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1989: Das Jahr beginnt
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eBook760 Seiten10 Stunden

1989: Das Jahr beginnt

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Über dieses E-Book

Das Buch erzählt bestürzend aktuell vom Freiheitskampf der 1989er Zeitenwende in Ungarn und den beiden deutschen Staaten – aber nicht vom (bekannten) Ende her: Es führt durch wechselnde Ereignisse und Perspektiven in die damalige Zeit hinein. Vom frenetischen Beifall beim Wiener Neujahrskonzert für die "edle ungarische Nation" über die propaganda-trockenen Neujahrsgrüße eines Erich Honecker, bis hin zu dem merkwürdigen Wunsch von Bundeskanzler Kohl, die Bundesrepublikaner mögen "mehr Freude" haben; von den Inaugurationsworten des neu gewählten US-Präsidenten, die sich bald schon als prophetisch erweisen werden ("freedom works"), bis hin zu den tödlichen Fluchtversuchen an der Berliner Mauer, so vielfältig ist das Archivmaterial, das Zsuzsa Breier kunstvoll zu einer neuen Geschichte der Wendezeit verwebt. Der Fokus liegt auf dem Alltag zweier unterdrückter und einer freien Gesellschaft. So gibt die Autorin den Blick frei für die Mechanismen von Demokratie und Diktatur, der gerade auch für unsere Gegenwart wieder so wichtig geworden ist.

"Ein wunderbarer Mix aus Vertrautem und Unbekanntem, Nahem und Fernem, Erinnern und Hinzulernen." (Dirk van Laak)

"Ein famoses Buchprojekt: enorm anschaulich, ein Kaleidoskop und Panorama zugleich, an- und berührend, stilistisch ansprechend, und sollte gerade für ein deutsches Publikum enorm lehrreich sein, gerade in der Gegenüberstellung unterschiedlicher Perspektiven, wo doch jeder für gewöhnlich nur die eigene sieht." (Andreas Rödder)

"Das Buch ist ein Solitär, glänzend geschrieben, an vielen Stellen tief ergreifend, ein würdiger Verwandter von Kempowskis Echolot" (Adolf Muschg)
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Dez. 2023
ISBN9783647993126
1989: Das Jahr beginnt
Autor

Zsuzsa Breier

Zsuzsa Breier, in Budapest geboren, erlebte das Jahr 1989 in Ungarn. Sie promovierte über Max Frisch, forschte zur deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, initiierte und leitete das Kulturjahr der Zehn und war Staatssekretärin für Europaangelegenheiten in der Hessischen Landesregierung. Seit 2016 ist sie freie Autorin und Publizistin und lebt in Berlin.

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    Buchvorschau

    1989 - Zsuzsa Breier

    Januar 1989

    Träumereien und Leidenschaften

    Mit Träumereien und Leidenschaften, so kündigt das westdeutsche Fernsehen Hector Berlioz’ Symphonie fantastique an, beginnt das Jahr 1989. Glücks-bringende Musik folgt, live aus der Bonner Beethovenhalle, dann Sting, Udo Lindenberg, Dietrich Fischer-Dieskau, Paul Simon aus Afrika, zwischendurch eine Traumstunde mit Janosch, um dann zu dem Highlight zu kommen, zum Wiener Neujahrskonzert: Für Freude und Optimismus im angehenden Jahr soll das Konzert sorgen, laut Programmheft.

    Freude und Optimismus, wer wollte sie nicht haben? Die Leidenschaft der Ungarn gilt in dieser Nacht aber nicht Berlioz und nicht Lindenberg, nicht einmal Paul Simon, dessen ungarische Wurzeln den Ungarn genauso unbekannt sein dürften wie das Schicksal von Simons Eltern, ihre Auswanderung nach Amerika. Horthys Numerus Clausus soll sie aus dem Land getrieben haben. Die Leidenschaft der seit Kriegsende hinter dem Eisernen Vorhang gefangenen Ungarn gilt diese Nacht ihrer Nationalhymne und all den damit verbundenen Träumereien. Punkt Mitternacht erheben sich die Menschen, fast überall im Lande, sie stimmen die Hymne an. Auch im Fernsehen erklingt sie, die Übertragung gehört zum Neujahrsritual. Rundfunkchor und Rundfunkorchester, im letzteren soll Paul Simons Vater vor dem Zweiten Weltkrieg gespielt haben, reihen sich am Heldenplatz auf, direkt vor dem Millenniumsdenkmal, das zum 1000-jährigen Jubiläum der ungarischen Landnahme errichtet wurde. In der Mitte des Platzes ragt Erzengel Gabriel in den Himmel, genauer gesagt seine 4,8 Meter hohe Bronzestatue. Gabriel steht auf einer 36 Meter hohen Säule, die Arme nach oben gestreckt, rechts hält er die Krone, links das apostolische Doppelkreuz. Denn Erzengel Gabriel soll nicht nur der Jungfrau Maria eine frohe Botschaft überbracht haben, wie es in der Bibel geschrieben steht, er soll später, im Jahr 1000, nochmals erschienen sein und Papst Silvester II. veranlasst haben, den Ungarn die heilige Krone zu schicken, denn das Land bekehrte sich zum Christentum.

    Am Budapester Heldenplatz, wo 1877 Europas tiefster Thermalbrunnen gebohrt wurde, sollte ursprünglich nicht der biblische Erzengel, sondern eine Dame Hungaria in der Mitte stehen. Dass man sich dann doch für Gabriel entschied, für das Christliche und das Europäische, dass beide zusammen Hand in Hand mit dem Ungarischen das Land der Magyaren ausmachen sollten, diese Botschaft des Gabriel leuchtet, während Chor und Orchester die Hymne spielen. Fast ereilte den Erzengel übrigens das gleiche Schicksal wie Donatellos David, der 1408 auf einem der Stützpfeiler der Kathedrale von Florenz aufgestellt werden sollte, am Ende aber heruntergeholt werden musste, denn der 191 Zentimeter große Marmor-David wirkte oben auf dem Pfeiler so klein, dass man seine Feinheiten kaum erkennen konnte. Erst Jahre später wurde er aufgestellt, ebenerdig, im Palazzo Vecchio. Als die Bronzestatue Gabriel um die Jahrhundertwende 1900 am Budapester Heldenplatz auf die schmale Säule gehoben wurde, lag es nicht an Gabriel, dass der Plan fast nicht aufging, sondern an der Säule, sie erzitterte mächtig, konnte glücklicherweise aber nachgebessert werden. Ein Rätsel bleibt allerdings, wie die mächtige Statue auf dem fragilen Pfeiler den Bombardierungen des 2. Weltkriegs entkam, nachdem zu seinen Füßen die anderen Figuren der Geschichts-Kolonnade litten, allem voran die Habsburger: Maria Theresia, Franz Joseph und König Peter Leopold von Habsburg-Lothringen wurden von Bomben getroffen, während Gabriel unversehrt auf die verwüstete Stadt blickte. Was er sah, gab indes keinen Anlass für Freude oder Optimismus: die sieben stolzen Donau-Brücken waren allesamt in den Fluss gestürzt; Budapests Straßen waren von Schutt und Asche bedeckt.

    Das Grauen war damit noch längst nicht vorbei. Gabriel musste auch nach dem Krieg zittern, denn die Partei plante den kompletten Abriss des Millenniums-Denkmals. Dass der Erzengel das Letzte war, was sie brauchen konnte, war ja nur konsequent. Das Christliche, das Europäische und das Ungarische, diese magyarische Dreifaltigkeit passte den kommunistischen Herrschern überhaupt nicht. Und sie kleckerten nicht, schließlich ging es um die Realisierung einer Utopie, und Utopien müssen groß gedacht werden. Kein anderes Wort hörte ich im kommunistischen Ungarn häufiger, als das Wort Welt-erlösung. Alle Verhältnisse umwerfen, umstürzen, umwälzen. Die Partei ging auch aufs Ganze und versuchte alles, was für die Ungarn lieb und wert war, auszulöschen, das alte Weltbild durch ein neues zu ersetzen. So sollten an die Stelle des Europäischen neue Vorbilder aus dem asiatischen Osten rücken, an die des Christlichen die kommunistische Utopie, an die des Ungarischen der proletarische Internationalismus. Gabriel sollte weg.

    Dass seine Statue am Ende doch nicht eingeschmolzen wurde, kam einem Wunder gleich, ist letztlich aber schlicht dem Pragmatismus der ungarischen Genossen zu verdanken. Denn den Platz mit dem Erzengel fand die Partei am Ende zu mickrig für ihr eigenes Vorhaben; sie brauchte einen viel größeren Aufmarschplatz. Große Visionen brauchen viel Raum, dachte die Partei, und ließ unweit vom Denkmal einen monumentalen Platz für das arbeitende Volk errichten, dort konnte (und sollte) die sozialistische Jugend Genosse Rákosi ungehindert und uneingeschränkt loben. Jenen Rákosi, der sich bescheiden den besten Schüler Stalins nannte und darin auch uneingeschränkt Recht behalten hat, denn in knapp drei Jahren gelang es ihm, fast jeden zehnten Ungarn wegen angeblichen staatsfeindlichen Aktivitäten anklagen, mehr als 40 Tausend Menschen internieren, Hunderte ermorden zu lassen, das Land in Angst und Schrecken zu versetzen. Auf den gigantischen Transparenten, die die sozialistische Jugend bei jenen Aufmärschen trug, stand wörtlich:

    Wir danken der Partei und Genosse Rákosi für unsere glückliche und fröhliche Kindheit.

    Für meine Eltern, auch wenn sie trotz widrigster Umstände, aber dank ihrer Eltern zweifellos eine glückliche und fröhliche Kindheit hatten, wäre Genosse Rákosi der Letzte, dem sie dafür hätten dankbar sein müssen.

    Von Gabriel irritiert fühlte sich übrigens auch schon Ungarns erste Proletarierdiktatur, die rote Räterepublik. Sie währte zwar nur knappe 133 Tage, ihren Anspruch aufs Ganze stellte sie aber keinesfalls unter den Scheffel, sie ließ es vielmehr rot leuchten. Als sie am 1. Mai 1919 Budapest ganz in Rot verkleiden ließ, holte sie auch Gabriel von der Säule und wandelte die Säule in einen kommunistischen Obelisken um. Die Habsburgerstatuen wurden zerstört, die Säule rot umhüllt, statt Gabriel blickte nun der neue Prophet Marx auf die Stadt. Weil die Zeit für eine ordentliche Skulptur aber nicht gereicht hatte, wurde es auf die Schnelle lediglich ein Gipskopf, der aber dann wenigstens größer sein musste als die Figur des Erzengels. So kam es, dass einige Wochen lang oben auf der 36 Meter hohen Säule am Budapester Heldenplatz ein sieben Meter großer Gipskopf von Marx thronte.

    Nach Kriegsende hatten Ungarns Kommunisten, die meisten aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrt, wesentlich mehr Zeit zum Umsturz. Skulpturen und Kirchen wurden zerstört. Allein für den Aufmarschplatz musste das imposante Budapester Theater mitsamt der Kirche Regnum Marianum weichen. Die neue Macht brauchte neue Symbole. Die Botschaft ließ an Klarheit nichts zu wünschen übrig: An die Stelle der Kirche kam eine Stalin-Skulptur. Ungarns christliche Schutzheilige Mutter Maria sollte durch Väterchen Stalin abgelöst werden. Stalin der Stählerne, wie der Vater des Großen Terrors sich nannte, bekam eine stattliche, acht Meter hohe und sechseinhalb Tonnen schwere Bronzestatue. Auch mit dem Postament wurde geklotzt, es ragte zehn Meter in die Höhe. Ob der Parteiführung die gnadenlos durchgesetzte Idee der Gleichheit überhaupt noch in den Sinn kam, während sie aus ihrer überhöhten Loge heraus dem nicht ganz freiwillig vorbeimarschierenden (enteigneten) Volk gnädig zuwinkte? Auf jeden Fall sandte sie sogar mit der Materialbeschaffung ihre Botschaft: Für die Statue des sowjetischen Kommunistenführers wurden die Skulpturen der ungarischen Geschichts-Kolonnade eingeschmolzen.

    Viel Stoff, viel Mühe. Nichtsdestotrotz schaffte es Stalin nicht, zum neuen Schutzheiligen Ungarns aufzurücken. Nicht weil er in seinen jungen Jahren im großen Stil Raubüberfälle beging und Schutzgelder erpresste, nicht weil seinem Großen Terror auf dem Höhepunkt der politischen Säuberungen in den Jahren 1936–1938, mein Vater war gerade geboren, täglich um die 1000 Menschen zum Opfer fielen, nicht weil Millionen Menschen im Gulag, in der Haft, während und in Folge der großen Umsiedlungen, Deportationen, politischen Verfolgungen und Exekutionen starben. Wie viele Menschenleben Stalin genau zu verantwortet hat, darüber scheiden sich bis heute die Geister. Mögen Historiker und Politiker darüber streiten, ob die Zahl der Opfer der politischen Repressionen zwischen 1927–1953 etwa 40 Millionen betrug, wie der einstige Kommunist, ZK-Mitglied Roi Medwedew behauptet oder ob das Sowjet-Regime insgesamt 66,7 Millionen Todesopfer forderte, zu dieser Zahl kommt Solschenizyn – ins kollektive Gedächtnis der Menschen und der Völker, die unter Terror der großen Sowjetunion litten, sollten sich die Massentötungen, die Angst und die Verfolgung unwiderruflich eingeprägt haben.

    Niemand hätte in dieser Silvesternacht gedacht, dass es schon bald jemanden geben könnte, der dies Unwiderrufliche zu widerrufen versuchen werde; dass es ausgerechnet einem einstigen KGB-Mann gelingen werde, bald schon den Massenmörder Stalin zu rehabilitieren und zu glorifizieren; dass der 1989 in Leipzig stationierte (und gescheiterte) unscheinbare KGB-Agent Vladimir Putin – damals trug er den abfälligen Spitznamen die Motte – in etwa drei knappen Jahrzehnten Russland (wieder) zum Polizeistaat mit imperialem Gehabe verwandeln werde. Dass noch nicht einmal ein Jahrhundert nach dem Großen Terror in Russland Denunziation und (Gift)Mord genauso auf der Tagesordnung sein werden wie Kriege, ein Angriffskrieg ausgerechnet gegen die Ukraine – gegen die schon Stalin einen grausamen Krieg geführt und dort die Tötung von mehr als zehn Millionen Menschen zu verantworten hatte: In den Jahren 1932–1933 ließ er im Holodomor, wörtlich Tötung durch Hunger, täglich zehn bis 20 ukrainische Familien verhungern, wie Anne Applebaum im Roten Hunger nachgewiesen hat.

    All das wissen die Menschen in dieser hoffnungsfrohen Silvesternacht hinter dem Eisernen Vorhang, schon gar nicht in diesen Details, übrigens auch jenseits des Eisernen Vorhangs kaum, obwohl dort der Nobelpreisträger Solschenizyn spätestens mit seinem Buch Archipel Gulag ausführliche Berichte über den sowjetkommunistischen Massenterror veröffentlicht hatte. Es gibt zwar Heimkehrer und Überlebende, im Ostblock aber schweigen sie, weil sie nur knapp dem Tod entkamen und unter Todesdrohungen zum Schweigen verpflichtet wurden. Auch Solschenizyn überlebte nur knapp das Rizinus-Gel aus der Gift-Küche des Kremls, von der KGB dem unliebsamen Nobelpreisträger verabreicht.

    Trotz alledem, trotz all der verschwiegenen Fakten und Zahlen, all den Grausamkeiten und Brutalitäten, all den falschen Erzählungen gelingt es Genosse Stalin in Ungarn nicht, Herzen zu gewinnen: Der Rote Zar, noch so massiv gebaut, bleibt nicht lange auf seinem Podest stehen, schon im Herbst 1956 stürzen Aufständische die mächtige Figur. Ein Kraftakt muss das gewesen sein, am Ende blieben nur noch die gigantischen Stiefel des Stählernen auf dem Sockel.

    Die Partei lernte daraus. Fast eine ganze Dekade verging, bis sie eine neue Skulptur an die Stelle des gestürzten Stalin zu setzen wagte. Stalin war da schon längst tot und aus der Mode. So wurde es eine Lenin-Statue, nur noch vier Meter groß, wirkte fast schon mickrig an der Stelle des einstigen Acht-Meter-Giganten.

    Dass Lenin auch größer ging, zeigte fünf Jahre später SED-Chef Ulbricht, als er 1970 im Ostberliner Friedrichshain eine 19 Meter hohe Lenin-Statue einweihte. In der Silvesternacht zu 1989 steht Lenin zwar noch unverändert am Budapester Aufmarschplatz, doch niemand schert sich um ihn. Und was er hört, von direkt nebenan, unter den ausgebreiteten Flügeln des Erzengel Gabriel, wird ihn kaum erfreut haben: die mit besonderer Inbrunst vorgetragene ungarische Hymne. Auch landauf, landab sollen die gesungenen Verse der Hymne so viele Tränen hervorgelockt haben wie nie zuvor:

    Gib dem Volk der Ungarn, Gott, / Frohsinn, Glück und Segen … / Ihm, das lange Schmach ertrug, / Schenke wieder Freuden, / Denn es büßte hart genug / Schuld für alle Zeiten. (Ü. Bostroem, magyarulbabelben.net)

    Der Fluss der Emotionen will gar nicht mehr aufhören, denn auf die Hymne – sie ist mehr ein sanftes Klagelied – folgt der Szózat, ein kämpferischer Mahnruf des Romantikers Mihály Vörösmarty, von Franzosen die ungarische Marseillaise genannt; entschlossen rezitiert ihn in dieser Nacht ein Schauspieler kurz nach Mitternacht:

    Es kann nicht sein, dass so viel Blut / so ganz umsonst verrann, / … Noch kommen wird und kommen muss / einst eine bessre Zeit … (Ü. Leicht).

    Ob Parteimitglied oder nicht, ob Gläubiger oder nicht, ob Unzufriedene oder nicht – das sind Worte, die alle gut finden.

    Zu den Klängen der Nationalhymne wünschten sich in dieser Silvesternacht beinahe alle, dass die Nation endlich ein frohes Jahr haben sollte (Kis, J.: 1989: A víg esztendő, Beszélő Nr. 10, 1989/4),

    sagt der Philosoph János Kis, einst gläubiger Marxist, von der Partei aber aus ihren Reihen geworfen, nachdem seinen Schriften eine antimarxistische ideologisch-politische Plattform attestiert wurde. Denn kritische Geister duldet die Partei nicht, auch nicht solche aus den eigenen Reihen. Dass genau dies sie bald schon zu Fall bringen wird, werden die mächtigen Genossen zu spät begreifen.

    Hinter dem Eisernen Vorhang spielt das alles einstweilen kaum eine Rolle, weder die kritischen Geister im kommunistischen Ungarn noch der sehnsuchtsvolle Seufzer eines ganzen Landes nach einer bessren Zeit, die kommen wird, weil sie kommen muss.

    Denn eine bessere Zeit wünscht sich ja jeder, wer wollte sie nicht haben? Sogar Bundeskanzler Helmut Kohl wünscht den Bundesrepublikanern – aus dem Elend des Ostblocks heraus betrachtet dem glücklichsten Volk auf Erden – mehr Freude.

    Wir brauchen mehr Freude in diesem Land,

    sagt er wörtlich. Nicht an die Schmach der Ungarn, nicht an die Unzufriedenen in der DDR denkt seine Zuhörerschaft, nicht an die 195 Bürger, die nach dem neuesten Stasi-Bericht im Jahre 1988 die DDR über die Staatsgrenze… ungesetzlich verließen, … 50 % mehr, als im Jahr 1987, nicht an die Tausenden von Unzufriedenen, denn laut Stasi-Bericht wurden im gleichen Zeitraum vorbereitete und versuchte ungesetzliche Grenzübertritte von 2.312 (Vorjahr: 1.732) Bürgern der DDR verhindert. (BStU, MfS, ZAIG 8676, 18).

    Von Freude ist in der DDR nicht die Rede. Da wird keine Hymne gesungen, da ruft kein Regierungschef nach mehr Freude.

    Am 2. Januar 1989 besetzen vier DDR-Bürger die Bonner Vertretung in Ostberlin, sie wollen ihre Ausreise erzwingen. Zeitgleich besetzen Ausreisewillige auch in Prag die Botschaft der Bundesrepublik. Das Jahr beginnt in Ostdeutschland auch mit anderen unerfreulichen Vorkommnissen, wie schon jedes Jahr und nicht erst seit dem Mauerbau, es beginnt mit Festnahmen:

    Im Zeitraum vom 2. Januar bis 8. Januar 1989 erfolgte die Festnahme von insgesamt 83 Bürgern der DDR, davon

    – 11 Festnahmen wegen Straftaten im Zusammenhang mit Versuchen die ständige Ausreise zu erreichen

    – 72 Festnahmen wegen vorbereiteter bzw. versuchter ungesetzlicher Grenzübertritte. …

    … an den jeweiligen Sprechtagen (erfolgten) bisher 6.406 Vorsprachen von Bürgern der DDR bei den zuständigen Organen Inneres der Räte wegen Anliegen zur ständigen Ausreise für insgesamt 13.187 Personen … (BStU, MfS, ZAIG 4590, 48, 62).

    Der Ruf des Helmut Kohl nach mehr Freude wird in der Bundesrepublik zum Achtungserfolg: Es wird zum Wort des Jahres gekürt, denn es trifft offenbar einen Nerv. Freude wird eines der drängenden Themen des Jahres. Das Lied Don’t worry, be happy wird gleich drei Grammys abräumen, das Buch Sorge dich nicht, lebe, wird lange Zeit auf der Bestseller-Liste ausharren, Elfriede Jelineks neuer Titel Lust wird zum Erfolgsbuch des Jahres. Glückslieder erobern die Charts auch in Ungarn, von ihrem neuen Lieblingssong mit dem schlichten Titel Love können die sonst eher für ihren Csárdás bekannten Magyaren nicht genug bekommen:

    Hogy eltompuljon a fájdalom, / mosoly fakadjon az arcokon / Mondd: love, love, love …// Um den Schmerz zu betäuben / Um Lächeln auf die Gesichter zu zaubern / Sag: Love, Love, Love.

    Diese leichte Fröhlichkeit ist nicht nur im Osten noch ganz jung, sondern auch im Westen. Denn eigentlich entspringt selbst das Freude-und-Optimismus-bringende Wiener Neujahrskonzert einem der dunkelsten Kapitel europäischer Geschichte. Daran, dass das erste Neujahrskonzert im Jahr 1939 der Führer persönlich eröffnete, dass es dem Kriegswinterhilfswerk gewidmet war, denkt in dieser Silvesternacht kaum noch jemand. Auch 1941 wurde das Konzert der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude gewidmet. Und genau das, die Freude, ist den Europäern während und nach dem Leid durch den Krieg, nach dem Verbrechen des Holocausts, verloren gegangen. Brecht dichtete:

    Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

    Es dauerte lange, bis es wieder möglich – und dann auch wieder nötig – wurde, über Bäume zu sprechen und sich nun auch in Deutschland mehr Freude zu wünschen.

    Das Fernsehprogramm der Bundesrepublik fokussiert sich zu diesem Jahreswechsel auf die Heimat, und noch viel mehr auf die weite Welt: Auf Sissi und Geschichten aus der Heimat folgen Tango aus Argentinien, Unterhaltsames aus Madrid, Unterwegs in Texas, Bilder aus Paris und Jenseits von Afrika. Die Bundesbürger lieben die Ferne. Ihre Reiselust war schon kurz nach dem Kriegsgräuel wiedererwacht: In den 50ern ging es nach Bella Italia, mit Ravioli und in Caprihose, seit den 80ern pilgern Millionen Deutsche nach Mallorca, allein im Jahr 1989 entspannen mehr als zehn Millionen Bundesrepublikaner auf der Sonneninsel.

    Um Weltoffenheit bemüht sich auch das DDR-Fernsehprogramm. Von Mallorca und Bella Italia können die Bürger des Landes aber höchstens träumen – und das tun sie auch. Äußerst taktvoll von den Programmgestaltern des DDR-Fernsehens, dass sie keine Bilder aus dem für DDR-Bürger nicht zugänglichen Teil der Welt senden. Dafür senden sie aus Kuba Lieber Pablo, einen Film mit dem Liedermacher Pablo Milanez, der nicht nur Kubaner ist, sondern auch auf festem ideologischem Boden steht. Legendär die Szene, wie das Aushängeschild von Kubas kommunistischer Partei von einer Tournee zurück am Flughafen Havanna höchstpersönlich von Staats- und Regierungschef Fidel Castro in Empfang genommen wurde. Im kommunistischen Ostblock muss man nämlich nicht nur singen können, wenn man Liedermacher werden will.

    Auf Lieber Pablo folgt ein sowjetischer Dokumentarfilm über den Nordpol, dann Bergsteigen in der Sächsischen Schweiz, und am Abend doch auch noch ein Film aus dem Westen, aber einer, der ideologisch unverdächtig ist: lustige Schlägereien mit Bud Spencer und Terence Hill. Hau-drauf-Komödien schaut nämlich auch Staatsratsvorsitzender Erich Honecker gerne. Zudem gehört Terence Hill nicht nur zu den Besten des Genres, er hat auch eine deutsche Mutter und verbrachte seine Kindheit im sächsischen Lommatzsch – damals noch unter dem Namen Mario Girotti. Der einstige Sachse, der als Italiener weltberühmt wurde, wird allerdings erst Jahre später auf seine sächsischen Wurzeln Wert legen. Das Italienische zieht in das Programm auch durch den jungen Placido Domingo ein, der eine ideologisch einwandfreie Rolle singt, nämlich die des Othello, der Kampf gegen Rassismus gehört in dem SED-Staat zu den Grundfesten – in der offiziellen Rhetorik, nicht ganz so im täglichen Leben: Etliche der knapp 94.000 ausländischen Werktätigen in der DDR, Vertragsarbeiter aus Angola, Kuba, Mosambik oder Vietnam, erleben massiven Alltagsrassismus, manche mit tödlichen Folgen, wie Historiker erst später herausfinden werden, unter den Tausenden Opfern von rassistisch motivierten Angriffen kamen mindestens zehn ums Leben. Zum Schluss, nach dem kleinen italienischen Abenteuer, stellt das DDR-Silvesterprogramm mit einem kubanischen Film die Ordnung wieder her.

    Am ersten Tag des Jahres 1989 gibt es zwei gemeinsame Sendungen auf beiden Seiten von Grenze und Mauer, die die Deutschen seit dem 13. August 1961 teilen: das Neujahrskonzert aus Wien und das Neujahrsskispringen aus Garmisch, beide werden live übertragen in der Bundesrepublik und in der DDR.

    Das Wiener Neujahrskonzert wird auch in Ungarn gezeigt, dort lässt es die Herzen besonders hochschlagen. Nicht nur, weil der legendäre Dirigent Carlos Kleiber das Konzert zu einer Sternstunde des Walzers macht, laut der Kritik, sondern weil Kleiber auch das sonst nur selten gespielte Johann Strauss-Opus-332 erklingen lässt:

    Éljen a magyar! (Lang lebe der Ungar!)

    – die Schnellpolka, die der Walzerkönig der edlen ungarischen Nation widmete. Kleibers Taktstock schwingt wie von allein:

    So schön, so wunderbar weich, hauchzart-fein nuanciert bis aufs i-Tüpfelchen und hochgespannt-nervig,

    schwärmt die Kritik. Dann lässt der Dirigent den Taktstock fallen, nur noch sein Körper dirigiert, zum Schluss nur noch seine Augen, und doch führt er den Takt, mit einer Zurückhaltung, in der die Explosion bereits lauert. Und sie kommt, wie der Sturm am See, leidenschaftlich flutend, bis zum Höhepunkt des Satzes Lang lebe der Ungar!, und das Publikum feiert mit frenetischem Beifall, es feiert die Musik, feiert Kleiber und feiert die edle ungarische Nation, die unweit von Wien, gefangen noch im kommunistischen Ostblock, gerade wieder besonderen Mut zeigt.

    Die Nachbarschaft zwischen Österreichern und Ungarn war freilich nicht immer nur gut. Als Strauss 1869 die Polka schrieb, galt sein Ungarn bejubelndes Stück am Wiener Hof als äußerst heikel. Nicht ohne Stolz meldete Strauss nach der Wiener Premiere im Jahr 1870 an seinen Verleger: Gestern wagte ich, die ungarische Polka auf dem Hofball zu spielen. Ein Jahr zuvor wurde das Stück in Pest uraufgeführt, es in der Kaiserhauptstadt zu spielen galt aber als Provokation, zitierte es doch unverkennbar das berühmte Freiheitslied der Ungarn, den Rákóczi-Marsch, dem Fürsten Ferenc Rákóczi gewidmet, dem Anführer des größten Aufstandes ungarischer Adeliger gegen die Habsburger. Aber genau deshalb, wegen dieses Rebellischen, feiert jetzt, zu Jahresbeginn 1989 das Wiener Publikum ausgerechnet diese Ungarn-Polka so frenetisch. Die Magyaren befinden sich gerade (und schon wieder) in einem Freiheitskampf, sie rebellieren aber diesmal nicht gegen die Habsburger, die Habsburgermonarchie gibt es ja längst nicht mehr. Die Wiener dürfen mit Sympathie und Empathie auf die mutigen Magyaren schauen, die sich diesmal vom sowjetkommunistischen Joch befreien wollen.

    Für die Deutschen wird es 1989 schwierig (Zeit 1/89),

    verkündet die bundesrepublikanische Wochenzeitung Die Zeit. Sie meint nicht die DDR-Deutschen – das Jahr 1989 soll für die Westdeutschen schwierig werden. Denn sie ringen auch noch 40 Jahre danach mit der Frage, wie das passieren konnte, im Land der Dichter und Denker, im Land von Goethe, Schiller, Kant, Lessing, Bach und Beethoven. Die Überschrift zum anstehenden Jubiläumsjahr 40 Jahre Bundesrepublik fällt zurückhaltend aus, von Jubelstimmung kann nicht die Rede sein: Im 40. Jahr ihres Bestehens sucht die Bundesrepublik nach Normalität. Der Grund dafür: Das nationalsozialistische Verbrechen, dessen Ende die Gründung der Bundesrepublik erst ermöglichte, überschatte den Erfolg der zurückliegenden vier Dekaden demokratischer Entwicklung:

    Fünfzigster Gedenktag oder vierzigster Geburtstag: Darin ist die ganze Ambivalenz des Jahres 1989 enthalten. Wenn die Bundesrepublik sich vierzig Jahre nach ihrer Gründung feiert, zitiert das europäische Ausland eine ganz andere deutsche Chronologie. (ebd.)

    Auch das andere westdeutsche Leitmedium, das Nachrichtenmagazin Der Spiegel sieht keinen Anlass zum Feiern und entscheidet sich für ein anderes, unverdächtiges Jubiläum. Der Gründer und Herausgeber Rudolf Augstein nimmt sich der Französischen Revolution persönlich an und startet in der ersten Spiegel-Ausgabe des Jahres 1989 eine monumentale Artikelserie zu der Zweihundertjahrfeier 1789–1989. Dem Freiheitskampf der Franzosen gedenkt Augstein in aller Ausführlichkeit gerecht zu werden: Bereits der erste Teil, Vom Freiheitsrausch bis Waterloo überschrieben, umfasst ganze 14 Seiten. Und das ist nur der Anfang, in den nächsten sieben Ausgaben folgen weitere detaillierte Schilderungen.

    Jeder osteuropäische Freiheitskämpfer, jeder DDR-Fluchtwillige – ob schon in Haft, in der Planung oder bereits auf der Flucht –, jeder politische Gefangene in den Gefängnissen des Ostblocks – viele davon mehr Folterkammer als Haftanstalten –, all die Unzufriedenen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen drüben, jenseits des Eisernen Vorhangs, wünschten sich wenigstens einen Bruchteil dieser Aufmerksamkeit.

    Dem Spiegel aber geht es nicht um jene Trinität der Französischen Revolution, die Osteuropas Freiheitskämpfer schon seit bald vierzig Jahren, aber gerade wieder mit besonderer Inbrunst heraufbeschwören, nicht um die Trinität von Liberté, Égalité und Fraternité – das meinungsstarke bundesrepublikanische Magazin blickt gen Westen: Das erste Spiegel-Titelblatt des Jahres 1989 zieren die drei aufgespießten Köpfe von Ludwig XVI, Danton und Robespierre.

    Die bundesrepublikanische Fokussierung auf die Französische Revolution empfindet auch Walter Kempowski als übertrieben, der Schriftsteller, der sich als der literarische Chronist der Deutschen und ihrer Geschichte einen Namen machte. Er notiert in sein Tagebuch:

    Im Radio war eine Collage über die Französische Revolution zu hören. Damit werden wir nun das ganze Jahr gefüttert werden. Ich schaltete mich mehrmals ein, legte dann aber doch Mozart auf, den ich dann allerdings auch nicht mehr hören mochte. Zu abgenudelt. (Kempowski: 2001, 19)

    Denn sehr wohl gibt es inzwischen in der Bundesrepublik eine Normalität: Mallorca ist Normalität, auch der Mercedes und der VW Golf, der Wohlstand und der Wohlfahrtsstaat – die Ergebnisse des freien Marktes lassen sich sehen. Denn erst dadurch wurde auch eine politische Stabilität zur Normalität, die Ende der 60er Jahre zwar durch eine erste Rezession erschüttert wurde, auch durch die anschließenden Krisen, durch Aufruhr und Proteste, die sexuelle Revolution und den Streit um die Atomkraft; und der Deutsche Herbst, der Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) drohte sogar die Bundesrepublik zu zerreißen. Die Ordnung der Bundesrepublik bewährte sich trotz alledem als stabil. Zum Jahresbeginn 1989 konnte zwar der letzte RAF-Anschlag, der noch im Herbst 1988 erfolgt war, alte Ängste hervorrufen, Ängste vor einer fast vergessenen Terrorgruppe: der »Roten Armee Fraktion« (RAF), die in ihren Mord- und Raubzügen binnen 18 Jahren an die 30 Menschen umgebracht hat, laut Spiegel (39/88). Und doch sei das alles schon wieder fast vergessen, denn die Bundesrepublikaner können sich zu diesem Jahresbeginn über steigende Einkünfte und eine historisch hohe Rentenprognose freuen sich, laut Spiegel sogar auf eine zunehmend entspannte weltpolitische Lage freuen, denn:

    … seit dem Amtsantritt von Generalsekretär Michail Gorbatschow nimmt die Angst vor einer sowjetischen Bedrohung rapide ab, der Wehrwille unter den jungen Leuten sinkt. (»Wir sind doch nicht im Krieg«, spiegel.de, 01.01.89, 1/89)

    Wie sich die jungen Leute irren, wie sich der Spiegel irrt, bezüglich der schwindenden sowjetischen Drohung und der Entspannung der weltpolitischen Lage, wird der Welt schon in knapp einem Vierteljahrhundert, 2014, spätestens aber 2021 in aller Brutalität vorgeführt.

    Jenseits der Grenze bereitet sich die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) mit weniger Skrupel auf das 40-jährige Jubiläum vor, von der geplanten großen Macht- und Kraftdemonstration kann sie nichts abbringen, nicht die Fluchtwelle, nicht der anstehende 50. Gedenktag des Holocaust. Nicht dass der SED-Staat des nationalsozialistischen Verbrechens nicht gedenken würde: Antifaschismus ist in der DDR Staatsdoktrin, und der Kampf gegen den Faschismus auch noch 44 Jahre danach allgegenwärtig. Denn in der Auffassung der SED droht auch noch im Jahr 1989 eine faschistische Gefahr, aus der Bundesrepublik und aus dem kapitalistischen Ausland. Hinzu kommt, dass auch Faschisten in der DDR bekämpft werden müssen – als solche gelten im kommunistischen Ostblock all die Feinde des Sozialismus. Um diese faschistischen Gefahren zu bannen, um die DDR-Bevölkerung vor den ausländischen Kapitalisten und Faschisten zu schützen (es gab DDR-Forscher, die den Faschismus als Resultat und Endstufe des Kapitalismus definierten), baute der SED-Staat eine Schutzmauer, eine Grenzanlage mit streng bewachten Zäunen, Sperrzonen, Schutzstreifen und Kontrollstreifen. Diese innerdeutsche Grenze, am Ende ist sie 1.400 Kilometer lang, bot offenbar nicht genug Schutz, die Fluchten aus der sozialistischen DDR in die kapitalistisch-faschistische Bundesrepublik wollten nicht aufhören, so vervollkommnete die Partei den Schutz gegen Faschisten, Kapitalisten und Imperialisten und baute auch noch die Berliner Mauer.

    Sie steht noch immer, schon seit 28 Jahren, sie heißt noch immer der antifaschistische Schutzwall, und der SED-Staat demonstriert noch immer, immer wieder, wie ernst es ihm ist mit dem Schutz seiner Bürger. An Grenze und Mauer gilt der Schießbefehl, streng geheim, wie so vieles anderes im kommunistischen Ostblock. Von diesem offiziell stets abgestrittenen Schießbefehl wird auch Gebrauch gemacht, auch noch im Jahr 1989, streng geheim.

    Als im Neujahrskonzert der berühmteste Walzer aller Zeiten erklingt, das Opus 314, bekannt als der Donauwalzer, lässt meine Mutter die Kochkelle fallen, sie dreht in der Küche mit Vater eine Runde. Die beiden können das gut, obwohl sie nur selten tanzen, eigentlich nur bei Hochzeiten, im realsozialistischen Ungarn bleibt die Lebensfreude eine private Angelegenheit. Dass im kapitalistischen Ausland sogar an Parteitagen getanzt wird, gehört zu den späteren Lebenserfahrungen unserer sozialistisch geschulten Seelen, solch fröhliche Ausgelassenheit in der Öffentlichkeit ist dem missionarischen Eifer des Sozialismus wesensfremd. Unsere Genossen inszenieren ihre hohen Staatsangelegenheiten, die mehr Partei- als Staatsangelegenheiten sind, stets bierernst und stocksteif, in ihren schlecht sitzenden Anzügen. Die offene Fröhlichkeit, die an diesem Neujahrstag bis in unsere Küche dringt, zu den schwingenden Takten des Donauwalzers, ist neu. Neu ist die Hoffnung, die mitschwingt, dass Ungarn nicht ewig im Schwermut Von der Moskwa an die Newa gefangen bleibt, die Hoffnung auf die Donau, die Ungarn mal mit der Welt verband, die Schöne Blaue mit ihren Städten, Wien, Bratislava und Budapest, in denen auch mal Leichtsinn, Humor, Ironie heimisch war, die so viele Töchter und Söhne des Landes beflügelten; sogar die kleine südungarische Stadt Baja brachte einen Dichter hervor, Karl Isidor Beck. Es waren seine Verse über die die schöne blaue Donau, die den großen Johann Strauss zu seinem berühmtesten Walzer inspirierten, und er klingt und fließt an diesem neuen Tag des neuen Jahres unaufhörlich, sein fröhlicher Takt lässt meine Eltern sich immer weiter drehen und wenden.

    Mit ihren 50 Jahren stehen meine Eltern gerade mitten im Leben. Später werden sie sagen, ihr halbes Leben wurde von den Kommunisten gestohlen. Ihr Leben begann nicht zu guten Zeiten, mitten im Krieg. Zu ihren allerersten Erinnerungen gehören Sirenen, Bomben und Tote, eine der Bomben fiel direkt in den Hof meiner Großeltern. Das Hals-über-Kopf-Rennen vor den Bomben ist eines der ersten Bilder, die sich meiner Mutter einprägten, wie sie, das kleine vierjährige Mädchen, jedes Mal allein in den Keller rennen musste, wie ihr nachgeschrien wurde, aufzupassen, nicht zu stürzen, denn die Kellertreppen waren nass und uneben, auch viel zu hoch für ihre kleinen Beine, zudem kamen die schweren Kürbisse am Treppenrand leicht ins Rollen. Sie aber musste hinunter, denn ihre Mutter kümmert sich um das Baby und rannte mit ihm auf dem Arm in den Keller, in der Hand die gerade aufgemachten Windeln, Bilder, die meine Mutter niemals vergessen wird, die Angst vor den Soldaten, erst vor den Deutschen, dann vor den Russen. Zuerst war die Angst, später, als sie uns Kindern davon erzählte, wurden zunehmend auch nette Anekdoten daraus.

    Unsere Lieblingsgeschichte war die von der barisnja, so nennen die Russen ihre Frauen. Die barisnja, von der Oma erzählte, soll einen schwarzen Rock und schwarze Stiefel getragen haben, ihr Gewehr passte aber zu diesem Outfit irgendwie gar nicht, fand Oma. Als die russische Soldatin das Haus betrat, soll ihr Blick sofort auf den Kinderwagen gefallen sein, das kleine Schwesterchen lag darin, alle begannen zu zittern. Sie ging tatsächlich zum Wagen und verpasste ihm einen gewaltigen Fußtritt. Da schrien alle auf, meiner Mutter klingt das bis heute in den Ohren. Als der Wagen mit dem Baby gegen die Wand raste, schrie auch schon die barisnja, und sie schrie am lautesten, nemecki djeti puff puff (deutsche Kinder puff puff) schrie sie, woraufhin plötzlich alle aufhörten zu schreien und zu heulen, Totenstille herrschte im Raum, auch die barisnja wurde still, fast schon sanft, und erklärte, irgendwie mit Händen und Füßen, dass sie nur zeigen wolle, wie die Deutschen mit unschuldigen Babys umgehen, aber wir Russen sind nicht so, soll sie gesagt haben, wir erschießen keine Babys.

    Der kleinen Schwester meiner Mutter wurde am Ende nichts angetan, weder von Deutschen noch von Russen, und einige Tage später kam es sogar dazu, dass ein russischer Offizier, Peter hieß er, meine Oma vor einem übergriffigen Dorfbewohner in Schutz nahm, vor einem jener Landsleute, die über Nacht zum Kommunisten wurden, als die Zeit danach war, der auf die Idee kam, das Sofa meiner Großeltern aus deren Privateigentum auszulösen. Uroma sagte klauen. Peter ließ es nicht zu, rettete das Sofa im Haus, das nur noch Frauen und Kinder beherbergte, denn Opa war ja an der Front. Der Übeltäter versuchte zwar zu fliehen (es bleibt ein Rätsel, wie ihn seine dicken Beine nach Hause trugen), sogar zweimal floh er, und zweimal wurde er gemeldet, von aufmerksamen Nachbarn, denen es nicht entgangen ist, wie er sich im Dunkel der Nacht ins Haus schlich, ins eigene Haus. Der neue Tag war noch nicht angebrochen, die geschwollenen Beine noch kaum zur Ruhe gelegt, schon wurde er abgeholt.

    Unsere andere Lieblingsstory, wir Nachkriegskinder fanden das alles schrecklich und doch spannend, ging so: Wir waschen unseren Arsch in diesem Topf, hörst Du? Und ihr trinkt daraus? soll Urli, unsere fitte Urgroßmutter, die russischen Soldaten angeherrscht haben, wenn die im Keller schon wieder Wein aus dem Fass zapften, in Urlis Nachttopf, sie nutzten es schlicht als Trinkgefäß.

    Uroma war auch sonst tapfer, sie beschmierte das Gesicht ihrer Tochter (meiner Großmutter) mit Asche. Wagte sich doch nur jemand ihr zu nähern, soll sie gedonnert haben: Fass sie nicht an, hörst du nicht, wie sie hustet? Sie hat Tuberkulose, du kriegst es auch, wenn du sie anfasst, ponjimaesch? Du wirst krank, und dann bist du tot, konyec! Verstehst du, was ich sage?

    Die Asche im Gesicht half nicht allen, das schwarze Kopftuch nicht, noch so tief es ins Gesicht gezogen war. Zwei Tanten aus der Nachbarschaft, von russischen Soldaten zum Kartoffelschälen verschleppt, erzählten zwar niemals, was ihnen angetan wurde, sie ließen aber niemals wieder einen Mann an sich heran.

    Wunden, die niemals heilen wollen. Andererseits schien das Grauen jener Jahre auch erstaunlich schnell in die Ferne gerückt zu sein. An diesem 1. Januar 1989 denkt kein Mensch mehr an die einstige NS-Vereinnahmung des Walzers, kaum jemand noch an die einstigen Lebensstationen des Karl Isidor Becks, von Baja ging er nach Wien und Budapest, Leipzig und Berlin, von dort aus wieder nach Wien und Weimar – die Wege sind längst gesperrt. Die neuen Bildungswege führen nach Moskau, die besten Genossen sind die Moskowiter. In Moskau geschult ist der ungarische Stalin, Mátyás Rákosi genauso, wie der Held des 56er Aufstands Imre Nagy. Der Kampf um die Macht treibt merkwürdige Blüten, Ungarn kämpfen gegen Ungarn, Moskowiter gegen Ungarn, Moskowiter gegen Moskowiter …

    Aber in diesem Jahr 1989 geht es nicht mehr um die in Moskau Geschulten. Es sind ganz andere Geschichten, die die Menschen im Land erzählt bekommen wollen. Sie sind hungrig nach den Geschichten derer, die nicht freiwillig, nicht zu Schulungszwecken in die Sowjetunion gingen. Nach den Geschichten der einst in die Sowjetunion Verschleppten. Sie wollen hören, was sie in all den zurück liegenden Jahren und Jahrzehnten höchstens ahnen konnten, oder wenn ihnen doch noch etwas zu Ohren gekommen war, dann eben verschweigen mussten, die Erzählungen über Hunger und Folter, über Vertreibung und Exekution, über Verfolgung und Erniedrigung, die Geschichten über die Toten, die Morde und die Tötungen. Uns Nachkriegskindern im kommunistischen Ostblock wurde das alles niemals erzählt, höchstens Bruchstücke bekamen wir mit, wenn die Erwachsenen hinter vorgehaltener Hand einander die verschwiegenen Geschichten zuflüsterten.

    Wir lernten in der Schule wie Ungarn östliche Horden abwehrte, wie tapfer unser Land Tataren und Türken aufhielt, wie es zum stolzen Schutzwall für das christliche Europa wurde. Wir lernten, wie wenig Dankbarkeit dieses christliche Europa zeigte, wie Ungarn bald schon nicht nur aus dem Osten, sondern auch aus dem Westen bedrängt wurde. Wir lernten, wie der berühmtberüchtigte österreichische Feldherr Julius Jakob Freiherr von Haynau den ungarischen Freiheitskampf 1848/49 niederwarf. Dass ihm dies dank russischer Hilfe gelang, spielte in den sozialistischen Geschichtsbüchern keine Rolle. Wir lernten, dass ein Ungar niemals mit Bier anstößt, seitdem Haynau mit seinen Offizieren auf die Hinrichtung unserer Freiheitskämpfer mit Bier angestoßen haben soll, nachdem er zuvor den 13 Anführern freies Geleit versprochen hatte. Wir lernten nicht, dass gut hundert Jahre später auch den 56er Aufständischen, Imre Nagy und seinen Gefährten freies Geleit zugesichert worden war, nicht, wie auch sie, trotz des Versprechens, hingerichtet wurden, von den Sowjets und ihren ungarischen Verbündeten.

    Dass dieses fast schon verschüttete Kapitel ungarischer (Leidens-)Geschichte im Jahr 1989 mit solch einer Wucht aufbrechen wird, dass es das Zeug zu einem Umsturz hat, dass es die Geschichte wenden kann (und das innerhalb eines knappen Jahres) – zu diesem Jahresbeginn ist das nicht zu denken. Während in Ungarn aus all dem Leid schon wieder eine Leidenschaft wächst, eine für die Freiheit der Nation – sie soll doch noch möglich sein, nachdem schon Tataren, Türken und Habsburger sie vergeblich zu nehmen versuchten –, ist die ehemals nicht weniger stolze Kulturnation der Deutschen gefangen in der Teilung, als Resultat des größten Verbrechens in der Geschichte der Menschheit (so nannte sogar der NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann den Holocaust), das ausgerechnet für Stolz und Leidenschaft keinen Raum mehr lässt. Der eine Teil Deutschlands übt sich also in Nüchternheit und strebt nach Normalität, der andere Teil bemüht sich den Kampfgeist wieder zu entzünden, unablässig, diesmal für die gute Sache, für die sozialistische, und diesmal für die richtige Partei, die einzig richtige, die SED. Noch wird das Lied gesungen, von einer Leidenschaft für die Partei kann freilich nicht die Rede sein:

    Die Partei, die Partei, die hat immer Recht! … So, aus Leninschem Geist / Wächst zusammengeschweißt, … Vorwärts Genossen, packt an!

    Die selbstauferlegte emotionale Abstinenz der Bundesrepublik schwächelt gerade ebenfalls, nicht umsonst ruft Helmut Kohl nach mehr Freude, die Enthaltsamkeit ist schwer durchzuhalten.

    Wie sehr die Freude fehlte, zeigt das Beispiel der Nationalhymne: Bei Fußballspielen und Staatsempfängen fehlte sie schon in den 50ern, denn wie sollen zwei Nationalmannschaften gegeneinander aufs Spielfeld treten, wenn nur die eine Mannschaft ihre Liebe zur Nation kundtut? Wie zwei Staatschefs aufeinandertreffen, wenn nur die eine Hymne gespielt wird? Es gibt zwar das Deutschlandlied, und der vielfach begabte Dichter, Germanist und Sprachforscher August Heinrich Hoffmann von Fallersleben hatte sich dabei auch nichts Böses gedacht, als er es dichtete, im Jahre 1841, auf der einsamen Nordseeinsel Helgoland (damals übrigens noch britische Kronkolonie).

    Abgelegen, in der tiefsten Einsamkeit des nordöstlichen Szatmárcseke wurde auch die ungarische Nationalhymne gedichtet, aus der die Ungarn gerade wieder Kraft zu schöpfen versuchen. Ihr Dichter, Ferenc Kölcsey, kämpfte wie Fallersleben für die Nation und gegen feindliche Mächte. Fallersleben dichtete gegen französische Gebietsansprüche (auf das Rheinland), Kölcsey dichtete für die Freiheit der im Habsburgerreich gefangenen ungarischen Nation. Seine1923 verfasste romantische Hymne aus den stürmischen Jahrhunderten des ungarischen Volks, wie er das Gedicht betitelte, wurde nicht nur zur Nationalhymne der Ungarn, sie wurde, wie es die erste Zeile des Gedichts intoniert, Gott segne den Ungarn!, zu viel mehr: Sie wurde zum Gebet der Nation. Für Fallersleben führte der Wunsch nach der deutschen Einheit die Feder, die Sehnsucht nach der Vereinigung der deutschsprachigen Gebiete zu einem Staat – denn die eine deutsche Nation gab es damals ja noch nicht. Es gab Rheinländer und Preußen, Bayern und Sachsen, Thüringer und Württemberger, und die sangen alle ihre eigenen Lieder. Bald wurde das rheinländische Wacht am Rhein zwar auch über das Rheinland hinaus populär, insbesondere nachdem es zur Silberhochzeit des späteren Hohenzollern-Kaisers Wilhelm I. angestimmt wurde, die Preußen aber sangen ihr eigenes patriotisches Lied, das Heil dir im Siegerkranz. Ein preußisches Lied wiederum hatte in den süddeutschen Staaten keine Chance.

    Der Autor des Deutschlandlieds erlebte den Erfolg seiner Dichtung nicht, denn es brauchte ganze 81 Jahre, bis seine Verse zur Nationalhymne erhoben wurden, und als dies 1922 durch den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert schließlich geschah, war der Dichter längst verstorben. Die Ehre, die dem Gedicht damit zuteil wurde, währte indes nicht lange. Denn Deutschnationale und Nationalsozialisten bemächtigten sich des Deutschlandliedes: Erstere ergänzten es um eine Trotzstrophe und stellten die von Fallersleben aus einem liberalen Geist heraus für die deutsche Vereinigung gedichtete Zeile Deutschland über alles in einen neuen Kontext, in den des Unglücks des verlorenen ersten Weltkrieges und des Versailler Vertrags; die Nationalsozialisten verordneten dem Lied dann einen unrühmlichen Anhang, die Parteihymne der NSDAP, das sog. Horst-Wessel-Lied. Zu Kriegsende lag alles in Trümmern: Helgoland war gesprengt, die schwer errungene Einheit der deutschen Nation zerfallen, der Glaube an Kultur und Zivilisation, an den Fortschritt des Humanen zerstört, vorbei war es auch mit der Hymne der Deutschen.

    So wundert es kaum, dass es ein unschuldiges, lustiges Karnevalslied wurde, das Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm, das als Trizonesien-Song in den späten 50ern fast die Karriere zum Lied der Nation machte. Als Deutschland gegen Belgien Fußball spielte, wurde der Song angestimmt: Wir sind zwar keine Menschenfresser / doch wir küssen um so besser. Das Lied wurde so populär wie keiner der sonstigen Hymnen-Versuche. Denn Versuche gab es Etliche, aber weder Beethovens Ode an die Freude noch das Studentenlied Ich habe mich ergeben, mit Herz und Hand kamen als Hymne durch. Das schmerzte. Es schmerzte beim Fußball und schmerzte bei offiziellen Anlässen, da half das Heidi-tschimmela-bumm-Lied auch nicht weiter.

    Bundespräsident Theodor Heuss nahm sich des Problems schließlich an, er gab eine neue Hymne in Auftrag, woraufhin der Bremer Dichter Rudolf Alexander Schröder tief bewegende Worte dichtete – so sah das zumindest der Spiegel. Kurz vor Jahresende 1950 las der Bundespräsident, mit sonorer Stimme, laut Spiegel, jene tief bewegenden Verse sogar höchstpersönlich vor: Land des Glaubens, deutsches Land, Land der Väter und der Erben, uns im Leben und im Sterben Haus und Herberg, Trost und Pfand. Zum Schluss intonierte auch noch ein Knabenchor. Auch das half nicht, eine neue Hymne wurde daraus ebenso wenig wie auch aus all den anderen nach Bonn gesandten Entwürfen von Dutzenden wohlmeinenden bundesdeutschen Bürgern keine wurde. (Seethaler, K.:Gründungswehen der Bundesrepublik, spiegel.de, 18.08.2011).

    Bundeskanzler Konrad Adenauer soll die Geduld nicht erst 1953 verloren haben, als zu seinem ersten Staatsbesuch in den USA die Gastgeber (in Chicago) das Kölner Karnevalslied Heidewitzka, Herr Kapitän zum Besten gaben, trotz dessen, dass Adenauer schon gut drei Jahre zuvor Mut fasste und bereits 1950 im Berliner Titania Palast die dritte Strophe des Deutschlandliedes anstimmte – eine Strophe von jener nazitypischen Hymne, die als solche von den Alliierten 1945 schlicht verboten wurde. Im Titania Palast erhielt Adenauer zwar langanhaltenden Beifall, laut Spiegel, als er sagte:

    Auf Einigkeit, auf Recht und Freiheit wollen wir das neue Deutschland bauen. Wenn ich Sie nunmehr, meine Damen und Herren, bitte, die dritte Strophe des Deutschlandliedes zu singen, dann sei uns das ein heiliges Gelöbnis, daß wir ein einiges Volk, ein freies Volk und ein friedliches Volk sein wollen. (Rede des Bundeskanzlers Adenauer im Titania-Palast, konrad-adenauer.de)

    Er blieb nicht aus, der Eklat. Zwei weitere Jahre waren verstrichen, bis sich jene dritte Strophe des besudelten Deutschlandliedes dann doch noch durchsetzte. Denn der Kanzler blieb fest, schließlich hätten Hitler und die Nationalsozialisten die Strophe niemals gesungen. So hat die Bundesrepublik offiziell seit 1952 wieder eine Hymne – wenn auch nicht zu aller Zufriedenheit, geschweige denn Beliebtheit. Denn Szenen die in Ungarn gerade stattfinden, die millionenfach vor Freude und Hoffnung zitternden Lippen, die mit den Worten und der Hymne um das Glück des Landes zu Gott beten, sind in der Bundesrepublik, auch in der DDR unvorstellbar, solch innige (und unschuldige) Verbundenheit mit den Worten und der Melodie der Nationalhymne bleibt für Deutsche eine Sache der Unmöglichkeit. Sie singen ihre Hymne nicht, sie kennen sie ja kaum:

    … drei Viertel der Bundesbürger (kennen) den Text der offiziell bevorzugten dritten Strophe gar nicht oder nur unvollständig – bei den Jugendlichen unter 19 … nur acht Prozent, konstatierte Die Zeit im Herbst 1988. (Streit um die deutsche Hymne, zeit.de, 40/88)

    Weniger zimperlich ging die SED in der Nachkriegszeit an die deutsche Hymne heran: Das Politbüro beauftragte 1949 den Komponisten Hanns Eisler, der auch binnen weniger Tage eine Melodie lieferte. Eisler war der Ansicht, die Melodie sollte nichts ›Zackiges‹ sein, sondern wirklich humanistisch, so definierte er auch das Tempo ausdrücklich als mäßig. Das Problem war dann auch nicht das Tempo, sondern etwas anderes: Eislers Melodie ähnelte sehr anderen bekannten Melodien, sie hat dem hochgeschätzten Komponisten Plagiatsvorwürfe eingebracht. Eisler aber schwieg dazu eisern, und die Melodie blieb. Mit dem Text wurde ebenfalls ein Hoch-Geschätzter beauftragt, Johannes R. Becher. Wer, wenn nicht er, der von Stalin persönlich Entsandte in der sowjetischen Besatzungszone könnte, sollte einen kulturellen Neubeginn in der DDR herbeiführen.

    Und Becher fand auch die passenden Worte:

    Auferstanden aus Ruinen / Und der Zukunft zugewandt / Lass uns dir zum Guten dienen, / Deutschland, heilig Vaterland …

    Den Takt hielt er im Takt des Deutschlandliedes, die neue DDR-Hymne konnte also problemlos auf die Haydn’sche Melodie der Kaiserhymne gesungen werden – was nicht jedem gefiel. Dem Dichter wurde zudem vorgeworfen, dass sein Versmaß der Vergangenheit zugewandt und sein Text nicht kämpferisch genug sei. Das aber war Absicht, Becher wollte ausdrücklich eine Friedenshymne dichten und kein Kampflied. Und er wünschte sich nichts mehr, als dass sein Lied vom Volk gesungen und geliebt werde, dass es leidenschaftlich gesungen werde, so sagte er es wörtlich. Aber auch die neue DDR-Hymne wurde kaum gesungen, und schon gar nicht leidenschaftlich, so setzte sich bei offiziellen Anlässen spätestens ab den 70er Jahren nur noch die instrumentale Version durch. Traurig für Becher, denn an Optimismus für Deutschlands Zukunft fehlte es in seinem Gedicht nicht: Und die Sonne, schön wie nie / über Deutschland scheint

    Am 1. Januar 1989 scheint die Sonne nicht über Deutschland, es ist feucht und neblig, nichts Unübliches um diese Jahreszeit. Die erste Tagesschau des Jahres, auch nichts Unübliches, beginnt aber mit sonnigen Meldungen, denn jedem Beginn wohnt ein Zauber inne, auch Jahresbeginne werden entsprechend zelebriert. Für den Neubeginn soll diesmal die Abrüstungsbotschaft der beiden Großmächte stehen:

    Präsident Reagan und Parteichef Gorbatschow haben zum dritten Mal im Fernsehen Neujahrsbotschaften an die Bevölkerung des jeweils anderen Landes gerichtet. Sie verwiesen vor allem darauf, dass sich beide Staaten in den vergangenen Jahren nähergekommen seien und nannten als sichtbares Zeichen dafür den Vertrag über die Verschrottung aller atomaren Mittelstreckenraketen. Reagan wird mit dem Satz zitiert, Ich glaube, die Welt ist sicherer als vor einem Jahr, und ich bete, dass sie noch sicherer wird. Gorbatschow sagt, Amerika scheint die Sowjetunion neu zu entdecken, und wir entdecken Amerika erneut. Ängste und Argwohn weichen schrittweise Vertrauen und Gefühlen gegenseitiger Zuneigung … (Tagesschau 01.01.89)

    Im SED-Blatt Neues Deutschland (ND) kommen die guten Nachrichten nicht von den Supermächten, sondern von Erich Honecker persönlich:

    Der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, wechselte mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU und dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Michail Gorbatschow, anlässlich der Jahreswende herzliche Grüße und Glückwünsche. (ND 02.01.89)

    Auf den Grußwechsel auf höchster Ebene folgt der engste Verbündete Kuba: Volk von Kuba beging 30. Jahrestag des Sieges der Revolution und das nächste hohe Lob gilt zwei Kulturhighlights des SED-Staates, dem Berliner Schauspielhaus und dem Berliner Sinfonieorchester:

    Für stimmungsvolle musikalische Stunden in festlicher Atmosphäre sorgten zum Jahreswechsel viele Solisten und Orchester unseres Landes. Dann nochmals ein Blick ins Ausland, diesmal auf die Kommunistische Partei Indiens: Der 13. Parteitag der Kommunistischen Partei Indiens (Marxistisch) hat am Sonnabend in Trivandrum im südindischen Unionsstaat seine Arbeit beendet. (ebd.)

    Freude und Optimismus sprudeln von den Seiten der SED-Zeitung, soweit es um den kommunistischen Block geht, die Schlagzeilen erwecken den Eindruck, der Kommunismus entfalte nicht nur im SED-Staat sein segensreiches Wirken, er sei weltweit erfolgreich und auf dem Vormarsch. Geht es aber um den Westen, bietet das DDR-Blatt nur noch negative Meldungen:

    Weiterer Sozialabbau in der BRD im neuen Jahr.

    Mit Beginn des neuen Jahres sind für die Bürger der BRD weitere soziale Verschlechterungen in Kraft getreten …

    Erfreuliches gibt es aber aus der DDR zu melden: Gute Arbeitsergebnisse während der ersten Schichten am Neujahrstag… Der Puls unserer Wirtschaft schlug auch am Neujahrstag kräftig – in den Gruben und Fabriken der Braunkohleindustrie, in Stahl und Chemiewerken wie in Betrieben der Energieerzeugung und des Verkehrswesens. (ebd.)

    Dass auch Düsteres aus der DDR zu berichten ist, erfahren die DDR-Leser nicht. Denn alles, was nicht funktioniert, all die negativen Fakten und Vorfälle, all die besonderen Vorkommnisse stehen nicht in den Zeitungen, sondern in streng geheimen Berichten, die in der Berliner Normannenstraße verfasst werden. Dort sitzt die berüchtigte Staatssicherheit der DDR, im Volksmund die Stasi. Ihre Berichte erhalten nur einige wenige ausgewählte Genossen, die meisten lediglich die enge SED-Führungsriege. Den normalen Leser würde das Schriftgut auch überfordern; nicht nur die Inhalte, aus denen sich ein radikal anderes DDR-Bild ergibt als aus den Zeitungen, allein schon der Umfang der Stasi-Berichte wäre eine Zumutung, denn in der Normannenstraße wurde offenbar viel aufgeschrieben: insgesamt 111 Kilometer Schriftgut plus 47 Kilometer Verfilmtes (wobei jeder Meter um etwa 10.000 Blatt ausmacht). Auch einer der ersten streng geheimen Stasi-Berichte zu Jahresbeginn 1989 zeichnet eine Realität, die mit dem vom Neues Deutschland gezeichneten DDR-Bild nichts, aber auch gar nichts gemein hat:

    Die Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR bilden auch in dem vorliegenden Berichtszeitraum den Schwerpunkt der inhaltlichen Aussagen der Tatbestände.

    16 der insgesamt 46 Tatbestände (33,7 %) enthalten herabwürdigende Äußerungen gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR wie: »… Arbeitslager DDR – Land einer Qual …«, »… Scheiß Osten …«, »… auch 1989 leere Läden – große Reden«, »wir wollen frei sein – Demokratie«, »… die DDR ist wie ein Gefängnis – Menschen werden bis aufs Innere schikaniert« (…)

    Ein Teil dieser Tatbestände ist mit Angriffen gegen die Partei- und Staatsführung verbunden, die in diesem Zusammenhang als »Tummelplatz für alte, senile, größenwahnsinnige, für das Volk gefährliche Personen« … verunglimpft und beschimpft werden. (…)

    5 Tatbestände beinhalten Angriffe gegen die Maßnahmen zum Schutze der Staatsgrenze. … Flugblätter enthalten unter der Überschrift: »Man kann in der DDR nicht von Freiheit reden« – einen Aufruf zur Beseitigung der »Mauer – dieser Schandfleck zwischen beiden Staaten« … (BStU, MfS, HA AKG 133)

    Von der Aufbruchsstimmung, die Ungarn gerade in Atem hält, wollen weder die öffentlichen noch die geheimen Berichte des SED-Staates wissen. Dass in den Ohren der Magyaren noch der Radetzkymarsch nachklingt, merkt keiner. Aber dieses Johann-Strauss-(Vater)-Stück hat es in sich. Aus dem Jahr der März-Revolution 1848 stammt es, aus jenem Jahr, das für Ungarn zum Inbegriff des Freiheitskampfes wurde. Zwar wird längst nicht mehr die Originalversion gespielt, sondern eine Bearbeitung des Leipziger NSDAP-Kreismusikstellenleiters Leopold Weninger, aber darum schert sich in diesem Moment niemand. Es geht um den Takt, der nicht nur am Wiener Neujahrskonzert vom Publikum wie im Rausch mitgeklatscht wird, es geht um die mitreißende Abfolge von drei Anapästen und einem Jambus, um jenes Datadám-datadámdatadám-damdám, das nicht zufällig auch der Takt der Herzdruckmassage ist, der aus der Apathie herauszureißen und zum neuen Leben hinzureißen vermag. Der Radetzkymarsch, übrigens Österreichs heimliche Hymne, die nicht zuletzt bei Fußballspielen für beste Stimmung sorgt, steht für Auf-Bruch im wahrsten Sinne des Wortes, denn ein Bruch ist immer auch ein Zerfall, und dass Joseph Roth seinen Roman über den Zerfall der Doppelmonarchie ausgerechnet Radetzkymarsch nannte, schwingt im Takt mit.

    Ob Aufbruch oder Zerfall oder beides, Ungarns Kommunisten kennen die Explosivität dieser Mischung, die auf die Gemütslage der Magyaren nicht ein erstes Mal zutrifft, seitdem die Partei die Macht ergriff. Der Unmut im Lande wächst, obwohl (oder gerade weil) die Partei immer weiter lockert. Sogar ein zusätzlicher Fernsehkanal soll die Stimmung besänftigen. Ab dem 1. Januar 1989 sorgt neben dem bislang einzigen Programm auch ein zweiter Kanal für Ablenkung und Amüsement. Noch ist die Freude darüber nicht verflogen, schon rückt die Regierung mit der Ankündigung von Preiserhöhungen heraus: Das Brot wird 16% mehr kosten, das Waschpulver 8% mehr, für einen PKW werden die Ungarn 25% mehr zahlen müssen. Ein mutiger Reform-Schritt, insbesondere angesichts der Reaktionen auf die letzten Preiserhöhungen vor zwei Jahren, als die Bevölkerung so erzürnt war, dass jemand sogar das Gebäude des Parlaments in die Luft zu jagen drohte.

    Ungarns Regierungschef Miklós Németh will es jetzt besser machen und kündigt prompt auch abfedernde Gegenmaßnahmen an, unter anderem soll ein Arbeitslosengeld eingeführt werden. Das wiederum sorgt bei den Genossen im Ostblock, insbesondere bei Erich Honecker, für Unmut. Der SED-Chef beargwöhnt die Politik der ungarischen Reformkommunisten wie Gorbatschows Perestroika, beide untergraben in seiner Sicht Sozialismus und widersprechen dem, was die SED-Propaganda Tag für Tag vorgibt: Arbeitslosigkeit sei ein Phänomen der kapitalistischen Ausbeutung, im Sozialismus könne es sie gar nicht geben. Statistiken des Ostblocks weisen in der Tat stets eine Vollbeschäftigung aus – die Täuschung wird erst nach dem totalen Kollaps der Plan- und Staatswirtschaft ans Licht kommen. Mit Ungarns Arbeitslosengeld wird der äußerst schmal geschrumpfte realsozialistische Vorteilskatalog weiter ausgedünnt.

    Die SED schaut aber ganz genau hin, Stasi-Chef Erich Mielke hat aus seiner Wissbegier gegenüber Ungarn nie ein Geheimnis gemacht. Bereits 1979 gab er bei einem Treffen mit den ungarischen Bruderorganen freimütig zu:

    Wir sind nicht neugierig, wir sind nur wißbegierig, weil wir für uns, für unsere Sicherheit Schlussfolgerungen ziehen müssen und weil wir die Auswirkungen solcher Erscheinungen auf die DDR erkennen müssen … (BStU, HA 9, 60). Und im Jahr 1988 stellt das Organ fest: Wir stehen vor einer neuen Situation. Die Zusammenarbeit mit den Bruderorganen gestaltet sich nicht einfacher. Das zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre. Z. B. verändern sich politische Verhältnisse, die nicht unserer Auffassung entsprechen … (BStU, MfS, HA VI, 8,7)

    Der Stasi missfallen nicht nur die Entwicklungen in Ungarn, auch in der DDR ist sie mit sich häufenden Anfällen von Delikten schriftlich-negativer Äußerungen konfrontiert. Das Anschmieren von Losungen und Symbolen habe sich im Vergleich zum Vormonat mehr als verdoppelt, meldet sie Anfang des Jahres 1989 an die SED-Führung. Wurden im Dezember des zurückliegenden Jahres 11 solche Tatbestände registriert, sind es im ersten Monat des neuen Jahres 29, wobei den Schwerpunkt der inhaltlichen Aussagen auch diesmal die Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR bilden:

    16 der insgesamt 46 Tatbestände (33,7 %) enthalten neben herabwürdigenden Äußerungen gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR wie: »… Arbeitslager DDR – Land meiner Qual …«, »… Scheiß Osten …«, »… auch 1989 leere Läden, große Reden« … Forderungen der Täter nach »Demokratisierung unseres Staates« …

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