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Salomos Söhne: Roman
Salomos Söhne: Roman
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eBook270 Seiten4 Stunden

Salomos Söhne: Roman

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Über dieses E-Book

Der Roman führt uns ins Kamerun der 1980er Jahre - in jene Zeit also, in der die große Wirtschaftskrise vielen die ökonomische Grundlage entzog und insbesondere die prekäre Situation der auf der Vielehe basierenden Großfamilien offenlegte. Ada, das älteste Kind aus einer Vielehe in Mbaangok, dem Dorf der Yemezen, erzählt von dem Zusammenbruch ihrer Familie, von dem entscheidenden Wendepunkt des Jahres 1989, in dem sie nacheinander Urgroßvater, Vater, Großvater verliert, und von dem zwei Jahre später eintretenden Verlust ihrer Mutter. Ada verfolgen diese bösen Erinnerungen bis in die Gegenwart, sie erlebt sie in ihrer eigenen Ehe als ein unvergessliches Trauma. Von ihrem Ehemann bekommt sie viel Trost und Verständnis, doch weiß sie, dass auch er, den sie als liebenden Gatten und fürsorglichen Vater ihrer zwei Töchter erlebt, jederzeit dem Weg König Salomos folgen kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberAthena Verlag
Erscheinungsdatum8. Mai 2012
ISBN9783898968225
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    Buchvorschau

    Salomos Söhne - Philomène Atyame

    Philomène Atyame

    Salomos Söhne

    Roman

    ATHENA

    Literaturen und Kulturen Afrikas

    Band 8

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

    Daten sind im Internet über abrufbar.

    1. Auflage 2012

    Copyright © 2012 by ATHENA-Verlag,

    Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

    www.athena-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

    ISBN (Print) 978-3-89896-303-9

    ISBN (ePUB) 978-3-89896-822-5

    Schade für alle, die aus Adas Geschichte keine Lehre gezogen haben! Schade für sie alle, Salomos Söhne, die den Fußpfad des alten Königs weiter gehen! Sie verehren ihn weiter, beneiden ihn um seine tausend Frauen, dabei sagen sie die Eitelkeit ihres eigenen Lebens voraus. Aber eins vergessen sie: Es ist nicht alles eitel!

    Meinen Töchtern

    Marcelle und Fatou-Myriam

    Fernes Tcholliré

    Gott allein weiß, warum das Blut unserer Eltern unsere weichen Herzen so stark bewegt, warum wir, die vernachlässigten Töchter oft diejenigen sind, die sich an unsere Eltern so eng gebunden fühlen! Jahrelang flossen aus meinen Augen bittere Tränen, bis ich nicht mehr wusste, warum ich so viel unter der Schuld am Tod meines Vaters zu leiden hatte! 1995 brachte der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen!

    Es war gegen Ende jenes Jahres. Seit Papas Tod in Tcholliré waren inzwischen sechs Jahre vergangen. Aber die Vorstellung, dass er – wie meine sehr sensible Tante Mintya es immer wieder betonte – »seinen Kindern zuliebe einen Mord beging, den er gar nicht begehen wollte«, quälte weiter mein sehr waches Gewissen. Ich war einem Zusammenbruch nah, als ich entschied, nach Tcholliré zu fahren, zu diesem geheimnisvollen Ort, an dem mein Vater wie ein Heimatloser aus dem Leben schied. Ich wollte Papa um Verzeihung bitten, ihm alles beichten, was ich, seine älteste Tochter zu seinen Lebzeiten falsch gemacht hatte! Oh Gott, wer hatte eigentlich etwas falsch gemacht? Ich oder Papa? Den armen Geist des vernachlässigten Geschöpfes, das ich damals war, verwirrte diese Frage jedes Mal. Aber heute, heute weiß ich, dass ich mir mit dieser Beichtabsicht Unrecht tat!

    Ich werde nie die aufregendsten Augenblicke jenes Reisetages vergessen. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich mich auf den Weg in den Norden unseres Landes. Es war kurz vor achtzehn Uhr. Ich hatte schon die Fahrtstrecke Ebolowo’o – Yaoundé hinter mich gebracht, stand voller Hoffnung am Bahnhof Yaoundé und betrachtete die noch stehenden Waggons des Nachtzuges, der uns nach Ngaoundéré fahren sollte. Er hatte schon dreißig Minuten Verspätung, als die Lokomotive mit einem Hupen die Abfahrt meldete. Mein sonst langsam klopfendes Herz begann schnell zu schlagen, was ich zunächst als normale innere Aufregung empfand. Doch als die Lokomotive zum zweiten Mal hupte, kam mir meine Reiseabsicht so sinnlos vor, dass mich das törichte Gefühl ergriff, ich sei nichts anderes als eine Schlafwandlerin.

    Es war wie in einem Alptraum! Das letzte Hupen unseres Zuges hörte sich wie das drohende Gebrüll eines zornigen Elefanten an, dieser Zug, den ich mir so sehr herbeigewünscht hatte! »Endlich!« »Endlich!«, riefen die ungeduldigen Reisenden, die sogleich zu ihren Waggons liefen. Ich aber zögerte, fragte mich, was ich so spät und allein auf einem Bahnhof in der Hauptstadt, weit weg vom Süden zu suchen hatte, während meine Stiefbrüder, für die mein Vater wirklich gestorben war, sich im Dorf auf die kommenden Schlafstunden in ihren Bambusbetten freuten. Noch schwerer wurden meine Schritte, als mir erneut die bittere Wahrheit durch den Kopf schoss, dass ich von Papas 29 Kindern das allererste war, das er mit einer seelisch verkümmernden Mutter im Stich gelassen hatte! »Mein Gott warum? Warum muss ausgerechnet ich, das wirklich verlassene Kind, auch jetzt das erste sein, das Papa an seinem Grab alles beichtet?« Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. Und kopfschüttelnd stieg ich in einen Zug, dem von vorneherein ein Stein im Weg lag.

    Vom Süden in den Norden Kameruns ist der Weg sehr lang, insgesamt 1500 Kilometer, und nicht ohne Gefahren. Man fährt 700 Bahnkilometer die ganze Nacht durch. Mit Buschtaxis kann man 500 Kilometer weiter nach Norden fahren. Danach – bis zur Nordgrenze – findet man schwierig Fahrgelegenheiten. Wer wie ich von Ebolowo’o kommt, muss fast das ganze Land durchqueren. Die Nachtfahrt mit dem Zug von Yaoundé nach Ngaoundéré ist die anstrengendste. Entgleisungen und Kurzschlüsse kommen oft vor, eine Gelegenheit für Diebe, die Reisenden zu überfallen. Die anschließenden Fahrten mit Buschtaxis sind auch nicht ohne Risiken. Bei einer Panne kommen manchmal kriminelle Banden von überall, les coupeurs de routes. Oft drohen sie den Reisenden mit Waffen, wenn sie sich weigern, ihnen Geld zu geben.

    »L’argent!«, flüsterte mir ein Mann mit einem Messer in der Hand ins Ohr. Es war ein stämmiger Mann fast im mittleren Alter, mit dem ich mich bisher in gelassener Stimmung unterhalten hatte. Er war in Nanga-Eboko eingestiegen und hatte sich gleich zu mir gesetzt. Ich saß in einem dieser Züge, die auf unserer schmalen Schienenlinie auffällig langsam fahren. Ich hatte noch den langen Weg nach Tcholliré über Ngaoundéré vor mir, den Weg bis ins Gefängnis, hoffte, man würde mir dort sagen, wo man die Gefangenen beerdigt hatte, die 1989 im Gefängnis verhungert waren. Neben ihren Leichen soll die Leiche meines Vaters gelegen haben. Es war einer der Gefängniswärter Tchollirés, der meinem Großvater Otam dies über den Vermittlungsdienst von Ebolowo’o mitteilte. Er stammte aus dem südlichen Dorfkreis Ma’an und soll Papa in Tcholliré kennengelernt haben.

    Wir waren in der Nähe von Belabo, blieben dort wegen eines großen Steins stecken, den eine Räuberbande auf die Schienen niedergelegt hatte. Mit einer zitternden Hand zog ich mein Portemonnaie aus der Handtasche, hielt es noch unentschieden in der Hand, als der Mann es wegriss. Er blieb weiter sitzen, aber nur kurz. Plötzlich stand er auf und ging. Wohin? Das weiß ich bis heute nicht!

    Ich saß nun allein in dem Waggon, hatte kein Geld mehr, getraute mich auch nicht, in diesem unheimlichen Zug jemanden anzusprechen, weil ich das Gefühl hatte, darin säßen viele Diebe. Aber es war selbstmörderisch, weiter in diesem Waggon allein und schweigend zu sitzen. Auch ich stand auf, wollte mich aber gleich wieder setzen, als ich merkte, dass der nächste vordere und hintere Waggon kein Licht hatten. Doch ich fasste Mut, ging zunächst langsam nach vorne, lief dann schnell von einem Waggon zum anderen, »Oh voleur! Oh voleur!« rufend, bis ich dort hielt, wo ich viele Leute in einem beleuchteten Waggon fand.

    Ich stand nun im dritten Waggon, keuchte vor Frauen und Kindern, die auffällig ähnlich aussahen. Gleich vor mir saß eine alte Frau, drei kleine Kinder riefen sie »Na«. Rechts von dieser alten Frau saß eine junge Frau, die Kinder riefen sie »Mma«, wahrscheinlich die Tochter der alten Frau.

    »Sag mal! Was war das für einer?«, fragte die junge Frau.

    »So ein Kleiner«, antwortete ich.

    »Braun? Dunkelbraun?«

    »Ja. Habt ihr ihn gesehen?«, fragte ich hoffnungsvoll.

    »Eben, eben ist so einer ausgestiegen. Das war schon merkwürdig. Da draußen ist nur Wald und Dunkelheit, und pinkeln kann man hier drin«, bemerkte sie.

    »Den finde ich nicht mehr. Er ist mit meinem Portemonnaie weg«, sagte ich verzweifelt.

    »Das gibt’s nicht! Warum hast du nicht sofort laut geschrien?«, fragte mich die alte Frau.

    »Er hatte ein Messer. Er wollte mich töten. Wir waren ganz hinten.«

    »Warst du allein mit ihm in dem Waggon?«, forschte die Alte.

    Ich wollte »nein« sagen, weil ich schon ahnte, worauf sie mit ihrer Frage hinaus wollte. Aber ich kann nicht lügen.

    »Ja«, erwiderte ich.

    »Warum lasst ihr jungen Mädchen euch immer gleich auf fremde Männer ein? Das ist leichtsinnig! Zu leichtsinnig! Der ist schon weg! Und du? Was machst du nun?«

    Ich schwieg, aber nicht, weil ich nichts mehr zu sagen hatte, sondern weil es einfach keinen Sinn hat, manchen Alten zu widersprechen. Für sie war ich nichts anderes als eine Hure, die ein Unbekannter beklaut hat. Alles andere, was ich ihr erzählt hätte, hätte sie bloß als eine Lüge empfunden.

    »A sya Sita, A sya Sita«, bedauerte die junge Frau. »War es viel Geld?«, fragte sie.

    »30 000«, antwortete ich.

    »Gott! So viel?«, staunte die Alte.

    »Armes Mädchen! Warte auf die Zugbegleiter! Sie sind da vorne, bei den Gleisarbeiten, dort, wo du Taschenlampen siehst. Sprich den ersten an, der zurückkommt«, riet mir die junge Frau.

    »Oh nein, lieber nicht. Lieber nicht.«

    »Wieso nicht?«

    »Ich habe kein Ticket mehr. Es war in dem Portemonnaie. Das darf keiner von ihnen erfahren. Sonst machen sie Probleme!«

    »Wieso? Man hat es dir gestohlen. Das müssen sie sogar erfahren!« bekräftigte sie.

    »Nein nein nein … Oh Gott, was soll ich tun? Ich muss zurückfahren …, ich fahre nach Yaoundé zurück. Ich steige in Belabo aus. Ich werde trampen. Ich habe keine Wahl …«, entschied ich in diesem Augenblick großer Verzweiflung.

    »Oooh! Oooh! Das finde ich noch gefährlicher! Es ist bald Mitternacht!«

    »Lass sie tun, was sie will. Es gibt Mädchen, die Abenteuer mögen«, schloss die Alte.

    Ich setzte mich links von dieser anscheinend sittenstrengen alten Frau und schaute durch das Fenster. Ich sah nichts als Dunkelheit. Die Zugbegleiter waren schon im Zug. Ich fühlte, wie Trauer tief in meinem schnell klopfenden Herzen saß. Ich wollte laut, ganz laut weinen, aber ich hatte Angst vor den Zugbegleitern. Sie wären gleich zu mir gekommen und hätten mich gefragt, warum ich weine. Gerade das wollte ich nicht. Ich versuchte, mich zu beherrschen. Als der Zugfahrer mit einem Hupen das Ende der Gleisarbeiten meldete, traten mir Tränen in die Augen. »Ouf! Ouf!«, rief die junge Frau erleichtert. Ich war völlig verzweifelt.

    Die nächste Haltestelle war Belabo. Ich stieg als Erste aus, besorgt und erleichtert zugleich. Ich war den Kontrolleuren aus dem Weg, fühlte mich aber in der fortgeschrittenen Nacht jedem Mann ausgesetzt. Am Bahnhof sah ich nur Männer. Ich prüfte ihre Gesichter, ging unsicher zu dem nächsten, um ihn zu fragen, ob man in dieser Stadt um diese Zeit Fahrgelegenheiten nach Yaoundé findet und ob man überhaupt hier trampt. Es war verrückt, was ich da vorhatte. Aber die Engel Gottes sind überall in unseren Städten. In diesem Augenblick traf ich wie im Traum meinen früheren Lehrer aus Elat. Überrascht sah er mich an und fragte mich, was ich hier zu suchen hatte. Mit Tränen in den Augen erzählte ich ihm von dem Diebstahl. »Oooh! Das tut mir aber leid! Das tut mir wirklich leid!«, bedauerte er. »Aber sei froh, dass du noch am Leben bist! Er hätte dich auch töten können! In diesen Zug steigen unterwegs viele Diebe ein. Nie wieder allein mit einem fremden Mann in einem Waggon sitzen! Was nun? Ich habe nicht viel Geld. Gut, ich schlage vor, dass du sofort nach Yaoundé zurückfährst, sonst findest du keine Gelegenheit mehr. Es ist fast Mitternacht«, sagte er, während er Geld aus seiner Hosentasche holte. Zehntausend Fcfa. »Träume ich?«, fragte ich mich. Nein, es war kein Traum, es war wirklich Geld, Scheine, zehntausend Fcfa. Welch eine Erleichterung! Ich dankte ihm, diesem guten Engel Gottes, den ich nie vergessen werde. Ich dankte als nächstem Gott, der für diese zufällige Begegnung gesorgt hatte. Als ich meinen Retter in den Zug steigen sah, verlangte es mich, meine Reise fortzusetzen. Er wollte seinen Bruder in Maroua besuchen. Mein Weg war nicht so weit, Tcholliré liegt zwischen Ngaoundéré und Maroua. Ich hatte leider nicht genügend Geld. Mit zehntausend Fcfa wäre ich nur hin-, aber nicht zurückgekommen. Außerdem hatte ich noch Angst vor diesem Zug, konnte noch dieses scharfe Messer auf mich gerichtet sehen, nur weil ich mit meinem verstorbenen Vater sprechen wollte. Ich hatte keine Wahl, musste zurückfahren. Zum Glück genügten die zehntausend Fcfa für die Fahrstrecke Belabo – Ebolowo’o über Yaoundé.

    Ich fand gleich hinter dem Ausgang ein Taxi, das mich in die Station der Buschtaxis ins Stadtzentrum brachte. Dort fand ich noch eine Fahrgelegenheit nach Yaoundé, wahrscheinlich die letzte.

    Es war ein kleiner weißer Bus. In diesem Bus sah ich keine Frau. Mir kam dieser Transportwagen wie mein Grab vor. »Muss ich wirklich sterben, nur weil ich mit meinem toten Vater sprechen wollte?«, fragte ich mich wieder. Ich stieg in den Bus ein, bat Gott um einen neuen Schutzengel und kehrte in derselben Nacht nach Yaoundé zurück.

    Es dämmerte schon, als wir in Yaoundé ankamen. Dort stieg ich in das erste Buschtaxi ein, das sogleich nach Ebolowo’o abfuhr.

    Was nun? Ich wusste es nicht recht. Die Zeit sollte wieder entscheiden. Tage, Nächte, Wochen, Monate und Jahre vergingen, inzwischen sind es neun Jahre, ja, seit insgesamt fünfzehn Jahren belastet mich das Gefühl, am Tod meines Vaters schuld zu sein.

    Ich musste etwas tun, um mich endlich von diesen Schuldgefühlen zu befreien, und ich wusste, dass nicht meine Verwandten, die (um sich die Hände zu waschen) mit dem Finger auf uns, Papas Kinder zeigten, mich davon befreien werden, sondern ich allein. Daher entschied ich, etwas zu tun, das kein Kind gern tut. Kinder reden ungern über die Versäumnisse ihrer verstorbenen Eltern. Nicht zu Unrecht. Es gibt nichts anderes auf dieser Welt, was ein Kind so schwermütig machen kann wie die Erinnerung an die Fehler seiner verstorbenen Eltern. Aber wenn ich weiter schweige, werde ich nie wieder reden können, dann werde ich wie meine Mutter schweigen. Gerade das will ich nicht, weil ich schon Kinder habe, die mich reden hören wollen.

    Aber ich fürchte, dass das Schweigen mächtiger als der Mensch ist, dass es sich im Menschen durchsetzt, wenn er völlig erschöpft ist. Ich muss mich schon jetzt so sehr aufraffen, um etwas zu sagen! Aber bevor ich endgültig schweige, werde ich, so weit ich es noch kann, alles sagen, was mich im Leben so bedrückt hat. Ich werde alles sagen, was ich über meine Familie weiß und was ich, Papas ältestes Kind, in dieser Familie empfunden habe.

    Es war einmal

    Es ist leider kein Märchen, sondern die Wahrheit, eine trostlose Wahrheit, die mich immer wieder so fürchterlich quält. Wüsste ich nur, wie lange ich mit diesen quälenden Schuldgefühlen noch ringen muss! Ich fürchte bis zum Tod! Mein schon sehr schwermütiges Gesicht bekommt jedes Mal neue Falten des seelischen Elends, wenn mich plötzlich die Schuld an Papas Tod zu quälen beginnt. Gerade das verdiene ich nicht, weil es auf dieser Welt keinen anderen Menschen gibt, den ich mir so herbeigesehnt habe wie Papa! Jetzt gebe ich meinem Urgroßvater Recht, Vamba Obeme, den ich eines Tages sagen hörte, dass das Gefühl der Schuld erst recht jene Lebenden quält, die keinen Abschied von ihrem Toten genommen haben.

    Es sind nicht viele auf dieser Erde, jene Menschen, die den Leichnam ihrer Eltern nicht gesehen haben. Ich zähle heute zu ihnen, zu diesen von Schuldgefühlen ständig Gequälten, die bei der Grablegung ihrer Liebsten wider Willen nicht dabei waren. Aber vielleicht war es die Vorschrift einer unbekannten Allmacht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Papa im Sinne unserer Bräuche ein Grab in Mbaangok bekommen hätte, wenn er nicht im Gefängnis in Tcholliré gestorben wäre. Papa wäre auch nicht in diesem Gefängnis gestorben, wenn er keinen Mord begangen hätte. Die andere Wahrheit ist, dass Papa diesen Mord beging, weil er – wie er selbst vor Gericht sagte – Geld für seine Kinder brauchte. Papa wollte vor seinem Tod den Schulerfolg seiner auserwählten Kinder sicherstellen, seiner sechs auserwählten Jungen. Leider entspricht der Lebenslauf nicht immer den Wünschen der Menschen. Diese Lehre habe ich aus Papas Leben gezogen.

    Er hatte sich nie neunundzwanzig Kinder gewünscht, aber wir wurden tatsächlich so viele, neunundzwanzig Kinder, weil Papa viele Jungen haben wollte, um im Sinne unserer Bräuche ein würdiger und glücklicher Vater zu sein. Oh! Papa wusste nicht, dass viele unserer Bräuche würdelos sind, er wusste auch nicht, dass das Glück ein verlockendes Ziel ist, wonach jeder Mensch sein ganzes Leben lang strebt und nur ab und zu kurze Augenblicke davon empfindet, die aber immer wieder rasch wie ein Blitz vergehen.

    Es gibt gewisse Gründe, die die Männer Mbaangoks zwingen, viele Kinder zu haben: Der erste, auf ihn hatte aber Papa nie Wert gelegt, ist jener Brauch, der die Mädchen Glück nennt, solange sie ihre Eltern mit Brautpreisen bereichern; der zweite ist auch ein Brauch, der aber anders als der erste die Jungen als einzige Erben und deshalb als einziges Glück der Familie nennt, so dass eine Frau, die zuerst Mädchen gebärt, solange gebären muss, bis sie Jungen bekommt; der dritte ist der bekannteste, der Brauch der Vielehe, der das Glück eines Mannes an der Zahl seiner Frauen misst; der vierte ist kein Brauch, aber immerhin eine Gewohnheit, die den zeugungsunfähigen Männern Mbaangoks eigen ist, ich meine ihre Neigung, alleinstehende Frauen mit Kindern zu heiraten, auf der Suche nach dem Vaterglück, die leider immer am Ende vergeblich ist, weil das Glück selbst so vergänglich ist! Es gibt selbstverständlich andere Gründe, aber was Papa betrifft, sind vor allem der zweite, aber auch der dritte und vielleicht auch ein mir noch unbekannter Grund die Ursachen seines Todes. Wie gesagt, ganz auszuschließen ist der erste Grund, ich betone es noch einmal, damit niemand glaubt, Papa hätte mit seinen Töchtern jemals die Absicht gehabt, sie an Männer zu verkaufen, nein, zumindest in dieser Sache ist mein Vater ein Vorbild geblieben.

    Er brauchte unseretwegen viel Geld und jeden Tag mehr, bis er eines Tages entschied, seiner letzten Hoffnung zuliebe – Papas letzte Hoffnung waren seine sechs Jungen – bei einem Verwandten einzubrechen, im Glauben, dieser Verwandte würde ihn niemals bei der Polizei anzeigen. Mitte des Jahres 1989 verurteilte die Justiz meinen Vater wegen eines Diebstahls und eines Mordes zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Nur wenige Monate nach seiner Überführung von Kondengui nach Tcholliré starb Papa. Es war der Hunger, der meinen Vater im Gefängnis umbrachte.

    Schlimm ist, dass bis heute keiner weiß, wo genau Papa in Tcholliré ruht. Außer mir hat keiner aus der Familie versucht, es herauszufinden. Sie wollen es gar nicht, wollen es nicht einmal versuchen, weil – das meinen sie – wir Kinder selbst damit fertig werden sollen, vor allem ich, weil ich Papas ältestes Kind bin… Sie reden sich heraus, wollen nicht zugeben, dass sie es versäumt haben, einen Stammesverwandten im Dorf zu begraben. Sie überließen Papas Schicksal ganz dem Staat .

    Aber sie könnten ihr Versäumnis wiedergutmachen, könnten sich mindestens jetzt auf die Suche nach Papas Grab machen, anstatt den Pontius Pilatus zu spielen, anstatt sich die Hände zu waschen, sie, die weiter über die tödlichen Bräuche Mbaangoks schweigen, obwohl sie genau wissen, dass es in erster Linie diese Bräuche sind, die Papa umgebracht haben.

    Trostlos gute alte Zeiten

    Es gibt immer noch viele unverständliche Dinge auf dieser Welt. Zu diesen Dingen zählen jene Unglücke, die sich meistens plötzlich ereignen und den wenigen guten Männern auf dieser Erde widerfahren. Das größte dieser Unglücke ist der Tod ihrer Frauen nach einer schwierigen Geburt. So starben die Frauen meiner Vorfahren. Ich soll an diese Frauen erinnern, um die Missetaten meiner Eltern nicht ohne ihre Ursachen bloßzulegen, um überhaupt das Rätsel zu klären, warum Übeltaten in unseren Bräuchen noch so tief verwurzelt sind.

    Mein Urgroßvater Obeme be Afane, den wir Vamba nannten, war eine Ausnahme: er hatte nur eine Frau.

    Sie starb genau sieben Jahrzehnte vor dem Todesjahr meines Vaters. Es war im Jahre 1919. Abiaye Abe, der wir Urenkel heute mit dem Würdentitel der Ahninen »Nane« gedenken, war erst dreißig, hatte kaum gelebt. Ihr Name erinnert an die Leiden unserer Ahnen. Dieser Name machte alle, die ihn zum ersten Mal hörten, neugierig, versammelte an vielen Orten im Süden Kameruns immer und immer wieder Kinder, die etwas über die Geschichte dieser Ahnin wissen wollten. Da war mein Urgroßvater, ein schweigsamer Witwer, in seinem Geburtsort Mbaangok sehr gefragt. Aber nach dem Tod seiner geliebten Frau wollte er mit niemandem mehr sprechen, nicht einmal mit uns, seinen Urenkeln, die er über alles liebte.

    Er reiste oft zwischen Mbaangok und Ebolowo’o in Begleitung meiner Mutter, um, wie ich später erfuhr, meine Stiefgeschwister zu besuchen, aber auch wegen seiner Augen und seines Rückens. Er hatte von den Feldarbeiten starke Rückenschmerzen und wegen seines Alters schwache Augen. Es waren die Ärzte von Enonga, einem Stadtteil Ebolowo’os, die ihn behandelten. Sie hatten damals einen guten Ruf und waren sehr bekannt für die Behandlung von altersbedingten Erkrankungen.

    An einem Abend in Ebolowo’o, in dem bekannten Stadtteil Elat (Vamba Obeme und meine Mutter waren gerade vom Krankenhaus zurückgekehrt), versammelte mein Ahne, der kaum noch sehen konnte, seine Urenkel, meine Stiefgeschwister in einem der geräumigen Häuser unseres Vaters in diesem Stadtteil. Achtundzwanzig waren dabei, nur ich fehlte. Ich blieb in Mbaangok, wie meine Mutter es mir vorschrieb, genoss zuhause die Besuche von Opa Otam, meinem Großvater, der nur einige Schritte von uns entfernt wohnte und mir fast jeden Abend alte Weisheiten, Märchen, Geschichten über gute und schlechte

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