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Abengs Entscheidung: Eine schwarz-weisse Liebe in Kamerun
Abengs Entscheidung: Eine schwarz-weisse Liebe in Kamerun
Abengs Entscheidung: Eine schwarz-weisse Liebe in Kamerun
eBook297 Seiten4 Stunden

Abengs Entscheidung: Eine schwarz-weisse Liebe in Kamerun

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Über dieses E-Book

"... bis jetzt sind in der afrikanischen Literatur wenige Romane erschienen und aus der Sicht einer Afrikanerin geschrieben, in der die Frau weder eine Prostituierte noch eine bezahlte Gespielin ist. Der Voyeur kommt bei diesem Roman nicht auf seine Kosten. Vielmehr zeigt die Autorin nüchtern die Schwierigkeiten, mit denen binationale Paare konfrontiert werden." Dr. Pierrette Herzberger-Fofana
SpracheDeutsch
HerausgeberAthena Verlag
Erscheinungsdatum4. Juni 2012
ISBN9783898968249
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    Buchvorschau

    Abengs Entscheidung - Philomène Atyame

    Philomène Atyame

    Abengs Entscheidung

    Eine schwarz-weiße Liebe in Kamerun

    ATHENA

    Literaturen und Kulturen Afrikas

    Band 3

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

    Daten sind im Internet über abrufbar.

    1. Auflage 2012

    Copyright © 2012 by ATHENA-Verlag,

    Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

    www.athena-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

    ISBN (Print) 978-3-89896-114-1

    ISBN (ePUB) 978-3-89896-824-9

    Für meinen Neffen Jean Marcel

    Abeng

    »Die schwarze Venus? Frag mich nicht! Jedenfalls bist du schöner als sie«, scherzte Manfred.

    »Geschmacksache«, sagte Abeng lachend.

    Sie standen dicht am Fenster ihres neuen Hauses und schauten nun belustigt in den Himmel. Ein Schwarm schwarz-weißer Vögel beflog das blaue Gewölbe. Der Himmel hing über dem schwarzen Erdteil. Auf dem Hinterhof des Hauses spielten zwei hellbraune Kinder neben alten Mauerruinen, neben Stein und Sand. Ab und zu beobachteten Abeng und Manfred ihre Kinder, sahen Stein und Sand, sahen, wie sie einst über Stock und Stein liefen: sie erinnerten sich an die Quidproquos.

    Wer Reisen zwischen Afrika und Europa gemacht hat, kennt zweifellos die Quidproquos. Wer aber nur den eigenen Erdteil kennt und sich nun ein Herz faßt, um diese und ähnliche Reisen zu machen, sollte vorher diese Geschichte lesen.

    Das Kind Abeng hatte eine ungewöhnliche Kindheit, man könnte sagen, es hat keine Kindheit gehabt. Es wußte einfach zu viel, um lange ein Kind zu bleiben. In ihren frühen Lebensjahren erfuhr Abeng von einer verhängnisvollen Geschichte, von einer Geburt, die wie ›ein schlechter Stein‹ auf ihrer Verwandtschaft lastete. Zur Welt kam ›keine schlechte Frucht‹, aber ›die Frucht‹ kam ›von einer grausamen Liebe‹.

    Es war Akono Assam, Abengs Großvater, der ihr die verhängnisvolle Geschichte verriet. Es fiel seiner Enkelin schwer, diese wahre Geschichte von den alten Märchen zu trennen, die ihre Großmutter ihr oft am Abend am Küchenfeuer erzählte.

    Dann wurde das kleine Mädchen neugierig, forsch. ›Ein schlechter Stein, die Frucht von einer grausamen Liebe, was meint Opa damit‹, fragte sie immer wieder ihre Verwandten, die älter als sie waren. ›Frag ihn selber‹, war die Antwort, die Abeng immer bekam. Akono Assam aber schwieg, er wollte nicht weiter in seinen alten schlechten Erinnerungen wühlen. Auch war Akono Assam ein schweigsamer Mann. Nur manchmal, wenn er sich berufen fühlte, seinen Nachwuchs aufzuklären, redete er gern. Aber dann sprach er wie seine Ahnen, er verwendete alte Sprüche, Sprichwörter. Er brachte sie seinem Nachwuchs bei, wollte, daß seine Nachkommen die Sprache der Ahnen lernten und später, wenn sie selber Nachwuchs hatten, an ihn weitergaben. Nur: Abeng verstand die Sprache der Ahnen nicht. Nun sorgten die Jahre dafür, daß Abeng manches zu hören bekam, was den Nebel um die grausame Liebe lichtete.

    Manchmal erlebt man ungewöhnliche Tage und Nächte. Dann fragt man sich, ob solche Tage und Nächte Zeichen für die nächste Enthüllung sind, die Enthüllung eines lange verborgen gehaltenen Geheimnisses. Abeng sah Zeichen, sie sah Tag und Nacht zwei Elstern auf dem Dach ihres Elternhauses, schwarz-weiße Vögel, bis die neuen Nachbarn kamen, Messina und Trousson, die schwarz-weißen Vögel. Sie verkündeten eine neue Zeit: eine sonnige und dämmerige.

    Eine Woche nach dem Umzug lernte Abeng die beiden kennen, in der Nachbarschaft. Es waren die Stimmen der neuen Nachbarn, die Abeng neugierig machten. Messina und Trousson waren zweisprachig. Sie sprach meist Französisch und er Englisch, um die Qual, die sie mit dem Schulenglischen und er mit dem Schulfranzösischen hatten, so lange wie möglich fernzuhalten. Ihre vierjährige Tochter verstand Englisch und sprach Französisch. Auf dem Spielplatz des Viertels machte Abeng ihre Bekanntschaft. Von Nadine, so hieß sie, erfuhr Abeng, daß Trousson kein Engländer, sondern ein Franzose war, der bei seiner englischen Mutter in London groß geworden war.

    Die Freundschaft zwischen Nadine und Abeng brachte ihre Eltern zusammen. Trousson wurde ein guter Nachbar Assams, wenige Jahre später war er sein bester Freund. Die Zeit schien reif für Rassen, oder Menschen waren reif geworden. Wer hätte es vor fünfhundert Jahren geahnt?

    Trousson wollte Messina heiraten. Eines Tages ging der Franzose mit strahlendem Gesicht zu Abengs Vater. Er brauchte Rat, um all die sinnlosen behördlichen Hürden zu meiden und die Heiratsurkunde so einfach wie möglich zu erhalten. Und wer hätte ihm da besser raten können als Assam? Der zweimal geschiedene und dreimal verheiratete Vater Abengs war in Kondengui der beste Ratgeber, wenn es um Eheschließungen ging. Als seine kleine Tochter von Troussons Absicht erfuhr, sagte sie zu Assam: ›Papa, Trousson liebt Messina sehr. Messina ist sehr glücklich. Sie ist nicht traurig wie Oma. Aber warum sagen alle Nachbarn, daß sie irgendwann auseinandergehen? Sie lieben sich doch. Ich will nicht, daß sie sich trennen. Nadine wird ihren Vater sehr vermissen, wenn sie das tun. Sie wird traurig sein wie Tata Evina. Tata Evina ist traurig, weil ihr Vater weggegangen war. Aber ich will nicht, daß Nadine traurig wird. Wenn Nadine traurig ist, hört sie auf zu spielen. Ich spiele gern mit Nadine.‹

    Abeng war damals sechs Jahre alt, ein Kind. Später, als das kleine Mädchen über die schwierigen Jahre ihrer Körperentwicklung hinweg war und sich als ein selbstbewußtes, ungewöhnlich forsches erwachsenes Mädchen behauptete, erfuhr sie von ihrem Vater, warum die Nachbarn das sagten und warum Evinas Vater weggegangen war: ›Die Leute glauben wenig an eine schwarz-weiße Liebe, weil die Weißen allzu oft Heimweh bekommen und ihre Frauen verlassen. Aber der Vater deiner Tante Evina war weggegangen, nicht weil er Heimweh hatte, sondern weil er ein Übel begangen hat. Er hat Merveilles, deine Großmutter, vergewaltigt. Sein Chef, ein französischer General, hat ihn deswegen nach Hause zurückgeschickt. Mach dir keine Sorgen um Nadine! Ihre Mutter liebt Trousson sehr. Sie wird ihm folgen. Beide werden ihrem einzigen Kind zuliebe so etwas nicht tun. Seit ihrer Pubertät ist Nadine sehr anhänglich. Sie hat große Angst vor der Leere. Und die Leere nach einer Scheidung frißt die Kinder auf wie Krebs, gerade Einzelkinder wie Nadine. Das wäre schlimm für sie. Messina und Trousson müssen zusammenhalten. Aber die Frage ist, ob Messina gern in Frankreich sein wird? Sie wird ihren Glauben vermissen. Sie wird Gott vermissen.‹

    Abeng war für den Zusammenhalt, ob mit oder ohne Gott. Sie liebte Flammen, die sich vom Haß nicht löschen ließen. Sie mochte deshalb Schwarze, die mit Weißen zurechtkamen. Sie bewunderte die Dämmerung, die Ehe zwischen dem Tag und der Nacht. Aber gerade weil Abeng die Dämmerung liebte, drohte sie dem jungen Mädchen mit ihren furchterregenden Schatten. In dieser grauen Zeit bekam Abeng neue Geschichten über die Geburt Evinas zu hören. Sie hörte sie, seitdem sie erwachsen war, nicht nur von ihrem Vater, sondern auch von ihrem Großvater. Dann war es Abeng zuviel. ›Es ist Zeit, daß ich dir einiges erkläre‹, sagte Akono Assam eines Tages. ›Das weiß ich schon, Opa.‹ – ›Das ist gut‹, murmelte er. Aber er wollte reden, dieses Mal wollte er Abeng seine Sprüche erklären. Er fuhr fort: ›Ihr habt viel Glück. Ihr kennt den Krieg nicht. Wir aber! Die Krieger schossen überall hier und vergewaltigten unsere Frauen.‹ – ›Das weiß ich, Opa.‹ – ›Das ist gut‹, wiederholte er. Aber er sprach weiter: ›Evina, deine braune Tante, ist nicht meine Tochter. Aber ich liebe sie wie meine eigene Tochter, weil ich sie erzogen habe.‹ – ›Das weiß ich.‹ – ›Das ist gut.‹

    Wie traurig war seine Stimme! Wie schwer diese männliche Stimme! Diese Stimme hörte Abeng ungern, doch ließ sie sie nicht gleichgültig. Denn oft, wenn Abeng allein war, stellte sie sich diese seltsame Zeugung vor. Aber weil diese Vorstellung fürchterlich war, fing Abeng an, von anderen Geschichten zu träumen.

    Abeng hatte einmal von einem Erdteil geträumt. Sie hatte von einem kurzen Halt dort geträumt. Es war eiskalt, obwohl die Sonne schien. Überall fiel Schnee. Abeng sah Schwarze, Weiße, Braune, Mittelbraune, Hellbraune und Dunkelbraune. Auf dem Eingangstor dieses Erdteils stand ein Brett, auf dem zehn Buchstaben großgeschrieben und durchgestrichen waren: QUIDPROQUOS. Abeng enträtselte gerade das Wort, als sie von einem starken Strudel erfaßt wurde. Sie landete auf einem Platz voller Gerichtshöfe. Verblüfft fragte sie sich, wo sie war? ›Welche Welt hat so viele Gerichte? Ist es der Letzte Tag, den ich hier erlebe? Das Jüngste Gericht? Das letzte Ereignis der Apokalypse? Braucht Gott so viele Gerichte für die Menschheit? Ist der Mensch wirklich so schlecht?‹ fragte sie sich. Abeng wartete auf die Apokalypse, aber hier erschien kein Gott. Das Jüngste Gericht blieb aus. Wer kam dann auf den Gedanken, so viele Gerichte zu errichten? Wozu? Lebten in Abengs Traumwelt nur Menschen, die mit dem Gericht zu tun hatten? Waren die Helden ihrer Träume nur Angeklagte und Verurteilte? Was hatten die Menschen hier getan? Abeng wollte aus Neugier in eins der Gerichte hineindringen, als ein dunkelbrauner Wächter plötzlich erschien und sie fragte:

    ›Haben Sie Ärger mit einem Weißen?‹

    ›Nein. Wieso?‹ fragte Abeng.

    ›Sie sind dann am falschen Ort.‹

    ›Aber wieso? Warum? Ich verstehe Sie immer noch nicht.‹

    ›Es ist so, daß die Fälle, die hier gelöst werden, schwarz-weiß sind. Die Quidproquos, hier werden nur Quidproquos verhandelt.‹

    ›Quidproquos?‹

    ›Ja, die Richter hier haben nur mit Quidproquos zu tun. Alles andere kümmert sie nicht.‹

    ›Was ist jetzt Quidproquo?‹

    ›Ich nehme ein einfaches Beispiel. Für wen halten Sie mich? Für einen Schwarzen oder für einen Weißen?‹

    ›Selbstverständlich für einen Schwarzen.‹

    ›Hereingefallen! Ich bin nicht schwarz, ich bin auch nicht weiß. Ich bin braun. Mein Vater ist schwarz, meine Mutter weiß. Das war eben ein Quidproquo! Haben Sie jetzt verstanden?‹

    ›Ja. Nur, Sie sind so dunkel, daß kein Mensch darauf kommen würde, daß Sie Mischling sind.‹

    ›Wieder ein Quidproquo! Gnädige Frau, ich bin kein Mischling. Das Wort Mischling ist zu allgemein, es ist ein Sammelwort. Es steht nicht nur für jemanden aus einer schwarz-weißen Familie. Es steht auch für Menschen aus schwarz-gelben Familien, aus gelb-weißen Familien, aus rot-weißen Familien, aus gelb-roten Familien, aus schwarz-roten Familien und so weiter. Deswegen müssen Sie lernen, zu unterscheiden. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich braun bin. Und passen Sie auf! Das Wort Mischling ist hier verboten. Damit kann man Sie vor Gericht anklagen. Dann zahlen Sie eine Gebühr von fünfhunderttausend Francs. Ich muß Ihnen noch etwas erklären. In unserem Land reden Schwarze und Weiße immer und immer wieder aneinander vorbei. Sie verwechseln alles oder mißverstehen sich, weil sie sich nicht gut kennen. Wenn sie sich nicht mehr vertragen, kommen sie hierher. Die Richter verhandeln hier zwei Arten von Quidproquos: komische und tragische. Für die komischen, das heißt, für leichte Verwechslungen und Mißverständnisse, gibt es keine Haftstrafe. Gebühren werden aber bezahlt, und sie können manchmal sehr hoch sein! Für die tragischen Quidproquos, das heißt, für solche Verwechslungen, die zu Mordtaten führen – was Gott sei Dank selten geschieht – gibt es eine Strafe von fünf Jahren Haft. Es gibt keine härteren Strafen, weil man davon ausgeht, daß die Täter im Grunde Opfer ihres Unwissens sind. Hier erscheinen nur schwarz-weiße Paare, meist Ehepaare. Aber es gibt auch für einfarbige Fälle Gerichte wie das gegenüber. Dort werden selten Fälle wie Quidproquos verhandelt, aber oft vorsätzliche Verbrechen. Aus diesem Grund bekommen die Täter dort härtere Strafen.‹

    Als Abeng erwachte, war sie verwirrt, aber dann begeistert. Sie vergaß diesen Traum nie. Denn jedesmal, wenn sie Messina und Trousson in der Nachbarschaft begegnete, erinnerte sie sich an ihn. Sie glaubte, einem Traumpaar aus der Traumwelt zu begegnen, die sie schließlich den schwarz-weißen Erdteil nannte, weil es dort wie überall in der Welt Schwarze und Weiße gab.

    Seitdem beschäftigte Abeng ihr Traum. Immer wieder sagte sie zu sich: ›Ich werde Papa von meinem Traum erzählen. Ich werde auch Opa von diesem Traum erzählen. Ich werde Opa und Papa sagen, daß die Welt schöner wäre, wenn wir sie wie den schwarz-weißen Erdteil bewohnen würden. Aber kann ich Papa überzeugen? Kann Opa meinen Traum ernst nehmen? Beide sind viel älter als ich. Sie haben viel Erfahrung. Sie haben mehr Erfahrung als ich. Habe ich überhaupt Kraft genug für diesen Traum? Bin ich ihm gewachsen? Vielleicht, denn manchmal fühle ich mich richtig alt. Mein Kopf ist schon grau, selbst wenn man es mir nicht ansieht. Bald ist er weiß.‹

    Aber bringt das Alter manchmal Weisheit, so vergeht die Zeit mit unserer Lebenskraft. Deshalb empfindet der Mensch das Ticken der Uhr oft als einen Verlust und selten als einen Gewinn seines Lebens. Aber vielleicht müssen wir froh sein, daß die Zeit vergeht. Oh! Es kann schlimm werden, wenn sie zurückkehrt: als Erinnerung.

    Nicht grundlos sagte Abeng oft, daß ihr Kopf von Erinnerungen grau war. Denn wer ihre Geschichte kannte, verstand die Altersgefühle der jungen Frau. Allzu früh hatte Abengs Leben eine schwere Wende genommen, eine harte Wende für ein fröhliches und glückliches Kind, das Abeng in ihren ersten vier Lebensjahren war.

    Abeng kam in einem kleinen Dorf zur Welt. Das Krankenhaus lag dicht neben einem Gebüsch, in dem Raben gern auf Küken lauerten. Oft gackerte ein Huhn neben der alten Entbindungsstation, während ein Kind auf einem Bauch weinte. Mehrmals ereignete sich eine Doppelgeburt in dem kleinen Dorf, eine Doppelentbindung, die von dem Gackern der Hühner und den schrillen Stimmen der gebärenden Mütter verraten wurde. Das Geschrei war eine zusammengesetzte Elegie, eine Jeremiade, die das Leiden verkündete und einen Monat später von einem Psalm ersetzt wurde, der die neuen Lebewesen pries.

    Als Abeng Abschied vom warmen Mutterbauch nahm und sich voller Leben mit einem fröhlichen Schrei in dem herzlichen kleinen Dorf ankündigte, hieß ein lautes Vogelgeschrei nicht weit vom Geburtsort den Ankömmling willkommen. Ein Zufall, der später eine Bedeutung bekam. Denn die starke und gegenseitige Liebe, die sich zwischen Abeng und dem Geflügel entwickelte, war in dem kleinen Dorf eine ungewöhnliche Sache. Man sah die Hausvögel vor Freude hin und her rennen und jubeln, wenn sie die noch mit hoher Stimme gesungenen Lieder des kleinen Mädchens, das sie jeden Morgen und tagsüber mit Maiskörnern ernährte, hörten. Manchmal wagte Abeng die gefährlichsten Spiele mit ihnen, zum Beispiel Küken rauben und weglaufen. Nie begegnete sie Widerstand. Sie verbrachte fast den ganzen Tag, singend, mit dem Geflügel. Und gerade weil sie immer auf dem Hühnerhof mit lauter Stimme sang, wurde sie von den Dörflern zum Scherz ›das kleine Singvögelein‹ genannt. Erst nach der Geburt von Abessolo vergaß die Zweijährige die Vogelwelt. Tag und Nacht bewachte sie ihren kleinen Bruder, einen Säugling, den Abeng besonders liebte, wenn er in seiner Wiege schlief. Es war eine Früherscheinung von Muttergefühlen, die aber zwei Jahre später in dem kleinen Mädchen erloschen.

    Abeng sah ihre Mutter sterben. Sie war vier und die Mutter dreißig. Maria starb an einer schweren Geburt. Die Zwillinge! Oh! Abeng fragte sich, warum sie nicht gerettet wurden. Sie hatte die Zwillinge gesehen. Sie weinten nicht wie gewöhnliche Neugeborene. Kein Arzt hörte ihren ersten Schrei. Sie starben mit der Mutter. Aber die Ärzte waren nicht schuld. Allein der Tod war schuld. Die Mutter lag im Sarg mit zwei Säuglingen. Es war ein schreckliches Bild, eine furchtbare Erinnerung. Selbst wenn Abeng damals ein kleines Mädchen war: dieses Bild blieb klar in ihrem Kopf. Das Schlimme war, daß es in ihrem Kopf grau wurde.

    Abeng wußte, daß mit dem Tod ihrer Mutter viel in ihr verloren ging. Sie verlor die erste Liebe, die jedes kleine Kind braucht. Das Herz des kleinen Mädchens blieb kalt. Jahre später entschloß sich das junge Mädchen, das zu retten, was noch zu retten war: das Herz der erwachsenen, der reifen und der alten Frau.

    Abeng hatte viele junge Mädchen mit gebrochenen Herzen gekannt. Sie litten unter einer unglücklichen Liebe. Manche nahmen sich das Leben, weil sie das Licht des Tages nicht mehr wahrnahmen, weil sie sich von endlosen grauen Wolken umhüllt fühlten. Einige überstanden den Schmerz. Kaum waren sie geheilt, sah man sie wieder einen Herzensbrecher empfangen. Wenn sie nicht mehr wußten, was die Liebe war, suchten sie sich einen Mann. Einige hatten Glück und fanden die Liebe in der Ehe wieder. Andere blieben aber mit einem Don Juan im schwarzen Erdteil. Dann wurde ihr Herz für immer schwer.

    Eine Zeitlang blieben Liebesgeschichten für Abeng eine ernste Beschäftigung. Sie war besonders neugierig auf die schwarz-weiße Liebe. Niemals aber holte Abeng Rat bei den vielen unbeholfenen jungen Mädchen in ihrer Umgebung. Da sie keine Mutter hatte und ihre Großmutter die Lust an Gesprächen über alte Lieben verloren hatte, bekam Abeng oft Ratschläge von ihrem Vater und ihrem Großvater.

    Eines Tages sagte Assam, Abengs Vater, zu seiner kleinen Tochter, daß sie die wahre Liebe nur in einer Ehe mit einem Gläubigen finden würde. Später erklärte er seiner erwachsenen Tochter, daß die Menschen in Europa so gut wie gar keinen Glauben mehr hatten. Irgendwann verriet er ihr seinen Wunsch, sie mit einem gläubigen Landsmann verheiratet zu sehen.

    In welcher Welt lebten unsere Väter? In welcher Zeit? Warum dachten sie weiter wie die Menschen im Mittelalter? Aber wenn sie recht hatten, dann hatten sich die Zeiten gar nicht geändert, wie man es immer zu glauben geben wollte. Nur, wer wußte es genau? Aber selbst wenn sie im Recht waren: ihre Kinder hatten immerhin Träume, die auch einen Sinn hatten und vielleicht eine Prophezeiung waren. Die Prophezeiung für eine bessere Zukunft?

    Abeng hatte einen Traum, der nicht ohne Sinn sein konnte. So nährte sie sich von der Hoffnung, von Assam eine Deutung zu bekommen. Die Gerichte für Schwarze und Weiße, der braune Wächter, die Quidproquos. Aber Abeng ahnte die Deutung ihres Vaters. ›Er wird von der Apokalypse sprechen, von dem Jüngsten Gericht. Er wird mir nur Angst machen, mir sagen, daß wir alle davor erscheinen werden. Dann wird er sagen, daß dieser Traum eine Warnung ist, daß Gott mich vor einer Ehe mit einem Weißen warnt, für mich ein Grund mehr, einen Gläubigen zu heiraten, der nur schwarz sein kann wie er.‹ Abeng wollte ihm deswegen nichts verraten, aber sie brauchte die Deutung eines Älteren. Sie erzählte Assam von ihrem Traum: ›Er war unglaublich. Eine Menge Gerichtshöfe, die meisten für schwarz-weiße Paare. Dann dieser Wächter, der mich zuerst zum Teufel schicken wollte, aber mir am Ende eine lange Rede hielt. Ich kann mich leider nicht an das ganze Gerede erinnern. Nur eins kann ich nicht vergessen: er sagte, daß schwarz-weiße Paare milde Strafen bekommen, weil die Schwarzen und die Weißen sich nicht gut kennen. Ich habe sehr lange darüber nachgedacht. Die Richter dort richten wie Gott. Gott ist streng nur zu den Sündern, die ihn gut kennen. Zu allen anderen ist er sanft.‹ Dann fügte Abeng hinzu: ›Papa, ich werde einen Weißen heiraten.‹ Als Assam dies hörte, verging ihm die Sprache. Er schwieg tagelang, man hörte ihn nur noch Gebete sprechen: ›Möge der liebe Gott meine Tochter von dieser Versuchung ablenken.« Da aber unser Vater im Himmel auf seine Bitte nicht antwortete, wandte sich Assam an seinen leiblichen Vater.

    Für seinen Sohn hatte Akono Assam immer ein offenes Ohr gehabt, und er war ganz Ohr, als Assam ihm Abengs Absicht anvertraute. Er nannte das schlicht und einfach seinen Fall. Nur er, meinte Akono Assam, wußte solche Fälle zu lösen. ›Mach dir keine Sorgen! Ich kümmere mich schon darum‹, versprach er seinem Sohn.

    Schlau war Abengs Großvater. Mit einer rührenden Geschichte wollte er seinen ganzen Nachwuchs in alten Bräuchen gefangenhalten. Aber wer hinter diese Absicht kam, der ließ sich nicht mehr von ihm rühren. Um seine Nachkommen, wie er dachte, vor Weißen für immer zu schützen, stützte sich Akono Assam auf alte Bräuche, machte aus ihnen eine Macht und wurde selbst zu einer gefürchteten Macht im Dorf. Er suchte Lebensgefährten für alle, versprach Abeng einen Schullehrer, der sonntags Gebete in der Mission Baptiste von Sangmelima sprach. Von Abengs Traum wollte er nichts wissen. Er fand die Enkelin zu jung, zu unerfahren.

    ›Ein Sterblicher darf nichts versprechen‹, sagte Assam immer. Er hatte recht, denn sein Vater starb, ohne seinen Wunsch zu erfüllen. Und kurz nach seinem Tod geschah das, was beide fürchteten: Abeng verliebte sich in einen Weißen. Später heiratete sie ihn, aber nicht weil er weiß war, sondern weil er menschlich war.

    Rassen gibt es nur in unseren Köpfen, in unseren Träumen.

    Abeng liebte Manfred Benn ebenso sehr wie die kleinen Benns. Sie sah durch das geöffnete Fenster ihren kleinen Jungen und ihr noch krabbelndes Mädchen. Sie sah in ihnen die schönste Kunst, die sie je geschaffen hatte. Abeng drehte sich um und sah die Bilder an, die an der weißen Wand ihrer Küche hingen, die Portraits ihrer beiden Kinder. Sie konnte sich noch erinnern, wie lange sie daran gearbeitet hatte. Sie wurden ihr bestes Kunstwerk.

    Abeng bewunderte nun ihren Mann, Manfred, der dicht neben ihr stand. In diesem Augenblick sprach in Abeng die Stimme ihres Großvaters: ›Du hast mich verraten.‹

    Er sagte nicht die Wahrheit. Nein, er sagte nicht die Wahrheit. Abeng wußte es, sie nahm seine Stimme nicht ernst. Außerdem hatte sie mittlerweile das Vertrauen ihres Vaters gewonnen. Aber sie hatte einen unvergeßlichen Weg hinter sich. Abeng erinnerte sich immer wieder an ihn.

    Kontchupé

    Abeng war ein neugieriges Mädchen, wollte alles von der Welt sehen und erfahren. Aber die Treue überwog die Neugier und das kleine Mädchen machte meistens nur das, was ihre katholische Erziehung gebot. Sie war ein gehorsames kleines Mädchen! Dies vor allem, weil sie ihren Vater sehr liebte und ihm oft gefallen wollte. Aber dann kamen die ersten Glaubenszweifel.

    Abeng war damals elf Jahre alt. Sie ging in die Grundschule und besuchte die sechste Klasse. Von einem Schulkameraden bekam sie ein Buch über die Geschichte der katholischen Kirche ausgeliehen. Der Kamerad hatte das Buch aus der Bibliothek seiner Eltern unbemerkt geholt und es für Abeng in die Schule mitgebracht. Zu Hause las Abeng eine Seite nach der anderen. Als sie von der Schuld der römischen Päpste an den großen Kriegen erfuhr, fing sie an, ihrer Konfession zu mißtrauen. Wenn Luther nicht im Dunkeln getappt hätte, hätte sich Abeng spätestens mit fünfzehn, und trotz der starken Liebe zu ihrem Vater, in der evangelischen Kirche neu taufen lassen. Aber da nach Christus alle Christen im Dunkeln zu tappen schienen, fand Abeng einen Wechsel sinnlos. Abeng verstand nicht, warum seit der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts der Messias nicht mehr erschien. Sie vermutete dann zwei Gründe: entweder Christus war für ewig tot oder er spielte Versteck mit den Menschen, wie Gott es seit der

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