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Bluesballaden: Amerikanische Erzählstücke
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eBook359 Seiten4 Stunden

Bluesballaden: Amerikanische Erzählstücke

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Über dieses E-Book

Blues ist nicht nur die Bezeichnung für ein musikalisches Genre, es ist darüber hinaus auch die Beschreibung für ein Lebensgefühl des Zorns, der Trauer, der Verzweiflung und der Klage über soziale Ungerechtigkeit.

Entstanden ist der Blues unter den Schwarzen im ländlichen Süden der USA. Er hat sich aber vom Süden aus rasch, auch mit einer von dort verdrängten Minderheit, in den Großstädten des Nordens ausgebreitet. Das Wort ist von der Musik her, zu einer Stimmung unter Menschen auf der ganzen Welt geworden.

So ist es nur folgerichtig, dass die Texte dieses Buches nicht nur von schwarzen Musikern in den USA handeln, sondern auch von Personen, in deren Biographie sich der Blues spiegelt.

Die Folge der Balladen beginnt mit einer Paraphrase über den Folk-Hero, Paul Bunyan, dem legendären Schutzpatron der Holzfäller. Neben der Bluessängerin Billie Holiday und dem Bluespionier Muddy Waters stehen Texte über das Lebensschicksal von Menschen, die am Amerikan Way of Life zerbrachen - wie der Tramp und Volkssänger Woody Guthrie, der Dichter Ezra Pound, der bildende Künstler Jackson Pollock und die unschuldig hingerichteten italienischen Einwanderer Sacco und Vanzetti. Von einem obdachlosen schwarzen Jungen aus Los Angeles wird erzählt, der sich für Charlie Parker begeistert, vom Autor der Beat Generation Jack Kerouac und von der Filmschauspielerin und Fotographin Tina Modotti, schließlich von einem GI türkischer Abstammung im heutigen Bagdad.

Davon handeln die Erzählstücke dieses Buches - Geschichten, in deren Biografie der Blues sich unverwechselbar spiegelt.
SpracheDeutsch
HerausgeberFuego
Erscheinungsdatum29. Nov. 2013
ISBN9783862870837
Bluesballaden: Amerikanische Erzählstücke

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    Buchvorschau

    Bluesballaden - Hans-Christian Kirsch

    Coverbild

    Hans-Christian Kirsch

    Bluesballaden

    Amerikanische Erzählstücke

    FUEGO

    Über dieses Buch

    Blues ist nicht nur die Bezeichnung für ein musikalisches Genre, es ist darüber hinaus auch die Beschreibung für ein Lebensgefühl des Zorns, der Trauer, der Verzweiflung und der Klage über soziale Ungerechtigkeit.

    Entstanden ist der Blues unter den Schwarzen im ländlichen Süden der USA. Er hat sich aber vom Süden aus rasch, auch mit einer von dort verdrängten Minderheit, in den Großstädten des Nordens ausgebreitet. Das Wort ist von der Musik her, zu einer Stimmung unter Menschen auf der ganzen Welt geworden.

    So ist es nur folgerichtig, dass die Texte dieses Buches nicht nur von schwarzen Musikern in den USA handeln, sondern auch von Personen, in deren Biographie sich der Blues spiegelt.

    Die Folge der Balladen beginnt mit einer Paraphrase über den Folk-Hero, Paul Bunyan, dem legendären Schutzpatron der Holzfäller. Neben der Bluessängerin Billie Holiday und dem Bluespionier Muddy Waters stehen Texte über das Lebensschicksal von Menschen, die am Amerikan Way of Life zerbrachen - wie der Tramp und Volkssänger Woody Guthrie, der Dichter Ezra Pound, der bildende Künstler Jackson Pollock und die unschuldig hingerichteten italienischen Einwanderer Sacco und Vanzetti. Von einem obdachlosen schwarzen Jungen aus Los Angeles wird erzählt, der sich für Charlie Parker begeistert, vom Autor der Beat Generation Jack Kerouac und von der Filmschauspielerin und Fotographin Tina Modotti, schließlich von einem GI türkischer Abstammung im heutigen Bagdad.

    Davon handeln die Erzählstücke dieses Buches - Geschichten, in deren Biografie der Blues sich unverwechselbar spiegelt.

    Vorstrophe

    Ursprünglich ist der Blues die Musik des Schwarzen Amerika, aber darüber hinaus die Musik Nordamerikas schlechthin.

    Mit der Ausbreitung der amerikanischen Zivilisation in Europa gelangte der Blues auch zu uns.

    In den USA gehen die ersten Aufnahmen des Blues auf die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück.

    Er wurde gesungen und gespielt in den Hintergassen der Städte des Südens wie Memphis oder St. Louis, auf heruntergekommenen Farmen, in Kleinstädten wie Spartanburg oder Macon. Seine Sänger verschlug es schließlich in die Slums von New York und Chicago.

    Die Stimmung des Blues, sein „true feeling, ergibt sich daraus, dass der Musiker jene Erfahrungen, die sein Lied ausdrückt, selbst gemacht hat. Ein Bluessänger sagte einmal: „Der Blues handelt von etwas, das wirklich ist. Der Blues erzählt, wie ein Mann sich fühlt, wenn ihn seine Frau verlassen hat, von einer Enttäuschung, die übermächtig ist, gegen die er nichts auszurichten vermag. Deswegen können Junge auch nicht wirklich den Blues singen. Sie haben die Zustände, die in den Blues einfließen, noch nicht am eigenen Leib erfahren.

    Wenn man einen Musiker wie Henry Townsend nach jenen Eigenschaften fragt, die einen guten Bluessänger ausmachen, so wird er lachen und antworten: „Ärger, Kummer. Ja, darum geht es. Verstehen Sie, ein wahres Gefühl kann man nur ausdrücken, wenn man ehrlich davon spricht. Man kann nur etwas ausdrücken, was einem selbst zugestoßen ist."

    Und Furry Lewis meinte, der innere Zustand bei einem Menschen, der den Blues „hat, sei von dem des Schreibens und des Singens eines Blues nicht zu trennen. „Wenn man einen Blues schreibt, denkt man nicht darüber nach, was der Blues ist. Man selbst hat den Blues und darüber schreibt man.

    Aus dieser Direktheit des Ausdrucks entspringen auch die vorherrschenden Themen des Blues, nämlich Liebe, Enttäuschung und Zorn.

    Im Blues findet also eine Abführung von Gefühl statt. Baby Tate beschreibt es so: „Ich werde Ihnen sagen, was mir den Blues eingibt. Wenn meine Frau mich wild macht, greif ich mir meine Gitarre, geh aus dem Haus. Ich versuche so einem Streit aus dem Weg zu gehen."

    Das korrespondiert mit der Wirkung auf den Zuhörer.

    Er entdeckt sich, sein Leid, seinen Zorn wieder.

    Dass dies jemand ausspricht, tröstet ihn.

    Dies ist die Tradition, in der dieses Buch steht.

    Der Autor ist viel in den USA gereist, er hat in McComb, Mississippi, Märchen des Schwarzen Amerika gesammelt, und irgendwann ist er dann in Deutschland auf den Bluessänger John Kirkbride gestoßen. Der hat ein verrücktes Leben hinter sich. Ein Blues-Leben. Geboren in Schottland, erzogen in einer englischen Internatsschule. Dann Royal Airforce. Flieger. Captain. Abgeschossen bei einem Flug über Aden. Der einzige Überlebende. In Zypern zum Ausheilen seiner Verwundung. Dort seine Gitarrentechnik verbessert. In die USA gereist. Auf der Straße gelebt. Mit Joan Baez, Bob Dylan, Eric Clapton und anderen Legenden gespielt. Wegen einer Frau nach Deutschland gekommen. Hier hängen geblieben. Den Blues auf und ab durch deutsche und europäische Städte gespielt und gesungen. Wenn man ihn auf seinem Handy anruft, kann es sein, dass man ihn in Moskau, Sarajevo oder Casablanca erreicht.

    Es mag damit zusammenhängen, dass Autor und Musiker beide am gleichen Tag das Licht dieser besten aller möglichen Welten erblickt haben, aber mehr noch hat uns verbunden die Erfahrung gemeinsamer Reisen und Auftritte.

    Wenn man vier Wochen jeden Abend vor wechselndem Publikum zusammen singt und vorliest, – mal waren es Nonnen und Klosterschülerinnen in Augsburg, dann wieder Rocker in einer Bar in Schleswig-Holstein oder Passanten in einem Bücherkaufhaus in Hamburg – wenn man tagsüber zum nächsten Gig fährt, in Staus stecken bleibt, in mehr oder minder schäbigen Hotels übernachtet, weiß man, was man voneinander zu halten hat. Was John Kirkbride und mich angeht, so sind wir so etwas wie „soul brothers" geworden. Es muss eine gemeinsame Schwingung in unserem Lebensgefühl geben, die der eine mit Worten, der andere mit Musik ausdrückt.

    Wenn man mich darüber hinaus fragen würde, was dieses Buch soll, wie es zustandegekommen ist, was sich darin ausdrückt, so wären eine ganze Reihe von Faktoren zu erwähnen: Liebe zu Amerika und Trauer über die politische und soziale Entwicklung, die die USA in den letzten Jahrzehnten genommen haben, Zorn über den Verfall vom Humanität und demokratischer Freiheit. Staunen über das Leben der Menschen zwischen New York und Los Angeles, Chicago und New Orleans, Freude am gesprochenen und gesungenen Wort, über die Möglichkeiten, mit ihm Stimmungen und Erfahrungen auszudrücken, seine Lockerheit, Spontaneität, seine direkte Verbindung zum Zustand in der Seele des Menschen.

    Schließlich muss hier auch erwähnt werden die Bekanntschaft mit einem Mann, mit Erich Jooß, dem Verleger dieses Buches, der ein geschärftes Gehör für die Möglichkeiten der Sprache und der Wunder des Blues hat, der John Kirkbride und mir Mut machte, jeder solle auf seine Art den Blues spielen, singen, sagen, erzählen.

    Ohne sonst ein Freund englischer Titel zu sein, müsste dieses Buch eigentlich „Talkin’ the Blues" heißen, weil diese drei Worte einschließen, worum es uns geht. Von Menschen in Amerika mit dem Blues zu erzählen: von ihren Hoffnungen, Utopien, Wünschen, Gefährdungen, ihrem Leid, ihrem Zorn, aber auch von ihrer Freude, ihrem Lebens­willen, ihren Niederlagen und ihren Siegen.

    Limburg a. d. Lahn, Frühjahr 2005

    Die Ballade von Paul Bunyan

    Dies ist die Geschichte von Paul Bunyan, der bis heute als der Schutzpatron der Holzfäller gilt.

    Paul Bunyan war ein Mann, übergroß und kräftig, das Urbild eines amerikanischen Mannsbildes überhaupt.

    Man sagt, zu Anfang wollte er der Patron des Nützlichen und Schönen werden.

    Über das, was er war, ehe er sich seiner großen Aufgabe widmete, darüber gibt es zwar auch Geschichten, aber von denen reden wir hier nicht, denn, wie wir längst wissen, hat jede Geschichte eine Geschichte vor der Geschichte.

    Nur soviel soll gesagt sein. Er saß zu jener Zeit, da wir unsere Erzählung beginnen lassen, in einer riesigen Höhle nicht weit von der Hudson Bay entfernt. Und es gab in dieser Höhle mindestens die Hälfte aller Bücher, die damals auf der Welt schon geschrieben oder gedruckt worden waren.

    Und Paul Bunyan las sie alle, eines nach dem anderen, nichts anderes tat er, las und träumte von den Geschichten, die er gelesen hatte, bis dann der Winter mit dem Blauen Schnee kam.

    Der Blaue Schnee fiel dünn während der ersten Stunden. Die Flocken tanzten auf den Wellen eines milden Winterwindes, glitzerten in einem mattgoldenen Licht.

    Dann war die harte, graue Ebene des menschenleeren Landes bedeckt mit einer dunkelblauen Decke.

    Und all die vielen Seen und Flüsse, die stillen Täler und winddurchtosten Schluchten des Landes dort oben versanken unter einem Schnee, der die Farbe des blauen Himmels hatte.

    Mit dem letzten Licht des Tages ging plötzlich eine Veränderung vor sich. Ein kräftiger Wind kam auf, und die Flocken, die nun viel größer waren, verbanden sich zu Schleiern und Klumpen. Der Schnee bildete blauen Erhebungen um die Bäume herum.

    Als das letzte Licht des Tages erlosch, ächzten die Zweige der großen Fichten unter der schweren Last der Schneemassen, die aussahen wie Ballen blauer Baumwolle. Vor der Zeit des Winters mit dem Blauen Schnee lebten die Geschöpfe des Waldes ein freies und leichtes Leben. Menschen, die auf sie geschossen hätten, gab es nicht. Das einzige Problem war, dass es zu viele Tiere in den Wäldern gab. Die riesigen Elchherden, die die Wälder bevölkerten, waren sich gegenseitig im Wege, und es war für die Raubtiere ein Kinderspiel, ihre Beute zu finden.

    Die Elche ihrerseits lebten behaglich von dem saftigen Elchgras, das vor dem Winter mit dem Blauen Schnee in Hülle und Fülle wuchs. Als aber der Blaue Schnee fiel, bekamen die Elche Angst, aber keiner von ihnen wollte sich das als erster anmerken lassen.

    Aber am Ende des Tages, als es immer noch schneite und schneite, begann das eine oder andere Tier zu zittern und mit den Augen zu rollen. Und erst recht bekamen es alle mit der Angst zu tun, als die Bäume ganze Lasten Schnee auf ihren Rücken fallen ließen.

    Ein großer Elchbulle, bisher der unbestrittene König aller, stieß ein angstvolles Gebrüll aus und damit begann die Flucht der Elche – das erste bemerkenswerte Ereignis im Winter des Blauen Schnees.

    Der Wind nahm an Wucht und Stärke in der Nacht immer mehr zu, und gegen Morgen wütete ein blauer Blizzard. Die Tiere des Waldes rannten und rannten auf der Suche nach einem Zufluchtsort.

    Ach ja, und da war Niagara, der große Hund von Paul Bunyan, der ihn gewöhnlich mit Wild versorgte. Er sah nichts mehr, als er rannte, und folgte nur der Witterung, vor sich eine immer mehr anwachsende Elchherde.

    Paul Bunyan, Student der Geschichte und unersättlicher Leser, lebte damals in einer Höhle, in der gut und gern zehn Mammuts Platz gefunden hätten. Für Paul war die Höhle nicht zu groß – nicht für einen Mann, so groß wie eine ganze Stadt gewöhnlicher Männer. Die Zeltbahnen und Decken bedeckten ein Viertel des Höhlenbodens, seine Jagdkleidung, die Fallen und Schleppnetze ein weiteres Viertel, und den Rest nahmen der Feuerplatz, seine Papiere und die Bücher ein. Zu dieser Zeit studierte Paul Bun­yan noch. Sein liebstes Nahrungsmittel war rohes Elchfleisch. Und seitdem er Niagara im Großen Wolfs-Land gefunden hatte, brauchte er selbst nicht mehr zum Jagen und Fischen auszugehen.

    Jede Nacht trottete Niagara hinaus in die Dunkelheit, stillte zunächst seinen eigenen Hunger und brachte dann genügend Elchfleisch als Nahrung für seinen Herrn in die Höhle.

    Am Tag, als der Blaue Schnee fiel, war Paul in bester Stimmung. Er saß den ganzen Tag über vor dem Feuer und träumte. Dann häuften sich Schneewehen vor dem Eingang zu seiner Höhle, und er sah draußen den Nebel aus Blauem Schnee. Er hörte das Toben des Windes.

    Er suchte im Schnee vor dem Höhleneingang nach Elchfleisch, fand aber keines. Er begann sich etwas zu sorgen und überlegte, ob Niagara sich im Blizzard verirrt haben könnte.

    Hoch oben im Norden flohen die Elchherden, blind vom Schneetreiben. Hinter ihnen liefen die Braunbären. Sie waren etwas langsamer. Als es dunkler wurde, strengte sich Niagara gewaltig an und hatte die Elche fast eingeholt. Er kam jetzt in eine Gegend, in der die Wälder aufhörten. Trotzdem er sehr scharfe Augen hatte, sah er jetzt nichts mehr. So stieß er schließlich auf den Nordpol, spürte sich plötzlich in die Luft geschleudert, stürzte herab. Eis splitterte und dann versank er in den Tiefen des arktischen Meeres und ertrank.

    Von all dem wusste Paul Bunyan nichts. Am nächsten Morgen schien die Sonne an einem blauen Himmel. Der Schneefall hatte aufgehört, aber es war immer noch eisig kalt. Paul Bunyan band seine Schneeschuhe unter und machte sich auf die Suche nach Niagara.

    Bunyan war so groß, dass er selbst die höchsten Baumwipfel noch überragte. Seine weinrote Jägerkappe hob sich von seinem schwarzen Haar gut ab. Er trug eine Jacke, orangefarben mit purpurnen Punkten, und um den Hals hatte er sich einen gelben Wollschal gebunden. Die Wollsocken waren oben über die Ränder der schwarzen Stiefelschäfte umgeschlagen. So eilte er durch die Wälder dahin. Hoch lag der Schnee und von den Bäumen und Sträuchern sprühte ein mattes Goldlicht.

    Fünf Tage suchte Paul Bunyan nach Niagara – vergebens. Auch traf er kein einziges Stück Wild. Man kann sich vorstellen, was für einen Hunger er danach hatte. Er kehrte in seine Höhle zurück und fand dort gottlob noch einige Bärenschinken.

    Einsam war er und schlaflos wälzte er sich des Nachts auf seinem Lager. Es war dunkel in der Höhle. Nur ab und zu sprangen ein paar Funken aus der Feuerstelle und jagten wie Sternschnuppen durch die Finsternis.

    Plötzlich hörte Paul ein gewaltiges Krachen und ein Splittern, so, als ob Millionen von Baumstämmen zerbrochen wären. Er horchte, und nun war es ihm, als ob er draußen ein klägliches Muhen gehört habe. Er sprang auf, ging zum Eingang zur Höhle und sah im Mondlicht, wie sich eine hohe Welle am Strand der Tonnere-Bay brach. Das Wasser schwappte fast bis zu dem Stein neben dem Eingang der Höhle.

    Paul zog seine Stiefel an, und zwei Schritte brachten ihn zum Ufer. Das Wasser war wochenlang mit einer zehn Meter dicken Eisschicht bedeckt gewesen. Nun war das Eis geborsten, und Paul entdeckte zwischen den Schollen etwas, das wie zwei riesige Elchohren aussah. Er watete ins Wasser, bis er den seltsamen Gegenstand, der eine Meile vom Strand entfernt zwischen dem Eis trieb, erreicht hatte. Er griff nach ihm, furchtlos zog er, hob schwer … ein Kopf kam aus dem Wasser … die Augen waren geschlossen … Schultern, Vorderbeine … Körper … Hinterbeine, endlich der gelockte Schwanz. Es war ein neugeborenes, männliches Elchkalb. Er nahm es auf die Arme, trug es an Land und rief aus:

    „Nom d’nom, pauvre pétite bleue bête." Denn das Kalb hatte ein blaues Fell, geradeso wie die Farbe des Schnees in diesem Winter.

    Paul fühlte eine vorher nie gekannte Regung von Zärtlichkeit in sich aufsteigen. Das Kälbchen schlug erstaunt die Augen auf, als er es streichelte, und sah ihn mit einem weichen, klugen Blick an.

    Das Tier wird hungrig sein, dachte sich Paul, wo bekomme ich jetzt nur Milch her? Er lief wieder in die Wälder hinein, um die Elchherde zu finden, in der das Tier geboren sein musste, aber wie weit er auch suchte, er fand nirgends eine Spur. Da pflückte er Rentiermoos, eilte zurück in die Höhle und kochte dort einen Sud, den er dem Kälbchen einflößte. Dem Tier schien die Nahrung gut zu schmecken, es schmatzte und leckte, und als der Frühling kam, war es groß und stark geworden. Bald wurde die Höhle zu klein, und Paul musste sich daran machen, einen großen Stall zu bauen. Bis er mit dieser Arbeit fertig war, hatte der Ochse wiederum an Größe und Stärke zugenommen und ein noch größerer Stall war nötig.

    In dieser Zeit, da der Blaue Ochse groß und größer wurde, hatte Paul einen Traum, in dem in leuchtenden Lettern die Worte DAS WAHRE AMERIKA erschienen. Als er über dieses Traumgesicht nachdachte, kam ihm der Gedanke, dass er wohl in diese Gegend, die DAS WAHRE AMERIKA hieß, gehen sollte und dass er dort jene Arbeit finden werde, die ihm und seinem Blauen Ochsen aufgetragen war zu erledigen. Er marschierte über das Hügelland an der Grenze zwischen Kanada und den USA.

    Es bedurfte unterwegs aber noch einiger weiterer Träume, bis ihm dabei DIE GROSSE IDEE kam. Wie alle großen Ideen war auch diese höchst einfach. DAS WAHRE AMERIKA war mit Wald bedeckt, und der Wald bestand aus lauter Bäumen. Wenn man einen Baum fällt und zersägt, gibt es ein unbehauenes Stück Holz, das sich zu vielerlei verwenden lässt. Wunderbar, begeisternd!

    DIE GROSSE IDEE inspirierte Paul zu seiner ersten Rede. Noch hatte er nur einen Zuhörer, nämlich den Blauen Ochsen. Aber das sollte sich bald ändern. Wenn man ein Ziel hat, braucht man es nur zu verwirklichen. Und nach der Rede wusste Paul Bunyan, dass es seine Aufgabe war, den ganzen Kontinent mit Holz zu beliefern.

    Paul Bunyan gründete also ein Holzfällercamp, und sein Blauer Ochse, der mächtig stark war, bewährte sich vortrefflich bei der Arbeit, die abgehauenen Stämme, die mit eisernen Ketten zu großen Bündeln zusammengeschnürt wurden, hinunter zu den Flüssen zu schleifen. Bald war Paul der angesehenste Mann unter allen Holzfällern und Bau­unternehmern in Kanada und in den Vereinigten Staaten. Er hielt immer alle Liefertermine ein, weil er inzwischen die Massenproduktion von Brettern und Balken erfunden hatte.

    Das Holzfällen ging den Männern in Paul Bunyans Lager schließlich so rasch von der Hand, dass die Buchhaltung nicht nachkam. Zu dieser Zeit gab es noch keine Zahlen von der Art, wie wir sie heute kennen, und von doppelter Buchhaltung hatte auch noch niemand in der Neuen Welt etwas gehört. Also musste Paul alle Rechnungen im Kopf ausführen oder bei schwierigen Aufgaben die Finger zu Hilfe nehmen. Und was gibt es in einem Holzfällerlager nicht alles zu rechnen! Acht Tage und siebenundvierzig Stunden brachte Paul allein mit der Lohnliste zu; von den Kommissionslisten, den Einschlaglisten, den Heu- und Futterlisten gar nicht zu reden!

    Vom vielen Zählen bekam er Blasen an den Fingern, aber er zählte weiter. Und als er an den Fingern keine Blasen mehr bekommen konnte, bildeten sich vom Zählen Blasen am Handgelenk und auf dem Arm, und schließlich brauchte Paul einfach einen Erholungsurlaub, wenn er nicht vor lauter Blasen verbrennen wollte. Also fuhr er zum Nordpol. Dort stand immer noch die Tagesstreckmaschine, die er einmal erfunden hatte, als er in der Arktis Holz schlug. (Später verkaufte er sie an die Eskimos, die guten Nutzen aus ihr zogen.)

    Mit der Tagesstreckmaschine machte er sich einen ganz langen Tag und dachte über seine Buchhaltungsprobleme nach. Es wollte und wollte ihm aber keine erleuchtende Idee kommen, was nicht erstaunlich ist, denn am Nordpol ist es auch an langen Tagen nicht sehr hell. So kehrte er wieder um und durchstreifte die Wälder an der Hudson Bay.

    Müde von der langen Wanderung setzte er sich auf einen Berg, und als er dort grübelnd hockte, kam ein Bursche des Weges, der fast so groß war wie Paul Bunyan selbst. Er hatte eine hohe Stirn, und um sie auch recht zur Geltung kommen zu lassen, ging er ohne Mütze oder Hut. Das galt damals als Zeichen großer Gelehrsamkeit. Was Paul an der Kleidung dieses Menschen gleich zu Anfang am meisten verwunderte, war der Kragen. Er war hoch und steif und blütenweiß und sah sehr unbequem aus. Später waren an jedem Sonntag neununddreißig Männer in Pauls Lager allein damit beschäftigt, diese Kragen zu waschen!

    Paul bot dem Fremden von seinem Kautabak an, und dann nannten beide ihre Namen. Der Fremde hieß Jonathan. Paul verstand diesen seltsamen Namen nicht gleich. Und was tat der Fremde? Er holte einen riesigen Bleistift hervor, den ersten, den man in den großen Wäldern je gesehen hat, schrieb seinen Namen auf ein Stück Papier und überreichte Paul diese Visitenkarte.

    „Wenn du schreiben kannst, kannst du vielleicht auch rechnen?", fragte Paul vorsichtig.

    „Nichts leichter als das", sagte Jonathan verächtlich.

    „Könntest du mir dann schnell einmal sagen, wie viel Festmeter Holz zwischen hier und der Hudson Bay stehen?"

    „Nichts leichter als das", antwortete Jonathan.

    Seine Augen bekamen einen etwas glasigen Ausdruck, und Paul meinte hinter seiner hohen Stirn etwas rattern zu hören, aber ehe er noch ganz sicher war, ob da wirklich etwas ratterte, sagte Jonathan: „Es sind genau 43.000.432 Festmeter."

    Paul staunte.

    „Wie hast du das nur so schnell herausbekommen?", wollte er wissen.

    „Höhere Mathematik, mein Lieber. Wozu ist man auf die hohe Schule in Stockholm geschickt worden, wenn man solche Kleinigkeiten nicht im Handumdrehen herausbekommt."

    „Nun gut, sagte Bunyan, „im Kopfrechnen bin ich auch nicht schlecht, aber ich träume immer davon, Zahlen zu erfinden, solche die man aufschreibt und die nicht wieder verlöschen.

    „Sind schon erfunden, sagte Jonathan, „von mir.

    Wieder holte er seinen Bleistift hervor und schrieb die lange Zahl, die er eben genannt hatte, neben seinen Namen auf die Visiten­karte.

    „Du bist mein Mann", sagte Bunyan und verpflichtete Jonny Ink­slinger, der damals noch Jonathan hieß, als Buchhalter für sein Holz­fällercamp.

    Der erste Vorarbeiter im Lager wurde Gun Gunderson, allgemein der „Schuss genannt, weil er so leicht explodierte. Auf ihn geht das Highball-System zurück, das immer noch in einigen Holzfällercamps praktiziert wird. Auch das hartgesottene Vokabular in den Lagern führte er ein. Eine seiner bevorzugten Redensarten lautete: „Besser du steckst den Stiel fest ins Eisen, oder ich drück ihn dir in die Stirn. Oder: „Nun mal los, du Fliegendreck von einem Scherenschleifer, oder ich schleif ein gewisses Teil an dir platt!"

    Er verlor an Ansehen, als die Holzfäller seinen Sprachgebrauch nachahmten. Sein Sturz ereignete sich im zweiten Winter am Tapole River im Ochsenfrosch-Land. Das war der Winter des Großen Windes, der vier Monate so stark blies, dass Gunshot Gunderson immer aus voller Kehle brüllen musste, damit die anderen seine Kommandos verstanden. Seine Stimme kippte, und damit war es mit seiner Stellung vorbei. Er wurde wieder ein gewöhnlicher Logger, und sein Nachfolger war Chris Crosshaulsen.

    Dieser fleißige Mann war ein guter und beliebter Boss, aber er hatte auch eine fatale Schwäche. Er hatte eine solche Vorliebe für Floßfahrten, dass er mit dem Floß nie am Zielort stoppte, vielmehr die Stämme immer vier Meilen weiter sausen ließ und dann mit ihnen zurückfuhr. Das Flößen stromaufwärts war schreckliche Mühsal. Jeder Mann konnte immer nur einen Stamm schieben und musste aufpassen, dass er dann nicht in die Strömung abwärts geriet. Also fand man, was Chris soviel Spaß machte, sei reine Kraftverschwendung, und Paul setzte ihn ab.

    Der nächste Chef war Ole Olsen. Er war so beliebt, dass zahllose Holzfäller sich nach ihm nannten, aber letztlich scheiterte er als Boss an seiner Gutmütigkeit. Andere Bosse waren Lars Larsen, Swan Swanson, Pete

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