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Versandung: Annäherung an eine einzige gesprochene Andeutung
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eBook312 Seiten3 Stunden

Versandung: Annäherung an eine einzige gesprochene Andeutung

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Über dieses E-Book

Lässt sich das tragische Schicksal einer jungen Frau, die im Frühjahr 1940 mit 24 Jahren ermordet und Opfer der NS-Euthanasie wurde, dem Vergessen entreißen? Jetzt, Jahrzehnte später?
Andreas Burmester spürt dem Leben der Ursula Murawski nach, seiner Verwandten. Jedes Detail ihres Lebens versucht er zusammenzutragen, vieles bleibt im Dunkeln. So ist diese Biografie eines Euthanasie-Opfers des NS eine Erzählung zwischen Akten, Fakten und Fiktion - und gewinnt gerade daraus ihre Eindringlichkeit.
Die Zwiesprache mit der vermeintlich "Geisteskranken" Ursula spannt einen Bogen von den Stränden der Ostsee, einem behüteten Elternhaus, über finanziellen Ruin bis zur tragischen Todeserfahrung einer jungen Frau, die nach zeitgenössischem Verständnis als "psychisch krank" kategorisiert wurde. Sie war Epileptikerin, wahrscheinlich lesbisch. Sie hätte ein normales Leben führen können. Die lebensfeindliche NS-Ideologie führte sie in den Tod: Nach Jahren in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel folgte die Zwangssterilisation und ein elender Hungertod in der Landesanstalt Merxhausen. Der Fall wird verschwiegen, verdrängt und verharmlost.
Wiederentdeckte Fotos, ein Lebenslauf, Briefe, Zeichnungen und ein Eintauchen in die Anstaltswelt der NS-Zeit schenken Ursula Murawski ein Gesicht, das stellvertretend für zahlreiche Schicksale in Bethel, Merxhausen und andere deutsche Heil- und Pflegeanstalten steht.

Während die Geschichte der Zwangssterilisations- und "Euthanasie"-Verbrechen im Nationalsozialismus in den letzten Jahren endlich umfassender aufgearbeitet worden ist, bleiben die Schicksale der Opfer und die familienhistorischen, intergenerationellen Auswirkungen bedenklich unklar. Andreas Burmester gibt einem dieser Opfer stellvertretend wieder das Leben zurück und zeigt, welche Folgen der Mord an seiner Verwandten für die nachfolgende Generation hatte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Dez. 2020
ISBN9783864082610
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    Buchvorschau

    Versandung - Andreas Burmester

    Vorwort

    Die Auseinandersetzung mit den Krankenmorden im Nationalsozialismus ist von anhaltender Aktualität: Sie beschäftigt seit rund 80 Jahren Ärzte, Historiker, Angehörige und viele andere mehr. Stellvertretend für die ersten zaghaften Versuche, über das Grauen Zeugnis abzulegen, steht ein erschütternder Bericht eines Arztes aus dem Jahr 1946. Dass dieser Bericht nur anonym in einer Festschrift und damit weit abgelegen publiziert werden konnte, dass es also auch nach dem Kriegsende nicht möglich war, offen über diese Verbrechen zu reden, wirft einen bleibenden Schatten auf die Psychiatrie. Dass man mit Rücksicht auf seine Karriere und auf seine Kollegen auch in den folgenden Jahrzehnten geschwiegen hat, wurde zum weiteren Tod der Opfer. In einer Atmosphäre des schweigenden Mitwissens und mitwissenden Schweigens konnte der Alltag in psychiatrischen Anstalten bis in die 1970er-Jahre nur von Kontinuitäten gekennzeichnet gewesen sein. Die Psychiatriereform hat dann eine zweite Welle von Publikationen der 1990er- und 2000er-Jahre stimuliert. Durch sie wurde nicht nur der flächendeckende Umfang der Taten deutlich, sondern auch ihre zielgerichtete, staatlich veranlasste Umsetzung sowie vor allem die tiefe Verwurzelung in die Ideologie des NS-Staates. Viele ehemalige Mitarbeiter von Fürsorgebehörden und Anstalten – Ärzte, Pflegerinnen und Verwaltungsangestellte – erkannte und benannte man jetzt als Täter. Stellvertretend für diese zweite Welle intensiver Auseinandersetzung muss das schonungslose Buch von Heinz Faulstich zum Hungersterben in der Psychiatrie zwischen 1914 und 1949 genannt werden. In einer dritten Welle wenden sich in jüngster Zeit Angehörige dem Schicksal einzelner Mitglieder ihrer Familien zu, die der staatlich veranlassten Vernachlässigung, dem Hungersterben und dem Gas zum Opfer fielen. Die Beweggründe hierfür sind ebenso unterschiedlich wie die geschilderten Schicksale. Diese Personalisierung macht aus einem vergessenen Anstaltspflegling, einem unter unfassbaren 300.000 Opfern, ein Einzelschicksal. Stellvertretend soll hier das 2002 erschienene »Umstellformat« von Melitta Breznik genannt werden. Sie geht einfühlsam dem Schicksal ihrer Großmutter nach, die in der Landesheilanstalt Merxhausen verstarb. Im Mittelpunkt von Melitta Brezniks Erzählung steht jedoch weniger die Großmutter als vielmehr ihre betagte Mutter. Die Autorin kann diese zu einer Reise in eine Vergangenheit bewegen, die im intergenerationellen Austausch Jahrzehnte ausgespart wurde. Auch wenn die Großmutter immer irgendwie präsent war, redete man einfach nicht darüber. Mit der erstmaligen Einsicht in die Merxhausener Krankenakte öffnen sich Pforten der Erinnerung. In der Begleitung durch ihre Mutter, die anfangs unwillig, doch später tief bewegt an der Reise teilnimmt, entsteht für die Autorin ein spätes Kennenlernen ihrer Großmutter.

    Barbara Zoekes eindrucksvoller, 2017 erschienener Roman »Die Stunde der Spezialisten«, grandios illustriert von Lars Henkel, eröffnet eine weitere Perspektive: Barbara Zoeke nimmt sowohl die eines unheilbaren, seiner Familie schmerzhaft entrissenen und am Ende der Gaskammer zugeführten Opfers wie auch die Perspektive seines, von der Sinnhaftigkeit seines Tuns überzeugten ärztlichen Mörders ein. Unbedingte Pflichterfüllung – Busladung um Busladung will pünktlich bewältigt werden –, die verlockende Aussicht auf eine Karriere als Chefarzt, von Humanität getragene Verlässlichkeit bei der Dosierung des Gases und die motivierende Begleitung der Mitarbeiter bei ihrem tödlichen Handwerk werden plötzlich Themen. Die Stunde der Spezialisten ist gekommen. Die Autorin begegnet fehlender Augenzeugenschaft durch eine gewissenhafte Erschließung des Kontextes, so dass Barbara Zoekes Fiktion den Leser an das Ungeheuerlichste heranführt, ohne die Fakten aus dem Auge zu verlieren.

    Das vorliegende Buch, so eng wie möglich aus zeitgebundenen Fakten entwickelt, spannt vielerlei Perspektiven auf. »Versandung« überspringt dabei zeitliche Barrieren und tastet sich in die Welt geschlossener Anstalten der NS-Zeit vor. Und folgt dabei dem Schicksal eines konkreten Opfers, dem von Ursula Luise Murawski. Auch sie wurde in Merxhausen ermordet und über ihr tragisches Schicksal legte sich Schweigen. Im Schweigen überlebte nur eine einzige gesprochene Andeutung, die mir im Gedächtnis blieb. Darüber hinaus wussten wir nichts. Es fehlte der Name, der Ort, von dem das Opfer eingeliefert wurde, es fehlten Geburtsdatum, Diagnose, Ort und Datum ihres Todes. Das Einzige war diese Andeutung, die nach Bethel führte. Dort fanden sich schriftliche Quellen zu Ursel, die meine Spurensuche ermöglichten. Doch lässt sich ein Schicksal aus einem Stapel Papier, aus Krankenblättern, aus wenigen Fotos, Fieberkurven, Rapportbüchern und Briefen rekonstruieren? Und gaben die Familienalben nicht doch etwas preis? Und wohin gehört dieser oder jener, oft wie losgelöst wirkende Erinnerungssplitter unseres Familiennarrativs?

    So banal die diesem Text vorangestellte Äußerung des Schriftstellers und Lyrikers Günter Kunert für jeden, der mit Geschichtsschreibung und Erinnerungsarbeit vertraut ist, auch klingen mag: Das, was entstand, kann und wird nicht mehr als eine Annäherung sein. Auch wenn der Text auf einer Fülle von zeitgebundenen Fakten und quellengestützten Einsichten basiert, wird er nur eine Ahnung dessen vermitteln, wer Ursula Murawski eigentlich war und wie ihre Jahre in Bethel und Merxhausen gewesen sind. Der aktuelle Forschungsstand zu NS-Krankenmorden, der hier keinesfalls in all seinen Verästelungen abgebildet werden soll, wird gleichwohl in einigen Punkten um Neues ergänzt.

    »Versandung« entwickelt sich aus vier verschiedenen Perspektiven. Die erste Ebene gibt Ursels frühe Kindheit und ihre erfolgreichen Schuljahre wieder. Hier ist auch ihre Krankengeschichte angesiedelt, die sich als aufschlussreiche Quelle zum Leben in den Anstalten Bethel und Merxhausen erwies. Da die Krankengeschichte von Ärzten oder Pflegerinnen verfasst wurde, durfte Ursel sie – wie alle anderen Mitpatientinnen – nie sehen. Ebenso hatte Ursel keinen Einblick in die begleitende Korrespondenz zum Beispiel zwischen ihrem Vater und der Anstaltsleitung. Reichlich Stoff also für einen Erzählstrang, der sich nur vordergründig an Ursel selber richtet, jedoch vor allem den Leser in den Alltag geschlossener Anstalten einführt. Der Text sucht dabei den Balanceakt zwischen erzählerischen Notwendigkeiten und Persönlichkeitsschutz. Die Krankengeschichte ist deshalb nur stark gekürzt und in Anführungszeichen wiedergegeben. Dem Leser wird rasch deutlich werden, dass sie in der Zeit nach 1933 in einer Sprache verfasst ist, die die Ebene einer objektiven und empathischen Einschätzung spürbar verlässt. Die verwendeten Fotografien, auf denen die Protagonistin zu sehen ist, fanden sich in Bethel – Ursel wird sie nie gesehen haben. Neben den Portraitfotos ist es vor allem ein Foto, das während der Dreharbeiten zu einem Film gemacht wurde. Es zeigt vermutlich Ursel, eine weitere Besonderheit. In diesen Fotos lebt Ursel. Ihre eigenen Fotografien sind ebenso wie ihre Kamera verloren. Das restliche eingestreute Bildmaterial dient zur Illustration all der Orte, an denen unsere Tante lebte.

    Ursels schriftliche und zeichnerische Zeugnisse sind in einer zweiten Ebene zu finden. Hierzu rechnen ein Lebenslauf, verschiedene Briefe und vor allem drei Zeichnungen aus der Zeit in Bethel. Leider haben sich aus Stettin und Merxhausen keine Eigenzeugnisse erhalten. Um im Erzählstrang Ursels Erleben nicht gänzlich aus dem Auge zu verlieren, ja auf ihre denkbare Perspektive nicht zu verzichten, erwies es sich als notwendig, diese Ebene durch wenige fiktive Passagen zu ergänzen. Hier verlässt der Text somit zwangsläufig den gesicherten Kontext.

    Doch wohin mit dem sich Bahn brechenden Bedürfnis, Ursel jene Zuwendung zu schenken, die ihr von ihrer Familie spätestens seit der Verlegung nach Merxhausen im April 1938 verwehrt wurde, von den Jahren nach 1945 ganz zu schweigen? Hierzu dienen in einer separaten Ebene fiktive Begegnungen zwischen Ursel und mir, dem Autor. Jede dieser Begegnungen muss allein schon auf Grund der Tatsache, dass zwischen Ursels Tod und meiner Geburt mehr als ein Jahrzehnt liegt, rein fiktiv sein. Diese Begegnungen sind ein bewusst eingegangenes Risiko, vor allem, da sie jeglicher intergenerationeller Überlieferung entbehren.

    Die drei bisher genannten Ebenen und die Verwendung des Bildmaterial sind nicht ohne kritische Einbettung in einen historischen Kontext zu verantworten. Dieser bildet eine, sich immer wandelnde vierte Ebene. Im Text wurde darauf Wert gelegt, den Kontext ausschließlich aus den Quellen der Zeit zu erschließen. Wie und warum handelten zum Beispiel die beteiligten Ärzte oder Pflegerinnen damals so, wie sie es taten? Der Text gibt also in keiner Weise das heutige Wissen zur Epilepsie und ihrer Medikamentierung – um nur einen Punkt zu nennen – wieder. Die für die Kontextualisierung herangezogene, zumeist medizinische Fachliteratur aus der Zeit zwischen circa 1910 und 1945 bildet so einen Spiegel der Zeit. Jeder Blick in diesen Spiegel ist natürlich eine Interpretation des damaligen Wissensstandes durch den Autor. Der Leser wird sich angesichts dieser zeitgebundenen Äußerungen fragen, wie hätte er gehandelt und wie behandeln wir heute Schutzbedürftige?

    Der Charakter dieses Textes ließ es angeraten erscheinen, in allen Ebenen auf einen schwerfälligen Fußnotenapparat zu verzichten. Die genutzten Quellen sind gleichwohl am Buchende kapitelweise aufgeführt. Zitate oder Auszüge aus den Quellen – gleich ob Krankengeschichte, Briefe oder medizinische Lehrbücher – wurden in der Schreibweise ihrer Niederschrift übernommen.

    Eckige Klammern [ ] markieren Einschübe des Autors, die für den Lesefluss und das Verständnis notwendig sind:

    • Absätze im Zitat sind mit [/] wiedergegeben.

    • Auslassungen im Zitat sind in gewohnter Weise mit […] ausgezeichnet.

    • Nachnamen von Mitpatientinnen und anderen werden in der Regel abgekürzt.

    • Die Krankengeschichte von Ursel wurde ursprünglich in Bethel niedergeschrieben. Für die Verlegung nach Merxhausen wurde eine gekürzte Abschrift gefertigt. Die Art der Kürzung ist für das Handeln Bethels höchst aufschlussreich: Für Merxhausen ausgelassene Passagen sind deshalb mit [//] deutlich gemacht.

    Hannover, am 12. Januar 1916. [/] Bei dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach auf Grund der Familienbücher unbekannt der Bankdirektor Georg Emil Franz Murawski, wohnhaft in Hannover, Stolpestrasse 15, evangelischer Religion, und zeigte an, dass von der Martha Franziska Murawski, geborene S., geschiedene M., seiner Ehefrau, evangelischer Religion, wohnhaft bei ihm zu Hannover in seiner Wohnung am neunten Januar des Jahres tausend neunhundert sechzehn vormittags um fünf drei viertel Uhr ein Mädchen geboren worden sei und dass das Kind die Vornamen Ursula Luise erhalten habe.«

    Sand zwischen den Zehen. Mal schwappt das Wasser bis zum Knöchel, dann wieder stehe ich im Trockenen. Um den Fuß herum weißlich. Fast sind sie unsichtbar, meine Zehen. Mutti sagt immer, nichts ist so schön wie Kinderfüße. Meine Ferse ist versunken, immer wieder holt sich das Meer den Sand unter meinen Füssen. Ich versinke, ich verschwinde. Vorher sprach Mutti von Bernstein, such doch Bernstein! Ein kleines Stöckchen, eine zertretene Muschel, Glück aus grünem Glas. Sandkörner, farblos, rotbraun, schwarz, doch nie bernsteingelb. So honiggelb wie in Großmutters Kette. Wenn ich mal alt bin, bekomme ich diese Kette, hat sie mir versprochen. Immer neuer Sand zwischen den Zehen, es saugt und gluckst. So lebendig. Wenn ich nach unten schaue, verschwimmt das Meer, schwindelt alles im Hin und Her des graublauen Wassers. Wenn ich den Kopf hebe, dreht sich die Welt. Der Himmel schwankt. Meine Füße spüre ich vor Kälte nicht mehr, und die Sonne brennt in meinem Nacken. Den Strohhut mit dem langen roten Band habe ich in unserer Pension liegen gelassen. Großmutter hat es gemerkt und hat hinter mir hergerufen. Ich wollte sie nicht hören. Auf der Seebrücke promeniert die Ahlbecker Gesellschaft. Wenn ich den Kopf drehe, kann ich sie alle sehen. Langweilig.

    Strandleben in Ahlbeck, Postkarte vor 1931

    Aber das darf ich nur denken, alles rund um Ahlbeck ist Vati heilig. Sie warten auf das schneeweiße Motorboot. Mit ihren Hüten und Sonnenschirmen, Eiskonfekt und Wimpeln. Jungens in Matrosenhemden. Von hier sieht die Seebrücke wie ein riesiges Turngestell aus. Doch Turnen ist nicht erlaubt, zu gefährlich über der aufgewühlten Brandung. Von der Seebrücke sieht man das Strandleben. Das bunte Leben, wie Vati immer sagt. Wäre schön, wenn er oder Hertha mit wären. Ich soll nicht allein sein, deswegen steht Mutti da oben in der Düne. Hinter den Strandkörben. Ihr ist wie immer zu kühl. Sie war dankbar, wie Großmutter anbot, sich in Ahlbeck zu treffen. Schön, dass meine Cousine dabei ist. Früher, sagen sie, wären wir alle im Hotel Ostende untergekommen. Aber jetzt? Vielleicht kommt Mutti erst, wenn ich versunken bin. Schwindel im Wasser, flüssiger Sand.

    Strandkorb in Ahlbeck, Ende der 1920er-Jahre

    Ich weiß nicht, ob Du es bemerkt hast. Ich bin leise hinter Dich getreten. Das monotone Geräusch der Brandung hat das meiner Schritte verschluckt. Hättest Du Dein Ohr am Boden, hättest Du mich kommen hören. Doch Deine Aufmerksamkeit gehört Deinen Füßen im Sand. Dem weißen Saum, dem vertrauten Gurgeln an der Ferse, dem langsamen Einsinken, der Versandung der Zehen. Meine beiden Hände über Deinen Schultern, warm und leicht. Dir über das Haar zu streichen, erlaubt die Zeit nicht: So viele Jahre, Tod und Geburt zwischen uns, Jahre, in denen die See bleiern lag, der Sturm tobte, die Welt uns offenstand, Deine Spuren verwehten, die Möwen sich stritten über uns und ohne uns.

    Unsere Gemeinsamkeit wurzelt in Ahlbeck auf der Insel Usedom, diesem Familienbad an der westpommerschen Ostseeküste. Beworben als ideales Familien- und Freibad inmitten herrlicher Laubund Nadelwälder zwischen Swinemünde und Heringsdorf. Beworben mit billigen Preisen und vielseitigen, anerkannten Darbietungen, ein Familienbad zweiten Ranges. Dort liegt noch heute das Hotel Ostende, zu Deiner Zeit das letzte in einer langen Kette repräsentativer Gründerzeitbauten. Gelegen am östlichen Ende der Dünenstraße, eben am Ostende von Ahlbeck. Vor dem Hotel die Strandpromenade und die Radfahrbahn, die Düne, der Strand mit feinem Sand, das blaugraue Meer, unermüdlich an die Küste Pommerns klatschend. Das Hotel steht am Rande des Friedrichstaler Forstes mit seinen mächtigen Eichen und Buchen. Mitten im Forst, der sich bis Swinemünde hinzieht, lag nur noch das kurz vor dem ersten Weltkrieg von den kaiserlichen Majestäten eröffnete Kaiser-Wilhelm-Kinderheim.

    Im Hotel Ostende, diesem um 1900 erbautem Juwel, beginnt unsere unauflösliche Verbindung. Der Grieben von 1926 beschrieb es als mit 45 Zimmern und 80 Betten, mit Restaurant, Konditorei, Café und Bädern ausgestattet. Es war mein Urgroßvater und Dein Großvater Franz M., der dieses Hotel für einige Jahre bewirtschaftete. Das Hotel Ostende muss unter der Saison, von Mitte Mai bis Ende Oktober, ein blühender Betrieb gewesen sein. Das Haus voll belegt, die Strandkörbe vorgebucht. Immer knirschte Sand auf den Treppen zur Reception, Stapel von Koffern stauten sich, ein Kofferträger wartete ungeduldig und ein Kindermädchen suchte, lärmende Kinder zu mäßigen. Blauweiße Matrosenhemden, Roben aus Spitze, weiße Stoffe, biedere Hutkreationen, Sonnenschirme, alles fühlte sich nach Sommer an, schön und licht. Aber eben nur für wenige Monate: Kam der Herbst, peitschte der Wind an die ungeschützte Fassade, offen zum Meer gelegen. Der Blick vom Balkon auf die See musste nicht nur mit einem höheren Preis als für die rückwärtigen Zimmer, sondern jetzt auch mit Umhängetüchern und wärmerer Kleidung erkauft werden. Bis dann das Hotel schloss. Die Saison war vorbei und die Hausdiener packten den Wagen. Deine Großeltern verbrachten den Winter in Stettin, zurück bei dem Kindermädchen und den vier Söhnen. Nachdem Dein Großvater das Haus um 1910 altersbedingt aufgegeben hatte, wurde ein neuer Pächter gesucht.

    Die Strandpromenade, die damals vor dem Hotel Ostende begann, führt westwärts von Ahlbeck über Heringsdorf nach Bansin. Vor scharfem Seewind durch die Düne geschützt, wechseln bewohnte Villenviertel mit dichtem Gebüsch, schöne Baumgruppen aus Kiefern mit gepflegten Rasen- und Blumenanlagen. Von den ehemals, geschlechtergetrennten Badeanstalten am Strand war zu Deiner Zeit nicht mehr viel zu sehen, Hunderte von Strandkörben ersetzten sie. Auf der Promenade mischten sich glückliche Badegäste, ziellos Promenierende und Erholungssuchende: Ahlbeck war als Kurort für Lungenkranke, Schwache und Epileptiker empfohlen. Seine Lage ermöglichte es »den Badegästen[, sich] ganz nach Belieben […] in den Strudel hochmodernen Badelebens […] zu stürzen, oder aber in des Waldes Einsamkeit, fern von allem Geräusch der Erholung und Stärkung zu leben. […] Für Unterhaltung durch Reunions, Konzerte, Kinderfeste und musikalische Aufführungen ist reichlich gesorgt.« Ahlbeck wurde so, wie der Grieben berichtet, im Sommer ein Treffpunkt der kleinen Leute, der Handwerker, Beamten, Geschäftsleute, Grundstücksspekulanten und Techniker. Nicht des Großbürgertums und des Adels, die stiegen in Heringsdorf oder Bansin ab. Ahlbeck war Gehrock, Westen, dicke Bäuche, Würstchen mit Berliner Weiße, Kinder jeden Alters, kleine Mädchen mit bunten Schleifen, Jungs mit Stehumlegekragen, Pumphosen und Zulp. Alle sollen gelärmt und jede Art von Lustbarkeit gepflegt haben, wenn sie nur mit Geräusch verbunden war. Welch grauenvolle Vorstellung!

    Seebrücke in Ahlbeck, um 1900

    Ganz im Gegensatz zu Ahlbeck wurde Heringsdorf zu Deiner Zeit als vornehmes Luxusbad ersten Ranges bezeichnet, dessen Publikum größtenteils aus Berlin käme. Ein Weltbad mit Attraktionen und Anschluss ans Verkehrsnetz. Seine bereits 1893 eröffnete Seebrücke mit seinem am Ende liegenden Restaurant führte nicht nur unerhörte 425 Meter in die mal tobende, mal stille See hinaus, sondern erlaubte ein Anlanden auch größerer Schiffe an dem ansonsten allzu flachen Küstenstreifen. Die Seebrücke entwickelte sich rasch zum mondänen Treffpunkt des kaiserlichen Deutschlands. Es war ein internationales Publikum aus der Wiener Gesellschaft, Hochadel, Engländer und Franzosen, Italiener, Hochstapler, Russen und bessere Kreise aus dem Balkan, alle Sprachen durcheinander. Doch man blieb unter sich: Der Landadel, über den man die Nase rümpfte, wurde nach Bansin verwiesen. Auf der Promenade vor der Seebrücke durften angeblich nur die promenieren, die ihr Quartier in Heringsdorf hatten. Ein jeder nahm so den Platz ein, der ihm gebührte.

    Hotel Ostende, Postkarte vor 1908

    Hotel Ostende und Ahlbeck haben in unserer Familie bis heute den Klang von Stolz und von besseren Tagen. Zum Zeitpunkt, an dem Du mit Deinen elf Jahren am Strand standest, an jenem sonnigen, fast wolkenlosen Sommertag im Jahr 1927, war es aber nicht mehr als lebendig gehaltene Erinnerung. Sie schob sich auch über die Geschichte von der Seebrücke: Dort hatte Dein Großvater den Restaurationspavillon für einige Jahre gepachtet und bewirtschaftet. Es war sein Anfang in Ahlbeck. Zugegeben, die Seebrücke war kleiner als die in Heringsdorf, war gleichwohl ein markanter Bau mit seiner aufgestelzten Türmchenarchitektur, ein Blickfang, keine Frage. Am Meeressaum über dem feinen Sandstrand auf hohe Pfosten gesetzt, luden ein Musik- und eben der Restaurationspavillon die werte Kundschaft zum Besuch ein. Auch wenn die Preise immer als zu hoch empfunden wurden, gönnte man sich doch einen Besuch im Gastraum. Man kannte den einen oder den anderen, traf sich vielleicht jedes Jahr. Die Seeluft brach durch die Türe, die Kellner verfolgten das Treiben mit Nachsicht, immer die makellos gesteifte Tischwäsche im Blick. Gedämpftes Lachen überlagerte die Geräusche scharrender Stühle und das leise Klirren von Cafégeschirr. Eintretend Herren mit Hut, den Spazierstock über dem Arm, und für den Nachmittagstee gekleidete Damen. Auch wenn nicht Platz für alle war, genoss man doch von dort oben die Aussicht auf die Strandkörbe, das leichte Leben, die Fahnen und die in den frühen Morgenstunden auf den Sand gezogenen Fischerboote. Von der Plattform am Ende der Seebrücke konnte man an schönen Tagen weit über die pommersche Küste, von Rügen bis Wollin sehen. Und dort in der Ferne liegend, ganz weit draußen, nicht immer zu sehen, liegt Bornholm. Und dahinter die schwedische Küste, Österlen, Sveriges sydligaste udde. Vielleicht, das müsste doch weiter links sein, oder? Ein blaugrauer Streifen, darüber einige weiße Wölkchen, zu weit für die zusammengekniffenen Augen. Ermattet wandte man der flirrenden See in ihrer unfassbaren Größe den Rücken zu und überschaute das Land: In der Hitze sommerlicher Tage lag ein Hotel am anderen, eines schöner als das andere. Und diese Sandburgen.

    Dein Großvater, mein Urgroßvater Franz M. war ausgesprochen tüchtig: Erst Oberkellner, dann Buffetier, dann Bäckermeister in der Hohenzollernstraße und später am Bismarckplatz in Stettin, der Wechsel der Geschäftsaktivitäten in das aufstrebende Ostseebad Ahlbeck, dort Pächter besagten Restaurationspavillons und am Ostende Ahlbecks dann Hoteldirektor. Stoff für Geschichten. Vor allem die Zeit auf der Seebrücke wurde fester Bestandteil des Familiennarrativs. Lebendig die Schilderung, dass bei Nordoststurm und hohem Wasserstand unter der

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