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Red Scales: Die Drachen von Talanis
Red Scales: Die Drachen von Talanis
Red Scales: Die Drachen von Talanis
eBook453 Seiten3 Stunden

Red Scales: Die Drachen von Talanis

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Über dieses E-Book

Bis vor kurzem wusste Christie noch nichts von ihrer neuen Familie. Nun wird ihr diese zum Feind.Endlich hat Drachenwandlerin Christine ihren leiblichen Vater Han Wei gefunden! Doch dieser entpuppt sich ausgerechnet als Mitglied der kriminellen Triade, die ihren Ziehvater einst ins Gefängnis gebracht hat.Christies Ziehvater Long kennt die Gefahr und versucht mit aller Macht, Han Wei aus dem Leben seiner Familie fernzuhalten. Im gegenseitigen Wettstreit um einen freien Platz im Stadtrat wird Long eine scheinbar unlösbare Aufgabe gestellt. Ist diese nur mit unlauteren Mitteln zu lösen? Das Risiko einer erneuten Haftstrafe bringt den Zusammenhalt der Familie ins Wanken.Als wäre all das nicht genug, wird Christie von ihrem Halbbruder drangsaliert, der sie als plötzliche Konkurrentin um die Gunst seines Vaters ansieht. Dabei schreckt er auch nicht vor Gewalt zurück. Kann Christie ihre zweite Drachengestalt meistern und Li in seine Schranken verweisen?Das Finale der Drachen von Talanis-Reihe!Teil 1: Blue ScalesTeil 2: Green ScalesTeil 3: Red Scales
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Mai 2020
ISBN9783959914642
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    Buchvorschau

    Red Scales - Katharina V. Haderer

    Kapitel 1

    Grenzgänger

    Acht Wochen später

    Hey, Mädchen! Fürchtest du dich vorm bösen Wolf?«

    Die Augen verbunden, lausche ich dem Ausruf sowie dem Ticken von Fahrradspeichen, das sich in unterschiedlicher Entfernung bewegt.

    »Sollen wir wirklich …?«, fragt jemand verstört.

    »Ich passe auf.« Die vertraute Stimme meines Vaters kommt von schräg oben. Von dem Gerüst aus, das die Wände der Lagerhalle bedeckt, behält er das Geschehen im Auge.

    Ich sauge die Luft ein und stoße sie langsam wieder aus. Meine Sportschuhe streifen prüfend über den Boden, ertasten den harten Beton unter all dem Schmutz. Es riecht nach Winter. Irgendwo unter meinen Füßen ist Doktor Schnee gestorben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eines Tages hierher zurückkehren würde, in die Fabrikhallen der Pensings. Nun nutzen wir sie, um mich zu trainieren. Dafür, meine zweite Gestalt – die des Blauen Drachen – hervorzureizen.

    »Bist du bereit?«, fragt Papa.

    Ich hebe den Daumen.

    Rundherum erklingt das bekannte Geräusch, als eifrig in die Fahrradpedale getreten wird. Die Speichen ticken, die Reifen schmatzen über den Untergrund, Schleifen werden um mich gezogen. Jemand stößt ein Lachen aus. Meine Arme kribbeln. Die Härchen an meinen Fingern ziepen. Instinktiv möchte ich davonlaufen, doch ich zwinge mich zur Ruhe. Ich muss mich meiner Furcht stellen. Sie allein bringt mich an den Rand des Wahnsinns – an die Grenze zu meiner zweiten Gestalt.

    Plötzlich saust jemand heran.

    »Vorsicht!«

    Ich ducke mich. Trotzdem peitscht etwas gegen meine Wange und hinterlässt ein Brennen. Demütigung blockiert meinen Hals, aber auch Angst. Das Bedürfnis, mir die Augenbinde vom Gesicht zu reißen, lässt meine Finger jucken, doch ich halte mich zurück. Die Haut an Brust und Schultern spannt wie nach einem Sonnenbrand.

    »Alles in Ordnung, Christie?«, ruft jemand. Es ist Cordula, meine beste Freundin – die den Rest des Fahrrad-Polo-Teams für diese Trainingseinheit herbestellt hat. Eine Spezialeinheit, wie mein Vater verlangte. Als er ihr erzählte, was er sich vorstellt, fiel ihr das Lächeln von den Lippen.

    Zwei weitere Räder nähern sich. Meine Armhärchen stehen vor Anspannung, die Schuppen an meinen Schultern jucken unter der Haut. Dann sind sie heran – und ich springe.

    Einer der Stoffstreifen, mit denen sie nach mir peitschen, streift meinen Unterschenkel, der andere klatscht daneben auf.

    »Mist!«, schimpft Angela Bosco, die noch nicht verstanden hat, dass das hier kein Spiel ist. Für mich ist es tödlicher Ernst. Ich muss meine Drachengestalt meistern, wenn ich mich gegen Han und die Triade stellen will.

    Fahrräder entfernen sich, das Speichenticken wird lauter und leiser. Meine Nasenflügel beben. Ich versuche, das Team zu erschnuppern. Obwohl die Mädels sich entfernt zu haben scheinen, streift mich der penetrante Duft eines Deodorants.

    »Hab …«

    Ich ducke mich zur Seite und rolle mich über die Schulter. »… ich dich!« Das Band schlägt zu Boden.

    Ich rapple mich wieder auf. Mein Atem geht schwer, die Schuppen pulsieren unter der Haut. »Das ist unfair!«, rufe ich. »Ohne Fahrrad war nicht abgemacht!«

    »Die Triade ist nicht fair«, knurrt mein Vater irgendwo. Ein Fahrrad saust heran. Ich sprinte davon. Die Anspannung treibt mir erste Schuppen aus der Haut.

    »Gut!«, ruft Long. »Mehr davon! Reizt sie! Treibt sie! Macht ihr …« er bricht ab.

    … macht ihr Angst.

    Plötzlich packt mich jemand von hinten. Im nächsten Augenblick befinde ich mich im Schwitzkasten, trete blind um mich. Die Panik wächst.

    »Lass das!«, höre ich Cordula rufen. »Das ist zu viel!«

    Muskulöse Arme schlingen sich um meinen Hals, drücken mir die Luft ab. Meine Hände grapschen danach, ziehen Furchen in die Haut. Der Widerstand bleibt beständig. Ich treffe einen Fuß, ein dumpfer Laut fährt mir ins Ohr.

    Meine Schuppen pulsieren. Zerreiße, zerhacke, zerteile deinen Gegner, flüstert mir etwas ins Ohr. Hol ihn dir! Stattdessen dränge ich gegen die weibliche Brust, drücke sie einen Schritt, dann noch einen zurück.

    »Schluss jetzt!«, ruft Cordula. Das Ticken von Fahrradspeichen verklingt, ein hoher Piepton gleißt durch mein Ohr. »Long!«

    Mein Vater schweigt. Vielleicht höre ich ihn auch nur nicht. In meinen Ohren rauscht es – nicht sanft wie das Meer. Es ist ein Damm, der plötzlich bricht. Meine Schultern brennen, meine Haut fühlt sich an, als wollte sie platzen und Fleisch und Fett darunter entlassen.

    »Sehr gut«, grunzt meine Angreiferin. Chris. Sie heißt wie ich, kurzhaarig, burschikos, muskulös.

    Zerfetze sie!

    Ich ringe nach Luft, meine Lunge droht zu zerspringen. Die Schuppen an meiner Brust verfestigen sich – es fühlt sich an wie ein Panzer, der sich um weiche Haut aufbaut. Ich spüre, wie sie Chris’ Griff davonschieben, nur ein kleines Stückchen. Als ich nach Luft sauge, klingt es wie ein Grollen.

    Ich reiße den Mund auf. Blind beiße ich zu.

    Chris schreit.

    So habe ich sie noch nie kreischen gehört.

    Ich realisiere, was ich getan habe. Die plötzliche Angst ist eine andere. Das Jucken in meiner Haut ebbt ab.

    Cordulas Rufe dringen dumpf zu mir heran. Ich werde gepackt und aus Chris’ Umarmung gezogen, meine Zähne – klein und nadelspitz – gleiten aus ihrem Arm. Es schmeckt nach Blut. Im ersten Augenblick erweckt es in mir eine Lust auf Zerstörung, dann dringt mein menschlicher Teil zu mir durch – und mir wird schlecht.

    Ich taumle. Jemand fängt mich auf. Am Geruch erkenne ich meinen Vater, der mich abzuschirmen versucht.

    Ich reiße die Augenbinde von mir. Wenige Meter vor mir krümmt sich Chris und drückt den verletzten Arm an ihre Brust. Zwei Mädchen lassen die Fahrräder fallen und sprinten an ihre Seite. Cordula, unsere Teamkapitänin, ist gleich bei ihr und spricht beruhigend auf sie ein. Sie möchte ihren Arm berühren, doch Chris wehrt ihre Hand ab. Zumindest hört sie endlich auf zu schreien.

    Mit einem Ruck hebt sie den Kopf und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an.

    Sie hat eine Scheißangst. Angst vor mir.

    Ich reiße mich los. Mein Name verfolgt mich, als ich loslaufe, hinaus aus der Halle, bis mir die Tür in den Rücken schlägt. Rennen ist das Einzige, was ich tun kann, selbst wenn meine Lunge brennt und mich Seitenstechen plagt.

    Ich kann nicht kämpfen. Ich kann nicht wandeln. Ich kann nicht helfen.

    Bloß wegrennen wie ein Feigling.

    Kapitel 2

    Wer bin ich?

    Mit zittrigen Beinen komme ich im Vorhof zum Stehen und lasse mich an der von Brombeerranken umwucherten Mauer nieder. Meine Schuppen haben sich unter die Haut zurückgezogen, was nichts daran ändert, dass ich mich wie ein Häufchen Elend fühle.

    Wer bin ich?

    Mensch oder Drache?

    Befreierin oder Sklavenherrin?

    Longs Tochter oder doch die von Han Wei?

    Gehöre ich zur Familie Song oder zur Familie Han?

    Diese und tausend andere Fragen quälen mich, wühlen sich durch meine Eingeweide und halten mich jede Nacht wach.

    Was bin ich?

    Freund oder Feind?

    Ich berge mein erhitztes Gesicht in den Armen. Meine Brust hebt und senkt sich ruckartig, mit jedem Atemzug drängt sich ein Keuchen aus meiner Kehle. Ich habe eine meiner Teamkolleginnen gebissen, mit Drachenzähnen, scharf wie Rasierklingen. Mein gesamtes Bike-Polo-Team muss mich für ein Monster halten.

    Tränen wollen sich vorarbeiten, doch ich halte sie zurück. Seit meiner ersten und letzten Verwandlung habe ich nicht mehr geweint. Ich muss stark sein. Aufrecht stehen. Meinen Ängsten die Stirn bieten. Stattdessen laufe ich bloß davon.

    Ich streife mir das nasse Haar aus dem Gesicht und fummle nach meinem Mobiltelefon. Meine Gliedmaßen zittern, wie bei jedem Versuch in den letzten Wochen, meine Wandlung zu reproduzieren. Ich wähle eine Nummer – eine der wenigen, die ich auswendig weiß – und drücke das Handy an mein Ohr. Ich lausche dem steten Tuten, seine Regelmäßigkeit beruhigt mich ein wenig, verschmilzt im Einklang mit meinem langsamer werdenden Atem. Schließlich hebt jemand ab.

    »Hallo?« Blechern hallt die Stimme meines Cousins wider.

    »Zhang?« Meine Finger graben sich durch mein Haar, die Nägel kratzen über meine Kopfhaut. »Hast du Zeit?«

    »Klar.« Ein Dröhnen erklingt, als würde er sich die Haare föhnen.

    »Bist du zu Hause?«

    »Nö, in einer Besprechung im Ratsgebäude.« Seine Schritte geben ein Echo von sich. »War gerade auf dem Klo. Sollten in einer halben Stunde fertig sein. Holst du mich mit dem Fahrrad ab? Papa braucht das Auto, hat einen Termin mit Oma. Deswegen musste ich zu diesem elendslangweiligen Hexade-Treffen fahren – mit dem Bus.« Sein Ton macht klar, was mein Cousin von der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel hält.

    »Ich bin zu Fuß unterwegs.« Zhang würde lieber auf meinem Gepäckträger mitfahren, als in Bus oder Straßenbahn zu steigen.

    Er stößt ein verächtliches Geräusch aus. »Na gut«, gibt er nach, »dann halt der olle Bus.«

    Ich taste nach dem Zaun hinter mir und ziehe mich daran in die Höhe. Schwindel erfasst mich. Obwohl ich immer wieder an meine körperlichen Grenzen gelange, habe ich noch kein einziges Mal geschafft, die Verwandlung zum Blauen Drachen zu reproduzieren. Ich bin eine Versagerin.

    »Bis gleich.« Ich lege auf.

    Jemand nähert sich. Mit einem Ruck hebe ich den Kopf. Es ist mein Vater.

    »Deiner Freundin geht’s gut!«, ruft er aus der Entfernung. An seinem angespannten Gesicht kann ich sehen, dass er lügt. Seit wann sind seine Schläfen so grau? Habe ich ihm das angetan?

    Ich stecke das Handy in die Gesäßtasche, bemühe mich um Contenance. Das Wort kenne ich von Großmama Pheng. Contenance, Christine.

    »Alles in Ordnung?« Papa tritt an mich heran.

    »Ich möchte bloß Luft schnappen.«

    Unschlüssig reiben seine Lippen aufeinander. »Deine Teamkollegin hätte dich nicht würgen sollen«, stellt er fest.

    Ich schaue weg. »Aufgehalten hast du sie auch nicht.«

    Er presst den Mund zusammen.

    »Ich weiß, dass ich ein schwieriger Fall bin«, füge ich hinzu und wende mich ab.

    »Ich bin auch nur zur Hälfte ein Drache, Christine. Bei mir war es auch nicht einfach.«

    »Nicht so wie bei mir …«

    Sein Schweigen bedeutet Zustimmung. Er greift nach mir, doch ich weiche aus. »Ich kann nicht mehr«, wehre ich ab. »Machen wir für heute Schluss. Ich werde mich bei Chris entschuldigen.«

    »Ich weiß nicht, ob …«

    »Ich werde mich bei Chris entschuldigen!«, wiederhole ich so laut, dass meine Stimme über den Vorplatz der Fabrik schallt und sich an den Mauern fängt. Damit stapfe ich zurück zur Fabrikhalle und wappne mich davor, Chris ins Gesicht sehen zu müssen. Ich kann nicht ständig weglaufen. Ich bin kein Kind mehr.

    Mädchen oder Erwachsene?

    Jägerin oder Gejagte?

    Stehe ich vor der Grenze – oder habe ich sie längst überschritten?

    Chris meidet meinen Blick, während ich mich bei ihr entschuldige. Schließlich würgt sie hervor, dass es möglicherweise ein Fehler war, mich in den Schwitzkasten zu nehmen. Ehrlich gesagt, ist mir das egal. Ich weiß, dass mich meine Mädels unterstützen wollen. Sie haben bloß noch nicht ganz begriffen, womit sie es zu tun haben.

    Die anderen betrachten mich schüchtern, ihr aufmunterndes Lächeln wirkt brüchig. Ich fühle mich abgeschieden und einsam. Cordula berührt meinen Arm. »Das wird schon wieder«, sagt sie und lässt mich mit der Unsicherheit zurück, ob sie nun wirklich Chris’ Verletzung meint.

    »Ich danke euch für eure Hilfe«, sage ich so laut, dass sich mein gesamtes Fahrrad-Polo-Team angesprochen fühlt. »Aber ich denke, diese Art des Trainings war von Beginn an keine gute Idee. Mein Vater und ich werden einen anderen Weg finden, wie ich mein …« Ich verbeiße mir das Wort. »… mein Erbe annehmen kann.«

    Angela Bosco verschränkt die Arme vor der Brust und betrachtet mich skeptisch, ihre beiden Zöpfe streifen ihre Schultern. »Und das Fahrrad-Polo-Training?«, fragt sie. Takt war noch nie ihre Stärke. Ich nehme es ihr nicht übel. Ich habe gerade meine Teamkollegin gebissen, was weiß ich schon von Manieren? »Ich werde eine Weile aussetzen.«

    »Christie …!«, raunt Cordula. »Bist du sicher, dass das notwendig ist?«

    Nachdrücklich nicke ich. »Solange ich mich nicht unter Kontrolle habe, bin ich bloß eine Gefahr für jeden in meiner Nähe.« Ich verbeuge mich, erkenne mitten in der Bewegung, dass ich einer talanidischen Tradition folge, ihnen allen Ehrerbietung für ihre Mühen zu erweisen. »Ich danke euch.« Damit ziehe ich mich zurück.

    Mein Vater wartet draußen, eine Hand in der Jackentasche, zwischen den Fingern der anderen eine selbst gedrehte Zigarette, die er immer wieder an den Mund heranführt, um daran zu ziehen. Er raucht mehr als früher. »Sollen wir …?«

    »Ich habe etwas mit Zhang ausgemacht.«

    Sein Blick lässt nicht von mir ab. Sorge zieht seine Augenbrauen zusammen, bildet dazwischen ein Viereck aus Falten, mit dem er seit dem Auftauchen meiner blauen Schuppen über die Ereignisse brütet. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?« Er macht sich Sorgen um mich – macht sich Sorgen um die gesamte Familie. Ich weiß das. Doch seine Sorge belastet mich noch mehr, als wenn ihm alles egal wäre.

    Ich streife seine Frage ab wie seine Hand. »Alles klar mit mir. Ich muss los. Bis dann.« Damit versenke ich die Fäuste in den Hosentaschen und gehe einfach. Egal was passiert, ich zwinge einen Schritt vor den anderen. Egal, wie lang die Strecke auch ist, ein Schritt geht immer, so klein er auch sein mag. Stillstand bedeutet, dass man tot ist.

    Und noch lebe ich.

    Genau wie Zhang.

    Schritt für Schritt, Hand in Hand. Wir haben uns in den schlimmsten Zeiten wieder aufgerafft, mit neuen Narben und neuen Feinden. Ich werde es machen wie er, meistern wie er – auch wenn es ein ständiger Kampf bleibt. Er ist der Einzige, der mich versteht.

    Also mache ich mich auf den Weg zur nächsten Straßenbahn, die die Buslinie zum Ratsgebäude der Hexade streift. Wäre ich noch immer ein Iudex Poschovaris, hätte ich an der Ratssitzung teilgenommen. Da sich Long als mein Ziehvater kurzfristig dazu entschlossen hat, ebenfalls um den Posten im Stadtrat zu kandidieren, musste ich meine Rolle ablegen. Er befindet sich in der nächsten Stufe des Aufnahmeverfahrens – und ich kann nur danebenstehen und zusehen wie alle anderen.

    Der Bus schaukelt mich durch die Stadt und entlässt mich zwei Seitenstraßen entfernt vom Ziegelgebäude, in dem die Hexade tagt. Ich lasse mich auf den Stufen nieder und warte darauf, dass die Besprechung ein Ende findet. Ein bisschen wundere ich mich, dass Großmama Pheng, die ebenfalls einen Platz in der Hexade besetzt, ausgerechnet den desinteressierten Zhang als Stellvertreter geschickt hat. Andererseits war immer schon geplant, ihn und nicht seinen Vater, Onkel Thien, als Nachfolger zu ernennen.

    Meine Knie blitzen durch die Löcher meiner Jeans, in meinem Mund dominiert ein eigenartiger Geschmack, weswegen ich mir einen Kaugummi zwischen die Zähne stecke. Tauben sammeln sich auf den Steinvasen, die die Treppe flankieren, aus dem gesprungenen Gehsteig blinzeln erste Grashalme. Die Sonne erwärmt die Stufen. Der Frühling hält Einzug.

    Ich kratze die Kruste von meinen zerschundenen Knien und blinzle zur anderen Straßenseite, auf der die Autos vorbeirauschen. Als ich eine Gestalt vor einer spiegelnden Auslage bemerke, recke ich den Kopf.

    Kastanienbraunes Haar fällt glatt über einen grauen Trenchcoat, der sicher eine andere Farbbezeichnung wie beige oder taupe bevorzugt. Er sieht edel aus, ist an der Taille schmal geschnitten und umhüllt wie eine Tulpe schlanke Beine in hohen Schuhen, die mir bekannt vorkommen.

    Die junge Frau tritt einen Schritt zur Seite, fließend wie eine Katze, und einen Augenblick lang glaube ich diese auch im Schaufenster zu sehen. Ist das Lisbeth? Wurde sie nach ihrer Attacke von der Kojotenwandlerin Vanessa bereits aus dem Krankenhaus entlassen?

    Ich rapple mich auf. Nachdem ihre Mutter von Geralts Wolfsrudel getötet worden war, hat sich Lisbeth in ihrer zweiten Katzengestalt bei Hexade-Nachfolger Viktorius Horasch verkrochen. Niemand wusste, warum genau sie ausgerechnet diesen stillen, abweisenden Mann erwählte, ihr Unterschlupf zu gewähren. Allerdings sind Katzen dafür bekannt, sich zu jenen hingezogen zu fühlen, die sich am wenigsten für sie interessieren.

    Der Mann vom Fluss hat es mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen lassen und wurde nicht selten mit Katzenfutterdosen bei Hexade-Besprechungen gesichtet, in denen er den alten Anselm Horasch vertrat.

    »Lisbeth?«, rufe ich, doch der Lärm der vorbeisausenden Autos dämpft meine Stimme. Entweder hört sie mich nicht oder ich irre mich.

    Meine Aufmerksamkeit wird gebannt, als hinter mir die Tür zum Ratsgebäude aufgeht. Ulla und Johann Wegemann treten hervor und unterhalten sich dabei in sanftem Plauderton. Sie sind Cordulas Eltern und ebenfalls Teil des Stadtrats.

    »Grüß dich, Christie!« Johann blinzelt durch seine Nickelbrille, als sie die Stufen herabkommen. »Wie geht es dir?«

    Ich entschließe mich zu der schnellsten Antwort. »Gut, vielen Dank.«

    Hinter ihnen schlüpft Paul Pensing aus dem Tor. Er würdigt mich keines Blickes – nun, da ich nicht länger ein Iudex Poschovaris bin, hat er keine Verwendung für mich. Eilig fischt er eine Zigarette aus der Tasche und zündet sie an. Wie für die beiden Feuermagier und Brüder üblich, benötigt er dazu kein Feuerzeug, sondern lässt eine Flamme aus seinen Fingern kräuseln. Zufrieden pafft er.

    Endlich erscheint mein Cousin. Zhang ist eine schwarze Weidenrute, die aus dem Gebäude stakt. Er zupft sich den Rollkragen zurecht, der die Narben an seinem Hals verdecken soll. Seine lange Nase zuckt. Er wirkt äußerst gelangweilt. Er fühlt sich zu wohl in seiner Rolle als fixer Nachfolger, was ihn manchmal arrogant wirken lässt. Manchmal?

    »Wenn du so weiterrauchst, kann ich dich bald als Mumie in die Sitzungen schleifen«, blafft er Paul an. Dabei spielt er darauf an, dass er die Fähigkeit zur Nekromantie beherrscht – er kann die Toten kontrollieren. Nun … zumindest verstorbene Nagetiere und Vögel.

    Paul stößt den Rauch mit einem Schnauben aus der Nase. »Klappe, Song.«

    Zhang grinst nur und schlurft mit langen Beinen die Treppe herab, direkt auf mich zu, kurz drückt er mich an sich. »Na, altes Haus«, brummt er mit seiner rauen Stimme, die er dem Biss des Wolfs­gestaltenwandlers zu verdanken hat. »Wie lief das Training mit Long?«

    Auch hier entscheide ich mich für die kürzeste Antwort. Jetzt, wo Zhang hier ist, möchte ich nicht über meine negativen Erfahrungen reden. Es tröstet mich schon, dass er einfach nur da ist. »Gut.« Ich nicke zur anderen Straßenseite. »Ist das nicht Lisbeth?«

    Ich spüre, wie sich Zhang anspannt und den Kopf hebt wie ein Erdmännchen. »Lisbeth …?«

    An uns vorbei trabt Viktorius Horasch, mit zurückgebundenem fahlblonden Haar und farbbefleckten Jeans und T-Shirt. »Morgen«, grüßt er mich, das Gesicht glatt, zwischen seinen Fingern klimpert sein Schlüsselbund. Ich habe ihn eigentlich noch nie in Jeans ohne Farbe oder Löcher gesehen, was daran liegt, dass Viktorius für die Renovierung der Häuser des Volkes am Fluss zuständig ist. Diese in sich geschlossene Gemeinschaft zeichnet sich nicht nur durch ihre Liebe zu dem sich durch Poschovar windenden Fluss, der Mahr, aus, sondern auch durch ihre teilweise etwas abweichenden Haar- und Hautfarben, die darauf hindeuten, dass sie von Interens wie ich abstammen. Im Fall von Viktorius und Anselm Horasch, Nachfolger sowie aktueller Patriarch der Hexade, ist es ein eigentümlicher Gelbstich ihres fahlen Haars, der an vergilbtes Elfenbein erinnert, der Fremde kurz innehalten lässt, wenn sie ihnen das erste Mal begegnen.

    Viktorius tritt zwischen den parkenden Autos hindurch und schreitet zielgerichtet über die Straße. Irgendwo blinkt sein Wagen auf.

    Ob er Lisbeth ebenfalls erkennt? Wann hat er sie das letzte Mal gesehen? Er muss ihr ja furchtbar die Meinung gegeigt haben, als sie sich wieder zurückverwandelt hat.

    Ich höre ihren Namen – und diesmal ist es Viktorius, der ihn ruft. Ich versuche Verärgerung herauszuhören, doch sie fehlt. Seine fleckigen Jeans reiben an dem nächsten Wagen entlang, als er sich zum Schaufenster hindurchkämpft. Lisbeth rotiert auf ihren Stöckelschuhen herum und ihr wunderschönes Gesicht mit katzenhaften grünen Augen erweicht zu dem womöglich ersten echten Lächeln, das ich jemals an ihr gesehen habe.

    Sie tritt auf ihn zu und tastet nach seiner Schulter, um sich noch ein Stück weiter in die Höhe zu ziehen. Dann küssen sie sich.

    Auf den Mund.

    Jawohl. Viktorius Horasch und Lisbeth Devoye küssen sich auf offener Straße.

    Kapitel 3

    Ein Buch mit sieben Siegeln

    Mein Unterkiefer hängt sich aus. »Wa…?«, entkommt es mir.

    »Was bei den Seelen …?«, stößt Zhang hervor. Seine Finger krallen sich in meinen Ärmel, seine abgekauten Nägel kratzen mich. Ich reiße meinen Blick von Lisbeth und Viktorius los und widme ihn stattdessen meinem Cousin. Seine Nasenflügel beben vor … was? Wut? Entsetzen? Ich habe nie verstanden, warum er auf Lisbeth steht. Bis auf ihre Funktion als Nachfolger besitzen die beiden keinerlei Gemeinsamkeiten.

    Ich will nach seiner Hand greifen, doch da stürmt Zhang bereits los. Niemand außer mir bemerkt es, denn Viktorius hat Lisbeth die Einkaufstaschen abgenommen und trägt sie zu seinem magisch-technischen Hybridwagen, um sie im Kofferraum zu verstauen.

    Zhang stürzt zwischen den parkenden Autos hindurch, ein Moped muss abbremsen, der Fahrer wettert. Mein Cousin ignoriert ihn und marschiert mit hochgezogenen Schultern auf Lisbeth zu. Wie ein Orkan kommt er über sie.

    Seine ersten Worte verstehe ich nicht, bis seine Stimme an Volumen gewinnt. Lisbeths ohnehin große Augen weiten sich. »… das kannst du vergessen!«, herrscht Zhang. »Du kannst dich nicht über Viktorius in die Hexade zurückvögeln!«

    Hu. Der letzte Satz lässt auch die Wegemanns auf dem Gehsteig anhalten. Alle starren schockiert hinüber. Selbst Paul Pensing vergisst an seiner Zigarette zu ziehen.

    Lisbeth blinzelt ein, zwei Male – dann schnalzen ihre Lippen zurück und entblößen katzenartige Fangzähne. Die folgende Regung geschieht so schnell, dass ich sie kaum wahrnehme. Die Ohrfeige klatscht gewaltig und reißt Zhangs Kopf zur Seite.

    Ich bekomme meine Beine endlich dazu, sich zu regen, und haste ebenfalls über die Straße.

    »Zhang!«, rufe ich aus und zwänge mich zwischen den Wagen hindurch. Ich packe ihn am Arm. Er zittert vor Wut.

    Auch Viktorius eilt heran. »Gibt es ein Problem?«, fragt er, die Augen verengt.

    Lisbeth und Zhang messen sich in einem Blickduell. Auf Zhangs Wange bemerke ich Kratzspuren. Lisbeth trägt zarte Handschuhe, aus deren Spitzen ihre Krallen gefahren sind. »Nein«, presst sie hervor, die Pupillen schwarze Schlitze.

    Viktorius wirkt skeptisch. Als er etwas einwenden möchte, fischt sie nach seiner Hand. Ihre Finger verflechten sich. Lisbeth schreitet davon und zieht ihren Freund mit sich. Bevor sie um die Ecke biegen, wirft der Mann vom Fluss noch einen undeutlichen Blick zurück.

    »Zhang …« Ich ziehe meinen Cousin am Arm, versuche seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Er bebt vor verhaltener Anspannung. Ich empfinde Mitleid mit ihm, gleichzeitig bin ich schockiert darüber, mit welchen Worten er Ausdruck für sein gebrochenes Herz gefunden hat.

    Seine Zähne knirschen. »Wie kann sie nur glauben, sie könne sich zurück in die Hexade schlafen«, zischt er, seine Augen schimmern wie nasse Steine.

    Bei Zhang liegen Traurigkeit und Wut dicht beieinander. Mit negativen Gefühlen wie Zurückweisung weiß er ebenso wenig umzugehen wie seine Großmutter. Zorn hingegen ist eine simple Emotion – man kann ihn so einfach auf andere richten.

    Ich taste nach seiner Faust, umschließe sie mit meiner Hand. »Zhang, ich glaube nicht, dass Lisbeth einen ausgekochten Plan entwickelt hat, um sich zurück in die Hexade zu drängen«, erkläre ich sanft. »Wäre das ihr Ziel gewesen, hätte sie ein viel einfacheres Opfer gekannt als Viktorius Horasch.«

    Zhang reißt seinen Kopf herum. In seinen Augen glitzern Tränen. »Sie …«, beginnt er. »Ich …« Seine Sätze zerfransen.

    »Komm«, sage ich, mit meinem Daumen streiche ich über seine Knöchel. »Lass uns zu uns nach Hause gehen.«

    Langsam entspannt sich seine Faust. Mechanisch setzt er sich in Bewegung.


    Still wartet die Wohnung auf uns. Da es niemanden gibt, auf den Zhang seine Wut richten kann, fällt er mit einem melodramatischen Seufzen auf mein Bett und brummt: »Scheiß Lisbeth.«

    Ich hake mich an eine der Leitersprossen fest, die zu Lins Stockbett emporführen. Zhang knautscht das Gesicht in mein Kopfkissen.

    »Möchtest du reden?«, frage ich.

    Er schüttelt den Kopf.

    Ich lasse mich auf dem Bettrand nieder. »Möchtest du fernsehen?«

    Erneut dieses verbissene Kopfschütteln.

    Ich ziehe meine Füße heran und platziere mich ihm gegenüber, sodass unsere Beine aneinander vorbeiführen. Nach einer Weile stützt er sich auf seinen Unteramen auf. In unserer Kindheit haben wir viel Zeit in meinem Stockbett verbracht, verhangen mit Tüchern, die daraus ein magisches Versteck zauberten. Zhang und ich in unserer Drachenhöhle, über uns Linda, die sich die Kopfhörer über die Ohren spannte, um unser Gekicher ignorieren zu können. Heute hat das Hochbett seinen Zauber verloren. Stattdessen reibt sich Zhang die vernarbte Kehle und mustert mich, die Stirn von Falten durchzogen.

    »Wie war die Besprechung mit der Hexade?«, fische ich nach einem Gesprächsfaden.

    »Du weißt doch, ich darf nicht drüber reden.«

    Genau das macht mich ja verrückt. Nie hätte ich gedacht, dass ich meinen Job als Iudex Poschovaris vermissen könnte.

    »Werdet ihr meinen Posten als Iudex neu besetzen?«, frage ich.

    Zhangs Gesicht ist nicht zu lesen. Die Bettkante wirft einen vertikalen Schatten über seine Mimik, zerschneidet sie in zwei Hälften. Er schweigt.

    »Haben sie sich bereits für jemanden entschieden?«, bohre ich nach.

    »Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen«, wiederholt er monoton. »Frag Long – alles, was er weiß, darfst auch du erfahren.«

    Vor Enttäuschung sackt mein Kinn nieder, meine Stirnfransen fallen über meine Augen.

    »Es tut mir leid, Christie«, brummt er. »Wenn rauskommt, dass ich dir Infos zustecke, würde Long aus dem Auswahlverfahren ausgeschlossen.«

    »Möglicherweise wäre es besser so«, erwidere ich erstickt.

    »Möchtest du das wirklich?«

    Ich blicke auf.

    »Dass Long kampflos aufgibt?«

    »Du warst nicht dabei, als er sich mit Han Wei duelliert hat!«, presse ich hervor. »Long hat keine Chance! Wenn nicht einer von ihnen im Laufe des Bewerbungsvorgangs ausscheidet … keiner von beiden nachgibt … du weißt, wie Großpapa Zuko in der Endrunde seinen Posten errungen hat! Er hat Geralt Hellers Großvater in Stücke gerissen!« Ich schüttle den Kopf. »Freue ich mich, dass Han Wei versucht, sich über die Hexade in mein Leben zu drängen? Nein! Aber ich kann damit leben, solange es bedeutet, dass es Papa gut geht!«

    Zhang wirkt nachdenklich. »Aber Long kann nicht damit leben«, sagt er.

    Meine kurz geschnittenen Nägel bohren sich in meine Handballen. Ich bemerke, wie ich zu zittern beginne – genau wie bei Zhang schlägt meine Verzweiflung in Wut um. Ich hasse meine eigene Hilflosigkeit. Und ich bin wütend auf meinen Cousin, weil er mir nichts verraten will, als wäre ich eine verdammte Tratschtante, die nichts für sich behalten kann.

    »Kannst du mir irgendetwas zur Bewerbung sagen, oder hat dir die Hexade generell verboten, mit mir zu sprechen?«, blaffe ich.

    Zhang legt den Kopf schief. Sein Mundwinkel zuckt. Mein Versuch, ihn durch Druck zum Reden zu bewegen, amüsiert ihn offensichtlich.

    »Was gibt es da zu grinsen?«, fahre ich ihn an.

    Er hebt den Zeigefinger. Einen Moment lang schwebt er zwischen unseren Gesichtern, dann langt Zhang unversehens nach meinen Füßen und beginnt mich zu kitzeln.

    »Hör auf!«, rufe ich und versuche, seinem Griff zu entkommen. »Aufhören, verdammt!« Ich muss gleichzeitig lachen. Endlich befreie ich einen Fuß, ich trete aus und treffe ihn an der Brust. Ein Husten platzt aus seiner Lunge. Abrupt lässt er mich los, krümmt sich zusammen und klatscht sich gegen das Schlüsselbein, als er von einem Hustenanfall durchgeschüttelt wird.

    »Zhang!«, rufe ich erschrocken.

    Er wälzt sich aus dem Bett und verschwindet Richtung Badezimmer. Die Wasserleitung zischt, das Geräusch wird kurzfristig unterbrochen und ebbt schließlich ab. Ich folge ihm und bleibe an der Tür stehen.

    Über den Spiegel sieht mich Zhang an, während sein rasselnder Atem seinen Brustkorb dehnt. »Guck nicht so«, sagt er und wischt sich den Mund ab. »Du trittst wie ein Pferd, aber das reicht noch lange nicht aus, mich umzubringen.«

    Ich versuche mich an einem Lächeln. Die Unsicherheit verberge ich, indem ich die Arme verschränke. Meine Finger versenke ich in den Falten meines Pullovers.

    Zhang stützt sich eine Weile am Waschbecken ab, sein Blick gleitet ab, dann nickt er Richtung Mauer, die unsere Wohnung von Frau Steins abgrenzt. Ich erwarte, dass er mich nach Jason fragt, der bei der schrulligen Dame untergekommen ist. Wie selbstverständlich hat sie ihn bei sich aufgenommen. Der sachte Geruch von Zigarettenrauch dringt auch jetzt durch die gekippte Badezimmerluke, vermutlich pafft Frau Stein nebenan aus ihrem Küchenfenster.

    Statt über Jason zu sprechen, rotiert Zhang herum, zieht sein Handy aus der Hosentasche und geht seine Nachrichten durch. »Wie wär’s, wollen wir heute ausgehen?«

    »Wie?«

    »Wann warst du das letzte Mal in einem Klub?«

    »Mh … kommt drauf an, was du darunter verstehst.«

    »Na … Musik. Tanzen. Drinks. So was halt.«

    Ürks. Ich ziehe den Kopf zurück. »Das ist nicht mein Ding.«

    Zhang tritt an mir vorbei, greift nach meinem Ellenbogen und zieht mich mit sich wie eine Vertraute. »Komm schon! Lass uns ausgehen! All den Scheiß für einen Moment hinter uns lassen …!«

    »Dort ist doch die Belüftung so schlecht …« Ich fasse nach meiner Kehle, um Zhang taktvoll darauf hinzuweisen, dass er noch nicht gänzlich fit ist und in manchen Belangen auch nie wieder werden wird. »… und Alkohol verträgt sich auch nicht mit deinen Medikamenten.«

    Er bedankt sich mit einem Augenrollen. »Wie alt bist du eigentlich? Neunzig?«

    Unschlüssig hebe ich die Schultern. »Mh …«

    Er grinst, seine Wangenknochen treten hervor. Ich kann mich nicht des Gefühls erwehren, dass mein Cousin etwas ausheckt.


    »Oh, das ist eine schöne Idee«, kommentiert meine Mutter Zhangs Vorschlag, als er sie bei ihrer Heimkehr damit überfällt.

    »Aber Mama«, murmle ich. »Morgen hat Papa doch sein Treffen mit der Hexade …«

    Sie beugt sich zu mir. »Schatz, all das liegt nicht in deiner Hand. Es wird Zeit, dass du wieder lebst, wie es einem Mädchen deines Alters entspricht. Triff dich mit deinen Freundinnen. Was ist mit deinen Teamkolleginnen?« Die möchte ich jetzt sicher nicht sehen – oder besser gesagt, sie mich nicht. »Bürde dir nicht die Last dieser Welt auf.«

    Ich will mir nicht die Last dieser Welt aufladen. Bloß die dieser Familie.

    Sie küsst mich auf die Stirn. Damit tötet sie die letzte Hoffnung, ich könne sie als Ausrede verwenden, nicht in einen stinkigen Klub gehen zu müssen.

    Auf dem Sofa tippt Zhang auf seinem Handy herum. Dafür, dass ihn die Liebe seines Lebens vor wenigen Stunden abserviert hat, wirkt er ziemlich entspannt.

    »Macht euch einen schönen Abend«, fährt Ruth fort und tätschelt meine Schulter. »Aber zur Sicherheit trage doch das Schutzamulett, das ich von Mister Rhee habe nachmachen lassen. Und es wäre mir recht, wenn

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