den Gerichtskosten von dreizehntausend Franken auch noch das Anwaltshonorar des Privatklägers über sechstausend übernehmen.

    So geheuer schien dem Richter die Anklage gegen die Äthiopierin allerdings nicht zu sein. Denn wie sollte diese mittelgroße, schlanke, kaum sechzig Kilogramm leichte Frau einen Brocken von über hundert Kilogramm K.O. schlagen können? Aber die diversen schriftlich vorliegenden Aussagen von Augenzeugen ließen kaum Zweifel am Tathergang zu. Selbst die Verteidigung widersprach nicht und führte noch nicht einmal Gründe für eine Strafminderung an. Auch sprach die Angeklagte bloß von einer stark empfundenen Provokation durch den Mann, die bei ihr einen bedauernswerten Kurzschluss ausgelöst hatte, den sie heute sehr bedauerte.

    Der rassistische Vater war mit der Höhe des Schmerzensgelds bestimmt nicht einverstanden, sah immer wieder begehrlich zur aparten, dunkelhäutigen Frau und ihrem wohlhabenden Ehemann hinüber, die ihn jedoch beide nicht beachteten. Er würde das Urteil mit seinem Anwalt besprechen müssen, ob vielleicht vor der nächsthöheren Gerichtsinstanz ein paar Scheine mehr als Schmerzensgeld für ihn drin lagen.

    Auf dem kurzen Heimweg nach La Tour-de-Peilz sprachen die beiden Eheleute kein Wort miteinander. Doch als sie die Haustüre hinter sich geschlossen hatten, umarmten sie einander und küssten sich stürmisch. Jules nahm Alabima auf seine Arme und trug sie hinauf ins Obergeschoss und direkt in ihr Schlafzimmer, ließ sie fröhlich ausgelassen und mit viel Schwung aufs Bett plumpsen und legte sich neben sie. Sie küssten und streichelten einander, fühlten rasch die beginnende Erregung.

    »Meine Schwerverbrecherin«, lockte der Schweizer und strahlte über sein ganzes Gesicht, »was stell ich bloß mit einem solch bösen Mädchen an?«

    *

    Shamee Ling war monatelang verschwunden. Zuerst vermuteten ihre Angehörigen eine Entführung der 17-jährigen, wie sie in Rio de Janeiro bei wohlhabenden Familien immer wieder vorkamen. Doch Lösegeldforderungen blieben aus und alle Suche nach dem Verbleib der jungen Frau verlief im Sand. Doch dann war sie von heute auf morgen erneut aufgetaucht und in die elterliche Villa zurückgekehrt, hatte keinerlei Erklärung über ihren Aufenthaltsort und den Grund ihrer Abwesenheit abgegeben, sich weder ihren Eltern noch ihren Geschwistern anvertraut. Wenige Tage später jedoch stritt sich Shamee heftig mit ihrer Mutter Sihena und verließ daraufhin erzürnt das Elternhaus, tauchte erneut ab. Wohin sie diesmal ging, auch das wusste niemand, auch nicht ihre ältere Schwester Mei Ling, deren Freund und Lebenspartner Chufu Lederer war, der philippinische Adoptivsohn von Jules und Alabima.

    Die Aufregung in der Familie Ling hielt sich beim zweiten Verschwinden der jüngsten Tochter verständlicherweise in Grenzen. Shamee war schon immer ein eigenwilliges und schwieriges Kind gewesen. Als Teenager kam ein unheilvoller Stolz hinzu, der die junge Frau unnahbar und überheblich gegenüber fast allen Menschen machte. Schon mit vierzehn ließ sie sich von niemandem mehr etwas sagen und mit siebzehn bestimmte sie weitgehend selbst über ihr Leben, das aus etwas Schule und viel Müßiggang bestand. Ihre chinesisch-stämmigen Eltern hatten zwar versucht, alle ihre Kinder traditionell und innerhalb all der Zwänge und Regeln einer asiatischen Familie zu erziehen. Doch was bei den älteren Geschwistern von Shamee durchaus gefruchtet hatte, blieb bei der jüngsten ohne Erfolg. Das Nesthäkchen der Familie war wohl zu lange von allen vergöttert und verwöhnt worden.

    Großvater Ling war vor einigen Jahrzehnten als junger Mann nach Brasilien ausgewandert, hatte nach harten Arbeitsjahren einen Imbiss eröffnet und ihn zu einem bescheidenen Speiselokal ausgebaut. Sein Sohn Zenweih, der Vater von Shamee und Mei, hatte aus diesen Anfängen gemeinsam mit seiner Ehefrau Sihena eine Kette mit über zwanzig gut gehenden China-Restaurants aufgebaut. Die Lings galten in Rio de Janeiro als reich und waren tatsächlich sehr wohlhabend geworden. Und selbst wenn sich Zenweih und Sihena über all die Jahre hinweg als Ehepaar auseinandergelebt hatten, so funktionierte ihr gemeinsam geführtes Unternehmen weiterhin ausgezeichnet.

    Chufu Lederer studierte zusammen mit Mei Ling im dritten Jahr an der Universidade Federal do Rio de Janeiro Psychologie. Seit gut zwei Jahren lebten die beiden in einem gemeinsamen Apartment nahe der Universität und bereiteten sich derzeit auf den Abschluss ihres Studiums vor. Pläne für die Zeit danach hatten die zwei allerdings noch keine gefasst. Eine akademische Laufbahn an der Universität als Doktoranden erschien ihnen alles andere als prickelnd. Für eine eigene Praxis waren sie jedoch eindeutig zu jung und zu unerfahren. Und vor einem Leben als Angestellte einer größeren Nervenklinik grauste es beiden.

    Nach dem ersten Verschwinden von Shamee vor gut einem halben Jahr hatten Chufu und Mei alles unternommen, um die jüngste Ling Tochter aufzuspüren, ließen sogar die anderen Familienmitglieder und deren Hausangestellten von Privatdetektiven über viele Wochen hinweg überwachen, um mögliche Verstrickungen zum organisierten Verbrechen in Brasilien aufzudecken. So fanden sie unter anderem eine Verbindung der Ling Eltern zu einem Menschenhändlerring heraus, aber auch, wie schlecht es mittlerweile um die Ehe von Zenweih und Sihena stand. Alle Nachforschungen bezüglich Shamee brachten jedoch nichts ein und sie rechneten bis zum überraschenden Auftauchen der jüngeren Schwester von Mei mit dem Schlimmsten. Als Shamee dann unversehrt zurückkehrte, keine Fragen beantwortete und Eltern wie Geschwister ohne jede Erklärung zu ihrem Verschwinden und dem Ort ihres Aufenthalts ließ, da spürte die ältere Mei trotzdem, dass der jüngeren Schwester etwas äußerst Bewegendes oder gar Schreckliches zugestoßen sein musste. Denn Shamee zog sich vor ihnen allen zurück, wirkte noch abweisender als früher, oft sogar geistig abwesend, auch sehr verunsichert und irgendwie seelisch verletzt. Zuerst vermuteten Chufu und Mei eine Drogensucht. Doch bevor sie weitere Nachforschungen in diese Richtung hatten anstellen können, war Shamee nach dem Streit mit ihrer Mutter erneut abgetaucht. Den Grund für die heftige Auseinandersetzung hatte ihnen Sihena allerdings nicht verraten, weigerte sich darüber zu sprechen. Und so lagen erneut bloß Vermutungen zu den Hintergründen vor, ließen eine höchst unruhige und schlechte Stimmung zwischen der Mutter auf der einen Seite und dem Vater mit den anderen Kindern auf der anderen zurück.

    Einzug

    Alabima und Alina waren an diesem Sonntagmorgen nach Lausanne gefahren, wollten der katholischen Messe in der L’église Notre-Dame du Valentin beiwohnen. Jules begleitete die beiden, wenn auch ohne jede Begeisterung und aus reinem Pflichtgefühl heraus. Alabima war zwar äthiopisch-orthodoxe Christin. Sie erzog Alina jedoch katholisch, obwohl die Afrikanerin die strickte Ausrichtung der Papsttreuen auf die Erbsünde ablehnte. Doch dafür mochte sie umso mehr deren starke Gewichtung der Bergpredigt von Jesus Christus als die grundsätzliche Auslegung der gesamten Bibel, also auch des Alten Testaments.

    Die Kirche Notre-Dame du Valentin war erst 1832 erbaut worden und durfte viele Jahrzehnte lang keine Glocken in ihrem Turm läuten lassen. Denn nach der Eroberung der Waadt durch die reformierten Berner im Jahre 1536 wurde der katholische Glaube über Jahrhunderte hinweg zuerst verboten und später diskriminiert. So waren den Katholiken lange Zeit Gotteshäuser gänzlich verboten und die stolze Kathedrale, fertig gestellt und geweiht 1275 in

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