Was wird morgen sein?: Kurze Geschichten mitten aus dem Leben
Von Herr Thönder
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Über dieses E-Book
Herr Thönder hat solche schicksalhaften Momente gesammelt. Sein Wissen über andere Menschen hat er mit seiner Vorstellungskraft über ihre Gedankenwelt verbunden und so Geschichten erschaffen, die ebensolche schicksalhaften Momente im Leben darstellen.
Krankheit, Sterben, Tod und Traurigkeit, Mobbing und Umweltzerstörung spielen thematisch ebenso eine Rolle wie Freude und Hoffnung. Denn über allem steht unser Grundbedürfnis nach dem einen, höchsten Gefühl: Liebe!
Die Geschichten sind manchmal nicht leicht zu ertragen, regen aber immer zum Nachdenken an.
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Buchvorschau
Was wird morgen sein? - Herr Thönder
Vorwort
In meinem Sessel habe ich einen super Ausblick. Ein bisschen See, einige Bäume und Rasen. Hier tollen Eichhörnchen und Vögel durch die Gegend. Das ist immer entspannend und lustig.
Doch auch Straße, Parkplätze, Garagenhöfe und ein Hochhaus gehören zu meinem Ausblick. Was daran super sein soll?
Die Menschen.
Da, zum Beispiel, kommt Johnny. Wahrscheinlich möchte er mit dem Auto wegfahren. Doch Moment… ja, er muss nochmal ins Haus zurück und dreht um… oder doch nicht? Nein, er dreht erneut um und geht weiter zum Auto… aber jetzt? Ja, jetzt rennt er ins Haus zurück. Kurz darauf kommt er eiliger als zuvor zurück und hetzt zum Auto… nicht, ohne seine Taschen abzuklopfen und sich mehrfach umzudrehen… er fährt los… und bleibt noch einmal stehen, um zu Haus zu blicken… er überlegt… und fährt los.
Ich kenne Johnnys richtigen Namen nicht. Ich habe ihn Johnny getauft, Johnny Kontrolletti. Ich finde es interessant, ihn und die anderen aus dem Hochhaus zu beobachten, mir Geschichten auszudenken, ohne die Menschen wirklich zu kennen. Ich gebe ihnen Namen, um die Geschichten für mich schön zu machen. Diese Namen sind nicht politische korrekt, erfüllen aber den Zweck der Wiedererkennung. So kann ich mir die Geschichten besser merken.
Wohin Ernie und Bert wohl immer mit ihren Camouflage-Anzügen gehen?
Haben Barbie und Ken wirklich geerbt und können sich deshalb die Penthouse-Wohnung und drei Autos leisten?
Was Bob der Baumeister wohl wirklich arbeitet?
Ob der Auto-Freak wohl geschieden oder verwitwet ist?
Welche Grunderkrankung hat unser Läufer?
Was studiert Bubba wohl?
Welche Angst treibt diese beiden dazu, ständig ihr Auto zu reinigen? Und warum fallen mir zu ihnen keine Namen ein?
Solche Fragen stelle ich mir sehr oft. Nicht nur über die Menschen im Hochhaus, sondern über fast alle Menschen, mit denen ich zu tun habe. Und über Tiere. Über nahezu alle Lebewesen.
Mein Kopf ist voll davon.
Ich will diese Gedanken festhalten und loswerden. Ich werde Geschichten schreiben. Ich werde Namen nehmen, ihnen eine Geschichte geben und diese aufschreiben. Die Geschichten werden an Menschen, Ereignisse oder einfach Gedanken angelehnt sein, die ich kenne. Viel wird dazu erfunden. Manche Menschen werden sich in diesen Geschichten wiedererkennen.
Ich hoffe, es sind nicht nur die, die in meinem Kopf sind, während ich schreibe…
Das ist der Plan. Und ich werde ihn durchziehen. Ich werde anfangen, zu schreiben.
Morgen…
Grrk
Warten. Das ist der schwerste Teil. Immer wieder warten.
Ich bin mir sicher, dass mein Opfer bald auftauchen wird. Dann heißt es, schnell und gnadenlos zuschlagen. Viele Gelegenheiten gibt es nicht mehr.
Das Kunststück ist, die Zeit zu überbrücken. Stillhalten und warten.
Ich halte gut still. Mittlerweile bin ich ein Meister darin. Ein Meister im Überleben. Ein Meister im Töten.
Um Stillzuhalten, habe ich mir angewöhnt, die Gedanken schweifen zu lassen. Ich erinnere mich an mein Leben. Ein besonderer Moment, ein Moment, an den ich mich oft zurückerinnere, ist, wie ich zum ersten Mal getötet habe. Ich erinnere mich, wie ich mein Opfer packte, es zu mir zog und zubiss, bis es tot vor mir lag.
Das habe ich von Mutter gelernt.
Die Gedanken an meine Mutter sind die schwersten. Sie, die ich so sehr geliebt habe. Sie hat mir alles beigebracht, mich ernährt und beschützt. Mich und meine Schwester.
Wir waren zwei Kinder, damals, als noch alles in Ordnung war.
Mutter ging voraus, als wir zum ersten Mal das Licht der Welt erblickten. Nach einer langen Zeit in der Dunkelheit einer kalten Höhle waren wir Kinder von der Helligkeit nahezu erschlagen. Ich konnte zunächst nichts tun als stehen und staunen. Dieser Moment war überwältigend, magisch, unbeschreiblich. Ich sog alles in mich auf. Die Helligkeit. Die Umgebung war strahlend schön. Die Ruhe war nicht mehr so dumpf wie zuvor. Alles war schöner als ich es mir nach den Erzählungen von Mutter vorgestellt hatte. Zum Erstarren schön. Deshalb erstarrte ich.
Bis meine Schwester mich umschubste und zum Spielen aufforderte: „Los, Grrk, wer stärker ist". Schon bald tollten wir zwei immer mutiger umher. Alles, was wir sahen, gehörte jetzt uns. Wir blieben in Mutters Nähe, so wie sie es uns befahl. Wenn wir still sein sollten, blieben wir still. Der Respekt vor unserer Mutter war groß.
Sie war groß.
Manchmal entfernte sie sich ein wenig, erlaubte uns Kindern aber, ruhig weiterzuspielen. Nur nicht zu weit weggehen. Rufen, wenn jemand kam.
Jemand.
Was sollte das denn heißen? Ich verstand nicht, was sie damit meinte. Was sollte jemand sein? Es gab nichts außer uns dreien. Das Licht konnte Mutter nicht meinen, das war meistens da. Ich war total verwirrt, traute mich aber nicht, nachzufragen. So schwieg ich und wartete.
Auch damals konnte ich das schon. Ich bin der geborene Jäger.
Eines Tages rief meine Schwester ganz aufgeregt: „Ich glaube, das ist jemand!"
Sie blickte in eine Richtung. Ich tat es ihr nach und konnte in weiter Ferne jemand erkennen. Zwischen all dem Weiß bewegte sich etwas, oder besser jemand. Da war jemand. Jemand, der war wie wir. Jemand, der aussah, wie wir, und sich bewegte, wie wir. Jemand wurde immer größer. Ich wurde unruhig. Meine Schwester auch.
Deshalb riefen wir: „Mama, da ist jemand!"
Mutter war schnell da und befahl uns, still zu sein, uns möglichst nicht zu bewegen. Langsam ging sie ein paar Schritte auf jemand zu, machte sich groß und schnüffelte. Nach kurzer Zeit entspannte sie sich, drehte sich um und sagte: „Kommt, lasst uns Hörrr begrüßen."
Wir waren verwirrt. Was sollten wir tun? Und was war Hörrr?
Also taten wir, was wir immer taten: Wir folgten unserer Mutter. Immer wieder lugten wir an ihr vorbei und erhaschten einen Blick auf jemand, oder besser: Hörrr. Hörrr sah aus wie Mutter. Hörrr bewegte sich wie Mutter. Wir entspannten uns, denn so jemand konnte nicht böse sein.
Und als wir ganz nah waren, sahen wir, dass auch Hörrr ein Kind dabeihatte. Während sich meine Schwester sofort ins Spiel mit dem Kind warf, hatte ich ein komisches Gefühl dabei. Ich mochte das Kind nicht.
Später erklärte mir Mutter, dass das ganz normal und völlig ok war. Ich beruhigte mich, denn ich hatte ein schlechtes Gewissen. Immerhin schienen Mutter und Schwester die beiden zu mögen.
„Das war ein Junge – kein Wunder, dass Du ihn nicht mochtest, erklärte Mutter. „Es kann sein, dass ihr später so richtig Stress miteinander bekommt…
Auch wenn ich nicht verstand, was sie mir erklärte, spürte ich doch instinktiv, dass sie recht hatte.
Als ich den Jungen eine Weile später wiedersah, endete es tatsächlich in einer wüsten Schlägerei. Durch die Spaßkämpfe mit meiner Schwester hatte ich damals noch Trainingsvorteile, sodass ich ihn besiegen und verjagen konnte.
Im Laufe meines Lebens kam es immer wieder zu Konfrontationen. Jede hatte einen anderen Ausgang, doch letztlich habe ich überlebt.
Mutter nicht.
Sie hatte uns das Töten beigebracht. Wir waren mittlerweile recht gut darin, uns selbst zu versorgen. Trotzdem suchten meine Schwester und ich weiterhin die mütterliche Nähe. Nur zum Spielen entfernten wir uns manchmal, weil Mutter auch zwischenzeitlich ihre Ruhe wollte. Unsere Spiele endeten immer häufiger tödlich. Nur nicht für uns.
Eines Tages waren wir zu zweit etwas entfernt ins Spiel vertieft, als wir viele komische Geräusche hörten. Alles zusammen klang wie eines der Gewitter, die wir schon kennengelernt hatten. Der Himmel war aber klar und wolkenlos, trotzdem hielt das Geräusch eine Weile an. Nach dem lauten und plötzlichen Beginn ebbte es dann immer mehr ab. Meine Schwester und ich beruhigten uns, waren jedoch neugierig geworden.
„Lass uns Mama fragen, was das war", schlug ich vor und so rannten wir in die Richtung, wo wir unsere Mutter verlassen hatten.
Sie war nicht da.
Zumindest nicht ganz.
Alles, was wir sahen, als wir den letzten Hügel erklommen