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Käpp'n Smidt
Käpp'n Smidt
Käpp'n Smidt
eBook319 Seiten4 Stunden

Käpp'n Smidt

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Über dieses E-Book

Hamburg 1888: "Hein Smidt war die größte Rotznase und der frecheste Lausebengel, den es ›von den Mühren‹ angefangen bis zum ›Stinfang‹ hinauf in der ganzen Hafengegend gab; und das wollte wirklich schon etwas heißen! – Er war aber deswegen noch lange kein schlechter Junge, nein durchaus nicht! – Für die Schule hatte er allerdings nicht viel übrig; aber das war verständlich, denn dort sollte er stillsitzen und gehorchen; Heini war jedoch einer, der befehlen wollte; und wirklich, immer hatte er einen Kreis von Jungen um sich, die ihm blindlings gehorchten." Bereits jetzt, noch ein kleiner Bengel, macht er auf sich aufmerksam, indem er einem in die Elbe gefallenen Altersgenossen das Leben rettet. Aber Heini hat viel größere Pläne: Er will einmal Kapitän werden – was ihm schon früh den Spitznamen "Käpp'n Smidt" eingebracht hat. Allein, mit seinen schlechten Schulzeugnissen kann er es vielleicht höchstens bis zum Leichtmatrosen bringen. Aber Hein lässt sich so schnell nicht von seinem Lebensziel abbringen. Und nach vielen Prüfungen und Beschwernissen hat er es schließlich geschafft: "Käpp'n Smidt" wird Kapitän des Viermasters "Lene Timm". Doch die Zeit der stolzen Segelschiffe scheint ihrem Ende zuzugehen ... Wilhelm Ernst Asbecks großer Hamburger Kapitänsroman verfolgt spannend und abwechslungsreich Entwicklung und Schicksal seines Helden vom Jahre 1888 bis in die frühen dreißiger Jahre.Wilhelm Ernst Asbeck (1881–1947; Pseudonym: Ernst Helm) war ein deutscher Schriftsteller. Wilhelm Ernst Asbeck lebte in Hamburg; während des Zweiten Weltkriegs übersiedelte er nach Burg (Dithmarschen). Sein literarisches Werk besteht vornehmlich aus Romanen, Erzählungen, Märchen, Theaterstücken und Hörspielen, die sich häufig historischen Stoffen annehmen und überwiegend in Asbecks norddeutscher Heimat, etwa im Raum Hamburg und an der Nordseeküste, aber auch etwa in Skandinavien angesiedelt sind.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum8. Jan. 2018
ISBN9788711517789
Käpp'n Smidt

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    Buchvorschau

    Käpp'n Smidt - Wilhelm Ernst Asbeck

    Südpol!

    Erster Teil.

    I.

    Am Hamburger Hafen, an den ‚Vorsetzen’, steht ein altes Haus. Es gibt schönere und auch wohl noch ältere Häuser, aber es liegt etwa so Ehrwürdiges, Anheimelndes über diesem Gebäude wie nicht bei allen. Rechts und links ist es eingeklemmt zwischen gleichaltrigen Gefährten; und da stehen sie nun, die drei alten Veteranen, sind anzuschauen wie altersschwache Greise, die die Kniekehlen nicht mehr durchdrücken können, deren Beine den Körper nicht mehr zu tragen vermögen, die sich nach vorn überbeugen, sich schief an einander lehnen und sich gegenseitig stützen.

    Unser altes Haus ist das vornehmste unter den dreien. Eine breite Steintreppe führt einige Stufen empor zur mächtigen, mit reichem Schnitzwerk verzierten Eichentür. Das gewaltige Schloss ist mit Eisen beschlagen. Über den Eingang ist eine Inschrift gemeisselt: Anno 1631.

    Du liebe Zeit, damals sah die Welt noch anders aus! Damals war es mit seinen drei Stockwerken und den darüber befindlichen Bodenräumen, mit seinem mächtigen Spitzgiebel ein Aristokrat unter seinesgleichen, eine Sehenswürdigkeit und der Stolz seines Erbauers.

    Gewaltige Eichenpfeiler und Querbalken tragen und stützen das Gebäude. Sie legen Zeugnis davon ab, dass der Besitzer ein gutgestellter Mann war, der seinem Geschlechte ein Heim schaffen wollte, das Jahrhunderte überleben sollte.

    Die breite Front zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stockwerk ist mit Buchstaben bemalt. Viele Jahre müssen vergangen sein, seitdem der Maler dort oben die Schrift anbrachte, denn die Buchstaben sind von der Sonne verblichen, vom Regen verwaschen, sind fast unleserlich geworden.

    ‚Carl Timm, Schiffsreeder’ mochte die Inschrift gelautet haben. Eine seltsame Harmonie herrschte zwischen diesen verwitterten Buchstaben und dem alten Hause. Eigentlich durfte es gar nicht anders sein; ein frischer Anstrich hätte nur die Einheitlichkeit des Gesamtbildes zerrissen.

    Droben, auf dem Tritt vor der blumengeschmückten Fensterbank im ersten Stock sass eine Frau von etwa vierzig Jahren. Sie hatte ein schmales, feines Gesicht. Vornüber gebeugt sass sie da, mit einer Handarbeit beschäftigt. Hin und wieder warf sie einen Blick nach draussen. Der Elbstrom lag vor ihren Augen. Am jenseitigen Ufer die Wersten, vor dem Hause die langgestreckten Kaianlagen und auf dem Strome ein Kommen und Gehen vieler Schiffe aus aller Herren Länder und dazwischen die zahlreichen Schlepper, Jollen, Schuten und grünen Hafendampfer. Ja, hier war der Pulsschlag der im hemmungslosen Aufblühen begriffenen Hansestadt. — Wir schreiben das Jahr 1888.

    Lärm, Geschrei und laute Hilserufe lassen die Frau von ihrer Arbeit auffahren. Da draussen ist ‚etwas los’. Menschen laufen von allen Seiten herbei, drängen sich am Rande der Kais; ein grosser Haufe neugieriger Gaffer, auch ein paar Hilfsbereite, sie laufen aber ratlos hin und her und wissen nicht, was sie tun sollen.

    Die Frau am Fenster lässt ihre Arbeit sinken. Einen Augenblick scheint es, als wanke sie und könne sich nicht mehr auf den Beinen halten; dann aber rafft sie alle Energie zusammen, rennt in fliegender Hast die Wendeltreppe hinunter, stürzt durch die Kontorräume an erschreckt auffahrenden Kommis vorüber ins Privatkontor.

    „Karl, ruft sie „schnell, schnell; unser Junge ertrinkt!

    Im Wasser sieht man einen etwa zehnjährigen Knaben, anscheinend des Schwimmens unkundig; er macht verzweifelte Anstrengungen, um sich durch Strampeln mit Armen und Beinen an der Oberfläche des Wassers zu halten. Hin und wieder gelingt es ihm auch, auf einen Augenblick Luft zu schnappen; aber immer wieder taucht er unter. Lange kann dieser Kampf nicht mehr währen.

    Nicht weit von dem mit dem Tode ringenden Jungen kreuzen zahlreiche Fahrzeuge, aber sie sehen ihn nicht. Wie ein undurchdringlicher Mastenwald liegen die Segelschiffe Bug an Bug.

    Jetzt löst sich vom Baumwall schwerfällig eine Jolle; ehe jedoch der alte Schiffer zur Stelle sein kann, wird der Ertrinkende längst versunken sein.

    Da teilt sich die Mauer der müssigen Gaffer. Ein kleiner, vierschrötiger Bengel schafft sich mit Händen und Füssen Raum. Scheltworte und Flüche bekommt er mit auf den Weg; er aber kümmert sich nicht darum, er hat nur ein Ziel vor Augen, er will nach vorn, in erster Reihe stehen und sehen, was geschehen ist; und hat Hein Smidt sich ein Ziel gesetzt, so lässt er nicht eher locker, als bis er es erreicht hat. —

    Nun ist er da, wo er sein will. Mit einem Blick hat er die Lage überschaut. Ein Ruck, die Jacke fliegt vom Leib. „Da, halt mal!" ruft er dem Nächststehenden zu, und ehe der recht weiss, was geschehen ist, hält er eine speckige, fadenscheinige Jacke, eine schmierige, zerschlissene Weste und eine Mütze von fragwürdigem Äusseren in der Hand.

    Vom Kai führt eine Steigeleiter steil in die Tiefe. Mit erstaunlicher Behendigkeit klettert er hinunter, dann ein Sprung, und er ist im Wasser. Mit kurzen, schnellen Stössen teilt er die Flut. Er kommt gerade zur rechten Zeit. Gerade taucht der vollkommen Erschöpfte wieder auf. Instinktiv fühlt er den Helfer nahen und versucht in seiner Todesangst, sich an ihm festzuklammern. Da saust ein Fausthieb gegen seine Schläfe. Sterne sprühen auf, rote, grosse; wie ein Feuerwerk zischen sie aus der Finsternis hervor und verlöschen, verlöschen einer nach dem anderen, bis keiner mehr übrig bleibt und tiefe Nacht ihn umgibt. — — Er sinkt — sinkt in pechschwarze Dunkelheit, sinkt in bodenlose Tiefen — Tiefen, die kein Ende nehmen. Und dann herrscht Schweigen; die grosse, feierliche Stille, die dem Vergessen voraufgeht. Alles das war das Spiel weniger Sekunden; dem Ertrinkenden aber schienen es Ewigkeiten zu sein.

    Ruhig, sachlich, mit offenen, klaren Augen hat der jugendliche Retter sein Werk beobachtet. Jetzt, wo der Junge wegzusacken beginnt, packt er ihn am Rockkragen, zieht ihn hoch, stösst ihn vor sich her, kaltblütig, zielbewusst, bis er ihn zur Treppe bugsiert hat.

    Dort steht schon einer, ein Fünfzigjähriger, mit leicht ergrautem Backenbart, mit stahlgrauen Augen. Ein Griff, und er hält den Bewusstlosen. Wie einen Spielball trägt er ihn nach oben. Viele hilfsbereite Hände strecken sich ihm entgegen und befreien ihn von seiner Last.

    „Drüben ins Haus hinein!" ruft er, und schon eilt er wieder zur Elbe hinunter, um auch den Retter heraufzuholen. Sobald der aber nur die erste Stufe unter den Füssen hat, kann er sich gut allein helfen.

    Jubel und Beifall umringen ihn. Wortlos reisst er Jacke, Weste und Mütze an sich und will das Weite suchen. Aber jetzt wird er von einem festgehalten, der stärker ist als er, und der ihn trotz aller Gegenwehr über die Strasse trägt, die breite Steintreppe hinauf, ins alte Haus hinein.


    Hein Smidt war die grösste Rotznase und der frecheste Lausebengel, den es ‚von den Mühren’ angefangen bis zum ‚Stintfang’ hinauf in der ganzen Hafengegend gab; und das wollte wirklich schon etwas heissen! — Er war aber deswegen noch lange kein schlechter Junge, nein, durchaus nicht! — Für die Schule hatte er allerdings nicht viel übrig; aber das war verständlich, denn dort sollte er stillsitzen und gehorchen; Heini war jedoch einer, der befehlen wollte; und wirklich, immer hatte er einen Kreis von Jungen um sich, die ihm blindlings gehorchten. Es waren nicht sehr viele aber alles fixe Kerle, die ‚drausgingen wie Blücher’ und sich vor Tod und Teufel nicht fürchteten.

    Ein richtiger Raufbold war Heini. Mit der halben Klasse lag er ständig in Fehde, sodass diese dauernd zwei Feldlagern glich. Die Gegner nannten sich die ‚Semiolen’; und waren sie auf dem Kriegspfade, so schwangen sie zwar keine Tomahawks sondern nur ihre Butterbrotsdosen, und ihre Schulranzen benutzten sie als Schild.

    Hein Smidt fühlte sich himmelhoch über diese Wilden erhaben. Er hatte gehört, dass die ‚Jakobiner’ die waschechtesten Revolutionäre gewesen seien, die je unseren Erdball bevölkerten. Das imponierte ihm gewaltig. Also legte er seiner Partei diesen stolzen Namen bei.

    So entschiedene Gegner auch die ‚Semiolen’ und ‚Jakobiner’ sein mochten, in einem Punkte herrschte vorbildliche Einmütigkeit, wenn es sich nämlich um einen Feldzug gegen die benachbarten Realschüler handelte. Dann ‚rauchte man die Friedenpfeife’, schloss Burgfrieden und ‚Blassgesicht’ und ‚Rothaut’ zogen vereint gegen die ‚feinen Pinkels’.

    Augenblicklich aber lag gegen diese nichts vor, und so hiess es auf der Hut zu sein.

    Heini befand sich mit seinen Kameraden auf dem Heimweg von der Schule. Es war fast eine Stunde über Schulschluss. Einer der Seinen hatte nachsitzen müssen, und das war erfahrungsgemäss eine gefährliche Sache. Mehr als einmal hatten die ‚Semiolen’, diese elenden Feiglinge, sich bei solcher Gelegenheit in den Hinterhalt gelegt und den einzelnen ‚Jakobiner’ überfallen. Er wurde dann trotz tapferster Gegenwehr dank der Übermacht jämmerlich ‚vertrimmt’. Heini hatte daher angeordnet, wenn einer der Ihren ‚nachbrummen’ müsste, so sollte ihm ein halbes Dutzend Kameraden Gesellschaft leisten. Natürlich erachtete er als Führer es für seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, selbst für seine Leute einzustehen. Auf diese Weise kam er fast nie rechtzeitig nach Hause, und seine Mutter kannte es schon nicht mehr anders.

    Ihrer sechs zogen sie heute des Weges. Heini erzählte sein grosses Erlebnis von gestern. Das bisschen Schwimmen und den tapsigen Jungen aufs Trockne zu bringen, das war ja das Nebensächlichste an der ganzen Geschichte, aber was dann kam!

    Der grosse Kerl mit dem Backenbart besass Riesenkräfte. Als sei Heini ein Wickelkind gewesen, so hatte er ihn trotz allen Sträubens ins Haus getragen. Im Handumdrehen wurde er ‚ausgepellt’ und mit unglaublich grossen Handtüchern trocken gerieben. Dann sei er in anderes Zeug gesteckt worden. Tadellose Klamotten, warm, mächtig warm waren die Plünnen, nur zu eng. Jacke und Weste mussten offen bleiben. Darauf hatte der Alte ihn von vorn und hinten angeguckt und dabei gelacht, dass die Wände wackelten. Endlich musste er sich mit ihm an einen gedeckten Tisch setzen, und ein blitzsauberes Mädel mit einer weissen Haube auf dem Kopfe schenkte heissen Kaffee ein. Der lustige Mann mit dem Backenbart wusste viel spassiges Zeug zu erzählen, und plötzlich habe er gesagt, wer am meisten Kuchen essen könne, solle einen Taler haben! — — Junge, Junge noch mal zu, da kam der Alte aber bald ins Hintertreffen, und er meinte, Heini sei nicht nur ein fixer Kerl im Schwimmen, sondern auch im Kuchenessen leiste er Erstaunliches, und den Taler habe er ehrlich verdient.

    Die Bengel guckten sich gegenseitig an und zwinkerten mit den Augen, als ob sie sagen wollten, der Heini tischt uns ein Märchen aus 1001 Nacht auf. Ihr Häuptling merkte wohl, dass sie seiner Erzählung nicht recht Glauben schenkten, und mit einem Male hielt er ihnen einen blanken Taler unter die Nase. — Die Wertschätzung ihres Führers stieg ins Grenzenlose. Alle wollten nun wissen, wie das Abenteuer weiter verlaufen sei.

    Und Heini berichtete:

    O, er habe von seinen Eltern erzählen müssen, wie er heisse, und wo er wohne; und dann sei eine feine Dame gekommen, die habe ihm die Hand gegeben und sich immer wieder bei ihm bedankt, dass er ihrem Sohne das Leben gerettet habe. Sie war so gerührt, dass sie kaum zu sprechen vermocht hätte, und die Tränen seien ihr man immer so ’runtergelaufen. Darauf musste er mit den beiden zu dem dummen Jungen gehen. Der lag wie ein richtiger ‚Piepjochen’ unter vielen Decken begraben in einem grässlich weichen Federbett; und trotzdem fror ihn so sehr, dass er mit den Zähnen klapperte.

    Heini wurde alsdann nach Hause geschickt und bekam noch eine grosse Tüte voll Kuchen mit auf den Weg. Sein Zeug wollte man ihm nicht mitgeben; das werde erst getrocknet; er möge es morgen abholen.

    „Na, da haben sie lange was dran! sagte Heini. „Mir ist der ganze Kram viel zu fein; das is nix für mich. Thedje, geh’ Du man heute nachmittag hin und bring ihnen auch gleich ihre vornehmen Plünnen zurück.

    Heini Smidt zeigte sich bei dieser Gelegenheit auch gleich von der grosszügigen Seite und versprach ihm einen Groschen, wenn er alles richtig erledige.

    Nun war Heini zu Hause angelangt.

    Er wohnte in einem engen Hof im Bäckergang. Schmale Stiegen führten nach oben, und als Geländer diente ein straff gespanntes Seil. Mit mächtigem Getrampel stieg er empor und pfiff aus Leibeskräften einen Gassenhauer. —

    Sobald die Jungen unter sich waren, meinte Thedje, ob es nicht besser sei, wenn sie alle zusammen hingingen. Er hatte doch wohl nicht die rechte Traute, allein ein so feines Haus zu betreten. — Natürlich! Sie waren alle Mann dabei, denn sie hatten eine mächtige Neugier auf das vornehme Haus und auf den Mann mit dem Backenbart.


    Vom ‚Baumwall’ herauf kam Thedje mit seinen vier Kumpanen. Mit grossem Geschrei waren sie losgezogen, tapfer, als gelte es einen Kriegszug gegen die ‚Semiolen’; aber merkwürdig, je mehr sie sich dem Ziele näherten, um so ruhiger wurden sie, und als sie an der grossen Steintreppe angelangt waren, verstummten sie ganz.

    Nun hätten sie Thedje am liebsten allein ins Haus gehen lassen, aber das ging auch nicht, wo sie ihm ihr Wort gegeben hatten. — Nein, das war ganz ausgeschlossen. Für echte ‚Jakobiner’ ist es eine Ehrensache, den Kameraden nicht im Stich zu lassen. Aber eines musste Thedje, davon half ihm kein Gott, er musste als Erster durch die Tür treten und ihr Wortführer sein! — Jawohl, das musste er, denn so lautete die Abmachung.

    Reden aber war Thedjes schwächste Seite. Er wäre jetzt froh gewesen, hätte er wieder umkehren können; aber das ging natürlich nicht. — Schliesslich war es aber auch kein Pappenstiel, selbst einmal den Führer zu spielen!

    Er musterte seine Kameraden. Hm, alle hatten sich gewaschen, auch sahen sie in der Kleidung etwas ordentlicher und sauberer aus als sonst. — Ja, ja, sie hatten auch ihr Ehrgefühl im Leibe!

    Im Gänsemarsch kletterten sie die Stufen hinauf. Dann standen die Fünf auf der grossen, mit Steinfliesen bedeckten Diele. Im Hintergrunde führte eine breite Wendeltreppe nach oben. Linker Hand befanden sich zwei Türen, rechts ebenfalls eine, die war grösser als die anderen, und ‚Kontor’ stand darauf zu lesen.

    Was nun? Wohin sollte man sich wenden? Es wurde geflüstert und beratschlagt; endlich wagten sie sich an das Kontor heran. Auf ihr zaghaftes Klopfen hin rief eine Donnerstimme: „Herein!"

    Die Sache wurde immer unheimlicher. — War das ein grosser, dusterer Raum! Sie standen hinter einer Barriere. Jenseits dieser Schranke waren eine Menge hoher Klappulte aufgestellt; darauf lagen ganze Berge von Papieren oder auch schrecklich dicke Bücher, und davor sassen Männer auf hohen Böcken, die sich bei jeder Bewegung drehten und glänzend zum Karusselspielen geeignet gewesen wären.

    Von einem dieser spassigen Dinger rutschte ein kleiner, blasser Knirps herunter, der eine furchtbar ernste Miene aufsetzte und einen Federhalter hinter dem Ohr trug. Er steuerte geradenwegs auf die fünf Jungen los und pflanzte sich vor ihnen auf. Mit kritischen Blicken musterte er die Ankömmlinge und fragte dann herablassend: „Sie wünschen?"

    Thedje hätte dem Dreikäsehoch am liebsten eine ‚runter gelangt’. Der Lausejunge wollte sich wohl über ihn lustig machen? Redete ihn mit ‚Sie’ an! Aber er stotterte nur, dass er den ‚Mann mit dem Backenbart’ zu sprechen wünsche.

    „Sie meinen wohl Herrn Timm? korrigierte der Stift und fügte hochnäsig hinzu: „Der dürfte für Sie kaum Zeit haben; vielleicht können Sie es mir bestellen?

    Solche Frechheit! — Das war für Thedje denn doch zuviel, und er antwortete: „Nein, Dir kann ich es nicht sagen!" Dabei legte er eine starke Betonung auf das ‚Dir’, und der Lehrling wurde rot bis hinter die Ohren.

    Nun fanden auch die Begleiter so allmählich ihren Mut wieder. Es erhob sich ein unwilliges Volksgemurmel, und Edje Sienknecht fauchte: „So’n Maioop!"

    Der Kleine wich unwillkürlich einen Schritt zurück und fragte ganz verschüchtert, um was es sich denn handle?

    Erheblich selbstbewusster erwiderte Thedje nun, um Hein Smidt und seinen Anzug handle es sich; der Herr Timm wisse aber schon Bescheid, denn er habe sie herbestellt.

    Als der blasse Jüngling hörte, dass sie ‚herbestellt’ seien, meinte er in erheblich freundlicherem Tone, wenn die Sache so läge, sei es ja etwas anderes. Dann sah er sich die Jungen noch einmal an; es schienen doch gelinde Bedenken in ihm aufzusteigen. Nachdenklich wandelte er durch den langen Raum, besann sich eine Weile und klopfte dann schliesslich doch zaghaft an die Tür zum Allerheiligsten. Eine gestrenge Bassstimme rief: „Herein!", und nun stand er vor dem Allgewaltigen und stotterte, da draussen seien fünf Jungen, die behaupteten, von Herrn Timm herbestellt zu sein, um das Zeug von Hein Smidt abzuholen.

    Und nun geschah das Unglaubliche! Der Chef forderte diese Strassenbengel auf, zu ihm ins Privatkontor zu kommen!

    Im Gänsemarsch wanderte Thedje mit seinem Gefolge durch das grosse Kontor. Scheusslich peinlich war ihnen der Gang, denn alle starrten ihnen nach und grinsten.

    Endlich standen sie in aller ihrer Schäbigkeit vor dem ‚Manne mit dem Backenbart’. Der guckte sie der Reihe nach an, schmunzelte und fragte schliesslich: „Na, heraus mit der Sprache, was wollt Ihr?"

    Betretenes Schweigen? — Thedje drehte verlegen seine Mütze in der Hand; die übrigen ‚Jakobiner’ blickten stumm auf ihren Führer und hielten es für ihre Pflicht, ihre Mützen ebenfalls im Kreise herumzudrehen.

    Der Alte räusperte sich vernehmlich. Da nimmt Thedje einen Anlauf und sagt: „Der Heini — —" weiter kam er nicht.

    Nach einer Weile knurrt der Reeder ungnädig: „Na, was ist mit ihm?"

    Da verlässt den Wortführer der Mut. Wohl bewegt er den Mund, klappt ihn auf und zu, aber er bringt keinen Ton über die Lippen.

    Der ‚Mann mit dem Backenbart’ schüttelt unwillig den Kopf. Dann fragt er: „Und Ji sünd Hamborger Jungs?"

    „Gott sei dank!" rufen sie wie aus einem Munde.

    „Na, denn seggt doch, wat Ji wüllt!"

    Der Olle sprach Platt — Hamburger Platt! — Das löste die Zungen, und alle Fünf antworteten gleichzeitig: „Hein Smidt sien Plünnen wüllt wi wedder hebben!"

    Diese Art schien dem Prinzipal zu gefallen. Er grinste vergnügt und sagte dann mit der ernstesten Miene der Welt: „Nein, so kostbare Kleider kann ich nicht an irgendjemanden weggeben; aber wenn der Berg nicht zu Mohamed kommt, so bleibt Mohamed wohl nichts anderes übrig, als zum Berge zu kommen. Das bestellt man Eurem Hein Smidt!" — Dann langte er in die rechte Westentasche, holte fünf Groschenstücke heraus und drückte jedem eins in die Hand. —

    Nun standen sie wieder draussen, betrachteten erstaunt ihren Groschen, doch keiner von ihnen hatte die Geschichte von Mohamed und dem Berg begriffen. Was wussten sie auch von Mohamed? Sie waren doch ‚Jakobiner’ und keine Türken!

    Hinter der Gardine am Fenster aber stand der Reeder Karl Timm und amüsierte sich königlich.


    Wieder befinden sich Hein Smidt und seine fünf Getreuen von der Schule auf dem Heimwege, heute aber eine Stunde früher als gestern, denn ausnahmsweise brauchte keiner von ihnen nachzusitzen. Und doch waren die Jungen in gedrückter Stimmung, denn Heini sprühte nur so vor Zorn. Heftige Armbewegungen, unterstützt durch energisches Auftreten mit dem Fusse, sollten seiner Rede den nötigen Nachdruck verleihen. Er schrie aus Leibeskräften:

    „Schöne Schlappschwänze seid Ihr! Lasst Euch das Paket abnehmen, ohne meinen Anzug dafür mitzubekommen. Euch kann man gerade losschicken! — Na, dem guten Manne werde ich die Trompeten blasen! Gleich nach dem Essen gehe ich hin, und dann soll der Herr Timm aber was erleben!"

    Vor so viel Heldenmut verstummten die ‚Jakobiner’ und schätzten sich glücklich, einen so unerschrockenen Führer zu haben. — —

    Zur gleichen Stunde stand Adje, der ‚Löwe’, Heinis Vater, an einen Beischlag gelehnt, auf dem Hopfenmarkt. Nun war dieser Adje, trotz seines stolzen Prädikats, durchaus kein hervorragender Mann wie etwa Heinrich der Löwe! O nein, er war nur ein ganz gewöhnlicher ‚Hoppenmarkts-Leuw’ wie viele andere auch. Sie standen in Gruppen beisammen, verwahrlost aussehende Kerle mit struppigen Bärten und vom Suff aufgedunsenen Gesichtern. — Sie waren das ‚Mädchen für alles’ während der Markttage; schleppten Körbe, schoben Karren, beaufsichtigten Gespanne, fütterten Pferde, genug, sie waren für jede Handreichung zu haben. — Im allgemeinen waren sie friedfertige Gesellen, mit denen auszukommen war. Nur einen Fehler hatten sie: jeder Pfennig, der verdient wurde, musste schleunigst in ‚Köm’ umgesetzt werden.

    Der hohe Turm der Nikolaikirche guckte hernieder auf das bunte Gewimmel zu seinen Füssen. Da sitzen sie, Bauern und Bäuerinnen, umgeben von hochgestapelten Körben mit Gemüsen und Früchten gefüllt; dazwischen drängt sich der Strom der Käufer: Hausfrauen, Dienstmädchen mit weissen Hauben, hin und wieder Männer und viele Kinder.

    Die Fahrdämme um das breite Viereck des Marktplatzes und sämtliche Nebenstrassen sind verstopft von unzähligen Fuhrwerken und Karren.

    Am Kantstein steht Adje Schmidt und hält Ausschau, ob da nicht eine Stimme ist, die ihn ruft, ob sich nicht ein Arm erhebt, der ihm winkt. Aber nein, heute ist einmal wieder rein gar nichts zu verdienen. — Ein feiner Sprühregen fällt hernieder. Er hat den Rockkragen hoch geschlagen und die Hände tief in die Hosentaschen versenkt. Er hat seinen ‚Melanklüterigen’, wie seine Kollegen sagen; und an solchen Tagen lässt man ihn am besten zufrieden. — Er hält Rückschau. Seit Jahren hat er hier seinen Platz. Es war mit ihm herauf und herunter gegangen. Als Ungelernter in einer Fabrik hatte er begonnen, Schritt für Schritt ging es vorwärts, und schliesslich brachte er es bis zum Vorarbeiter. Alles ging gut. Dann hatte er Stine geheiratet, der kleine Heini kam zur Welt, und alles im bescheidenen Heim atmete Glück und Frieden.

    Der Teufel mochte wissen, wie und wo es angefangen hatte. Er fand Gefallen daran, sich mit der vollen Geldkatze am Sonnabend in die Kneipe zu setzen, bis er nach und nach nicht mehr herausfinden konnte. Wochenlohn und Ersparnisse gingen darauf, dann die Stellung obendrein; und eines Tages landete er dort, wo er jetzt steht. Der Satan sass ihm im Nacken und gab ihn nicht mehr frei. Sein Hirn war stumpf und blöde geworden; wie durch eine Nebelwand erinnerte er sich einer vergangenen, guten Zeit. Dann spürte er ein heisses Verlangen, dass es noch einmal wieder so werden möchte wie damals; er raffte sich zusammen und ging von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle. Er wollte sich wieder im Hause Achtung verschaffen. Aber wo er sich auch immer vorstellen mochte, niemand wollte den vom Suff gezeichneten Mann einstellen; und so trabte er zurück zum Markt, die Schultern eingezogen, den Kopf gebeugt, als trage er eine schwere, unsichtbare Last. — So stand er auch heute auf seinem Platz, mit zitternden Händen, nass und frierend. — Das war Adje Schmidt, des kleinen, vierschrötigen Heinis Vater! — —

    Unterdessen sass Stine, Heinis Mutter, in ihrer armseligen Wohnung im zweiten Stock im Bäckergang an der Nähmaschine und arbeitete, stumm, freudlos wie ein Arbeitstier, um nur das Notwendigste zum Lebensunterhalt zu verdienen. Alles im kleinen Zimmer war blitzblank und sauber. Hier und dort stand noch eine Vase, und dieser oder jener Gegenstand erinnerte noch daran, dass die Familie früher einmal bessere Tage gesehen hatte. Ja damals! — Da war Stine noch das kräftige, lebenslustige Mädel. Was aber hatten die letzten Jahre aus ihr gemacht? Vor der Zeit war sie welk und siech geworden. Als nun alles um sie herum zusammenbrach, legte sie aber nicht etwa die Hände in den Schoss und klagte Gott und den Menschen ihr Missgeschick; nein, das hatte sie wahrhaftig nicht getan! — Zum Scheuern und Reinemachen ist sie gegangen, Sommer und Winter zog sie morgens um 5 Uhr los und besorgte ihre Kontore; ausserdem nahm sie Näh- und Flickarbeiten an. Sie schonte sich nicht, und sie schaffte es! Niemanden

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