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Das Zepter von Vissalya - Der Aufbruch
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Das Zepter von Vissalya - Der Aufbruch
eBook496 Seiten7 Stunden

Das Zepter von Vissalya - Der Aufbruch

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Über dieses E-Book

Seit fast 200 Jahren herrscht Frieden in Vissalya. Doch die Zeiten werden rauer und dunkle Wesen aus uralten Zeiten versuchen die Macht an sich zu reißen. Nur noch wenige kennen das Geheimnis des magischen Zepters, das mächtig genug ist, um das Böse zu bannen. Damit Linus dieses Mysterium lösen kann, muss er Freundschaften schließen und gefährliche Reisen wagen. Doch dann erschüttert ein rätselhafter Mord das Machtgefüge des Landes und bringt ihn in ernsthafte Gefahr …

Der erste Band »Der Aufbruch« ist die Einleitung zu einer großen Abenteuergeschichte, die sich über die weiteren vier Bände hin erstrecken wird.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. März 2017
ISBN9783947080021
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    Buchvorschau

    Das Zepter von Vissalya - Der Aufbruch - J. D. Fischer

    Mach mit

    Stell dir vor, du sitzt in zehn oder zwölf Jahren mit deiner Freundin, deinem Kind oder Enkel im Kino und schaust den neuesten Hollywood-Blockbuster, von dem schon seit Wochen in allen Medien die Rede ist. Du bist ganz gespannt und kannst kaum erwarten, dass der Film losgeht. Du wartest auf einen ganz bestimmten Moment, eine besondere Szene, um dann deiner Begleitung zu sagen: »Diese Figur habe ich erfunden!«

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    TaeFahpiCaa2oh

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    Prolog

    Amelia hakte sich an seinem Arm unter, legte den Kopf auf seine Schulter und schmiegte sich auf dem purpurnen Sofa an seine Seite. »Jordan, erzähl uns eine Geschichte«, bettelte sie. Die beiden kleinen Mädchen, die auf dem Teppich vor ihren Füßen saßen und Klatschspiele sangen, kamen zu ihnen herüber, dann fielen sie kichernd in diese Bitte mit ein. Amelia war inzwischen dreizehn Jahre alt und viel vernünftiger als ihre beiden Cousinen Vittoria und Tianna, aber wenn es um eine Geschichte ging, die ihr großer Bruder erzählte, wurde sie wieder zum kleinen Mädchen. Das schmeichelte Jordan.

    Jordan hatte vor einigen Monden den achtzehnten Tag des Lebens gefeiert; seit diesem Geburtstag lebte er allein in einer Hütte hinter dem Lager des Hafenhändlers, für den er arbeitete. Seine kleinere Schwester Amelia war zu Onkel und Tante gezogen, als sie beide Waisen wurden. Während er ein ärmliches, schlichtes Leben lebte, hatte sie hier den Luxus einer reichen Handelsfamilie aus Mendibee. Aber es war seine eigene Entscheidung gewesen, lieber auf eigenen Füßen zu stehen, auch wenn seine Tante Abigali ihn jedes Mal prüfend und mit sorgenvollem Blick ansah, wenn er zu Besuch kam. Sie hätte ihn gern unter ihrem Dach aufgenommen, nicht nur, weil es ihre Pflicht als Schwester seiner Mutter gewesen wäre, sondern weil sie ein großes Herz hatte und ihn gern bei sich gehabt hätte.

    Jordan aber lockten das Abenteuer und die Freiheit. Er fand schnell eine Arbeit im Hafen, die ihm zwar keinen Reichtum bescherte, ihm aber genügend Grimlohs¹ einbrachte, um für sich selbst sorgen zu können. Als Gehilfe des Hafenhändlers besuchte er mit seinem Meister Seager Valverde die neu ankommenden Schiffe im größten Hafen von Landaria, sodass er bei allen Gesprächen des Händlers mit den Schiffskapitänen dabei war. Seine Arbeit bestand hauptsächlich darin, unzählige, meist schwer beladene Kisten hinund herzutransportieren, gefüllte Fässer die Planken herunter- und heraufzurollen und manchmal Käfige mit exotischen Tieren oder einfach nur wild kreischenden, flatternden Hühnern abzuladen. Neben den paar Silbergrimlohs erhielt er noch eine Vielzahl geheimnisvoller Geschichten als Lohn. Die Schiffe kamen aus vielen Häfen an der Insel an. Nicht nur aus Vissalya, gelegentlich auch aus dem fremden Kontinent jenseits des Meeres, den man Creasolu nannte. Die Kapitäne und Seeleute von dort hatten nicht nur ein exotisches Aussehen und die außergewöhnlichsten Waren, ihre Geschichten waren viel phantasievoller, außerdem reichten sie viele Jahrtausende zurück. Das faszinierte Jordan so sehr, dass er sich nicht vorstellen konnte, einmal in die Stadt zu ziehen und den Hafen mit all diesen Abenteurern zu verlassen. Ganz im Gegenteil, heimlich sehnte er sich danach, selbst ein großes Abenteuer zu erleben.

    Doch nun war er erst einmal in dem feinen Haus seiner Familie bei seiner Schwester zu Besuch und überlegte, welche der Abenteuergeschichten er heute erzählen sollte. Er schlürfte noch einmal von seinem heißen Tee, stellte die Tasse auf dem goldverzierten Holztischchen zu seiner Linken ab, ohne dass seine Schwester seinen Arm auch nur eine Sekunde losgelassen hatte, holte tief und bedeutsam Luft, dann begann er zu erzählen.

    »Es war einmal eine kleine Prinzessin aus der Wüste von Creasolu, die mit ihrer unvergleichlichen Schönheit allen Jünglingen den Kopf verdrehte …« Doch noch ehe er den ersten Satz beenden konnte, wurde er von Amelia unterbrochen »Nein, nicht so eine Geschichte. Erzähl uns von dem Zeitalter der Schatten und von den Monstern.« Jordan hatte diese Geschichte bestimmt schon einhundert Mal erzählt, wobei die beiden kleinen Mädchen jedes Mal große, ängstliche Augen bekamen. Deshalb zögerte er. Als sein Blick aber auf das Gesicht seiner Schwester fiel, wurde ihm schlagartig klar, dass er eine Diskussion gar nicht erst anzufangen brauchte. Er seufzte und begann von Neuem.

    »Im Zeitalter der Schatten, das vor vielen tausend Jahren begann, und alle Zeit davor, gab es weder Vissalya noch Creasolu noch die Insel Landaria, auf der wir jetzt leben. Alles Land war verbunden, ein riesiger Kontinent, der vom Horizont des Sonnenaufgangs bis zum Horizont des Sonnenuntergangs reichte. Von den ersten Siedlern der Vorgeschichte, die sich 25.000 Jahre vor Kano Sei² an den Küsten niederließen, wissen wir heute nicht mehr viel. Sie hatten alles, was sie zum Leben brauchten, und waren ein friedliches Volk. Dann, 13.000 Jahre vor Kano Sei, kamen die ersten Glarocks aus den unbekannten Orten jenseits des versteinerten Meeres aus dem Osten und landeten an der Küste, die heute die Ostgrenze von Creasolu ist. Die Glarocks waren keine Menschen. Sie gingen auch auf zwei Beinen wie wir, sie hatten zwei Arme wie wir und zwei Augen im Kopf wie wir. Aber ihre Haut war hart wie Stein, unverletzbar und zäh. Weder Sonne noch Feuer noch Eis konnten ihnen etwas anhaben. Sie waren etwas größer als die Menschen damals, sprachen eine andere Sprache und hatten Augen so grün wie Jade. Wenn sie vor einen Felsen, an einen großen Stein oder vor eine Mauer traten, wurden sie eins mit den Steinen ihrer Umgebung. Nicht sichtbar für die Menschen, getarnt wie ein Chamäleon im Wald. Sie hatten keine Familien und kannten keine Liebe. Sie sahen nicht nur aus wie aus Stein gemeißelt, sie waren auch hart und unbarmherzig wie ein Stein. In den nächsten fünftausend Jahren wurden sie immer zahlreicher und mächtiger. Die Menschen flohen von den Küsten, zogen ins Landesinnere, dann weiter nach Westen, bis an die westliche Grenze des heutigen Vissalya. Aber um 8.000 vor Kano Sei hatten die Glarocks den ganzen Kontinent besiedelt. Kein fröhlicher Tag ereignete sich im Zeitalter der Schatten. Die Glarocks beherrschten mit bitterer Grausamkeit die Geschicke aller Völker, versklavten die Menschen und Tiere unter ihrem Willen. Doch dann, eines Tages, zweitausend Jahre nach Beginn des Zeitalters der Schatten, zeigten die fünf Göttinnen Gnade mit den Menschen. Ein von den Göttinnen geliebter Junge aus dem Westen, genannt Magnos, erhielt den Auftrag, die Glarocks zu bekämpfen. Die Göttinnen trugen ihm auf, fünf bestimmte Metalle zu suchen, um daraus ein Zepter zu schmieden, das die Macht der zwei Monde vereinte. Dieses Zepter von Vissalya war der Beginn des Zeitalters der Menschen. Mit seiner Macht gelang es Magnos, die Menschen zu einem Heer zu vereinen und die Herrschaft der Glarocks zu beenden. Zur Freude der fünf Göttinnen erkannte Magnos die Gefahr, die von dem Zepter ausging, das die Macht hatte, den Willen aller Kreaturen zu unterwerfen. Er zerbrach es so in fünf Teile, dass jedes Stück aus einem der Metalle bestand. Dann sorgte er dafür, dass sie an einem geheimen Ort versteckt wurden. Fünf Hüter erklärten sich bereit, die Zepterteile zu verbergen und zu beschützen. Durch die unglaubliche Macht, die das Zepter freisetzte, als es zerstört wurde, erschütterte die Erde und zerriss sie in zwei große Teile. So entstanden Vissalya im Westen und Creasolu, der Wüstenkontinent, im Osten. In der Mitte füllte ein neuer Ozean, das Stille Meer, die Leere. Vor der Küste Vissalyas bildeten sich mehrere Inseln, von denen Landaria die größte war. Viele der Glarocks wurden getötet, die wenigen noch verbliebenen Monster wurden aus Vissalya verbannt und auf den Wüstenkontinent im Osten ins Exil geschickt. Getrennt durch das Stille Meer, bewacht von der Festung Mendibee auf der Insel, kehrte eine nun seit sechstausend Jahren herrschende Freiheit für die Menschen in Vissalya ein. Seit dem Zeitalter der Schatten wurde kein Glarock mehr in Vissalya gesehen, auch nicht in Creasolu – es sind nur Gerüchte, die von der Existenz der Glarocks berichten.«

    Gerade als er die Geschichte beendet hatte, mischte sich seine Tante ein, die hinter seinem Rücken ins Zimmer getreten war. »Auch wenn die Mädchen zu gern an deine Phantasiegeschichten glauben möchten, sind sie nichts weiter als Hirngespinste alter Seefahrer und Legenden aus grauer Vorzeit, die ein Mensch, der bei gesundem Verstand ist, wohl kaum für wahr halten kann. Denkst du das nicht auch, Jordan?« Als er sich zu ihr umdrehte, sah er, dass sie ihn mit erzürnt funkelnden Augen ansah. Schließlich musste sie nachts am Bett ihrer Töchter Händchen halten, wenn diese, aufgewühlt vom Seemannsgarn, das er ihnen in den Kopf gesetzt hatte, nicht schlafen konnten. »Gewiss, liebe Tante Abigali, es sind nur Legenden«, gab er ihr Recht und lächelte verschmitzt. Sie seufzte, ging aber nicht weiter auf dieses Thema ein. »Vittoria, Tianna, Zeit ins Bett zu gehen. Amelia, bleib nicht mehr so lange auf, es ist bereits spät. Jordan, setzt du dich noch zu deinem Onkel Manton?« Die beiden kleinen Mädchen sprangen auf, liefen zu ihrer Mutter, umklammerten jede ein Bein und kicherten. Abigali strich beiden liebevoll über den Kopf, dabei schaute sie Jordan an, da er noch keine Antwort gegeben hatte. »Heute lieber nicht, Tante, es ist schon dunkel, ich gehe lieber zurück zu meinem Schuppen.« Sie nickte ihm zu, teils mit liebevollem, teils mit besorgtem Blick.

    Er fragte sich noch, was sie wohl in ihren Gedanken zu ihm sagen wollte, als Amelia ihn abermals am Ärmel zupfte. Geheimnisvoll kam sie nah an sein Ohr heran, als er sich ihr zuwandte und flüsterte: »Ich habe vor drei Tagen einen Glarock auf dem Markt gesehen. Als ich ihn Tante Abigali zeigen wollte, war er verschwunden, mit der Stadtmauer von Mendibee verschmolzen. Ich bin ganz sicher, das war kein normaler Mann.« Er nahm sie bei den Schultern, schob sie auf Armesbreite weg, um sie lange und ernst zu betrachten. Warum sagte sie so etwas zu ihm? Sie war schon lange nicht mehr das kleine Mädchen, das an alte Schauergeschichten glaubte. In ihren Augen lag diesmal keine Spur von Witz. Kein Lächeln zuckte heimlich um ihre Mundwinkel wie sonst, wenn sie ihn necken wollte. Trotzdem konnte er ihren Worten keinen rechten Glauben schenken.

    Gefahr im Schattenwald

    Es roch nach Wald, zum ersten Mal in diesem Jahr. Der Winter hatte vor zwei Wochen seinen Abschied verkündet, als sich erste Tropfen von den Eiszapfen lösten und mit leisem, kaum hörbaren Platschen im Schnee versanken. Mit jedem Tautropfen wurde dieses Geräusch lauter. Inzwischen hatte sich der Boden rund um das Haus vollkommen vom Schnee befreit und in ein Feld aus dunklem Matsch verwandelt, in dem man knöcheltief einsank, sobald man aus der Tür trat. Heute roch es zum ersten Mal nach Waldboden, altem Laub und Tau, als die hellen Streifen der Dämmerung über dem Nebel erschienen. Der zu Eis erstarrte Wald taute auf und kämpfte sich langsam, Stück für Stück, ins Leben zurück. Fast den ganzen Winter lag der Schattenwald unter einer weißen, erdrückenden Decke aus dichtem Nebel. Man konnte nur die schemenhaften Umrisse der nächstgelegenen Bäume erkennen. Nur die Baumspitzen der alten Nadelbäume waren groß genug, sodass sie über die Nebeldecke hinausragten, wenn man hoch genug auf einen Hügel oder Baum kletterte. Der Nebel hielt einen im Winter wie gefangen. Obwohl die riesigen Wälder, Hügel und sanften Wiesen noch da waren, fühlte es sich an, als wäre jegliche Weite verschwunden. Es war, als wäre man in Watte gepackt, unfähig, sich zu bewegen oder um sich zu blicken. Die unglaubliche Größe des Schattenwaldes, die Linus im Sommer so sehr liebte, schien zusammengeschrumpft und auf ein paar hundert Meter um das Haus herum begrenzt zu sein.

    Der Geruch, der ihm nun zum ersten Mal seit Monaten in die Nase kroch, weckte die leise Hoffnung auf den kommenden Frühling in ihm. Sein Herz, das sich gestern noch schwer und eng umklammert angefühlt hatte, klopfte nun frei und leicht in seiner Brust. Es war sehr früh am Morgen. Das erste Licht verabschiedete die Nacht mit seiner Dämmerung. Noch immer war es bitterkalt – erst als die Sonne sich über den Waldrand erhoben hatte, wärmten ihre Strahlen die erstarrte Natur. Nach einer unruhigen kalten Nacht war Linus vor allen anderen aufgestanden. Die Nervosität, ja Angst, die er in den Tagen zuvor gespürt hatte, war verflogen. Eine seltsame, unerwartete Ruhe kehrte in ihm ein, die ihn alles klar und deutlich sehen ließ, fast so, als betrachtete er sein Leben von außerhalb. Es war der Morgen nach dem ersten Doppelvollmond des Jahres. Kurz vor Beginn des Frühlings zeigten sich der Fahle Mond und der Blaue Mond³ rund und groß wie die Augen eines Raubtiers am Himmel. Dies war der Morgen, an dem traditionell die Jäger im Kemutikon-Gebirge jenseits der Eiswüste mit der Jagd begannen. In diesem Jahr, kurz nach seinem dreizehnten Tag des Lebens, sollte er zum ersten Mal mit dabei sein und beweisen, dass er zum Mann geworden war. Ihm war diese Tradition fremd, ebenso wie ihre Art zu Jagen. Jedoch sein Herr Vater Andrej bestand darauf, diese Tradition auch mit ihm fortzuführen. Andrej war nicht sein richtiger Vater, er war mit seinen Brüdern vor fünf Jahren zu ihm und seiner Mutter gezogen. Sein richtiger Vater Åke⁴ war gestorben, als Linus noch ein kleiner Junge war, der den ganzen Tag durch den Wald streifte, am Bach Dämme baute und mit den Füchsen verstecken spielte. Er war das einzige Kind von Åke und seiner Frau Mutter Ulrika, sodass es seine Aufgabe wurde, nach Vaters Tod das Holz zu sammeln, das Kartoffelfeld umzugraben, hoch in die Obst- und Nussbäume zu klettern und die Früchte zu ernten. Gelegentlich konnte er Hasen, ein paar Tauben und vielleicht ein Reh mit dem Bogen erlegen. Damals lebte nur noch der alte Anders bei ihnen. Knechte oder Mägde hatte es im Schattenwald schon seit Generationen nicht mehr gegeben; die nächsten Nachbarn wohnten einen halben Tagesmarsch entfernt. Nur selten machte Linus sich mit seiner Mutter auf den Weg in das nächste Dorf, um Holz und einige Früchte aus dem Waldgarten gegen die wenigen Sachen einzutauschen, die sie dringend zum Leben benötigten. Anders war alt und still, aber vermutlich sehr klug. Er war vor vielen Jahren, als Linus noch sehr jung war, zu ihnen gekommen, und sein gütiger Vater Åke hatte ihn aufgenommen, obwohl er auf Grund seines Alters nicht viel zur Arbeit im Haushalt beitragen konnte. Seine Aufgabe bestand darin, die Ziegen zu füttern und zu melken, den Stall sauber zu halten, Reisig zum Feueranmachen zu sammeln und an den Nachmittagen Linus zu unterrichten. Er lehrte ihn Lesen und Schreiben. Außerdem zeigte er ihm allerlei über Kräuterkunde und alte Heilkunst bei ihren gemeinsamen Spaziergängen durch die Wälder. Seit sein Vater gestorben war, hatte Anders ihm auch das Bogenschießen beigebracht, damit sie wenigstens ab und zu etwas Fleisch auf den Tisch bekamen. Inzwischen stellte Linus sich gar nicht so schlecht mit dem Bogen an. Es bereitete ihm sogar Freude, früh morgens allein in den Wald zu ziehen, die Tiere zu beobachten, sich an sie anzuschleichen, um im richtigen Moment seinen Bogen zu spannen und den Pfeil blitzschnell durch die Luft sausen zu lassen.

    Was jedoch heute von ihm erwartet wurde, war etwas vollkommen Neues. Die Männer aus dem Gebirge jagten, indem sie das Beutetier mit dem Pferd hetzten und sich aus dem Sattel direkt auf das Tier fallen ließen, um es dann im Zweikampf mit einem Messer zur Strecke zu bringen. Der jüngere Bruder des Herrn Vater, Fjodor, hatte im letzten Jahr bei seiner ersten Jagd auf diese Weise einen halb ausgewachsenen Bären erlegt. Seitdem trägt er einen Umhang aus Bärenfell und eine Kette mit den Nägeln der Bärenklauen. Bisher war ein Reh das größte Tier, das Linus getötet hatte. Heute würde er nicht mit einer so leichten Beute davonkommen. Es wurde erwartet, dass er Mut zeigt, indem er sich einen Kampf mit einem würdigen Tier lieferte.

    Nachdem er früh aufgewacht war, schlich er sich leise aus seiner Kammer, setzte sich auf die Bank vor dem Haus, betrachtete die Wälder und schärfte sein Messer mit einem Wetzstein. Sein Leben könnte davon abhängen, wie schnell das Messer bei seinem Angriff das wilde Tier töten könnte. Er wollte kein Risiko eingehen und so gut vorbereitet wie nur möglich auf sein Pferd steigen. Linus mochte den neuen Mann seiner Frau Mutter nicht und ebenso wenig dessen Brüder. Sie waren rau und grob, hatten einen schrecklich derben Humor, außerdem tranken sie zu viel von dem Birkenwein⁵, den seine Mutter im Frühjahr ansetzte. Ihre Pferde waren für sie von größerem Wert als ein Junge, so ließen sie ihn und auch Fjodor meistens in Ruhe. Fjodor war nur ein Jahr älter als er und ein schüchterner Junge, der sich offensichtlich ebenso unbehaglich in der Gesellschaft seiner Brüder fühlte wie Linus. Wäre Fjodor nicht gewesen, der mit ihm trainiert hatte, sich im schnellen Ritt vom Pferd abzustoßen, hätte er heute bestimmt keine Chance bei der Jagd. Bis auf das gemeinsame Training hatte er aber auch mit Fjodor wenig gemeinsam. Er würde ihn eher als einen Leidensgefährten denn als einen Freund bezeichnen. Er selbst war ein Kind des Waldes, Fjodor hingegen liebte sein Pferd mehr als das Land.

    Nun vernahm er ein Rumoren aus der Scheune. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sein Herr Vater mit seinen Brüdern erschien und sie zur Jagd aufbrechen müssten. Andrej selbst wohnte mit Ulrika und ihrem gemeinsamen vierjährigen Sohn Marius in der großen Kammer im Haus. Linus teilte sich dort die kleine Kammer mit Anders. Die Scheune diente als Pferdestall für die Reitpferde, von denen sich die Gebirgsmänner um nichts in der Welt getrennt hätten. Außerdem hatten sich dort die Brüder den Heuboden zurechtgemacht, sie schliefen lieber in der Nähe ihrer Pferde. Es war aber Linus‘ Mutter, die als Erste erschien. Sie trat leise aus dem Haus, ließ sich neben ihm nieder und reichte ihm einen Becher mit warmer, in der Kälte dampfender Ziegenmilch. Mit jedem Blick, den sie ihm schenkte, schien eine Bitte um Verzeihung mitzuschwingen. Sie wusste, wie sehr Linus ihren neuen Mann Andrej verachtete, aber gleichzeitig fürchtete. Linus war sich ganz sicher: Es war keine Heirat aus Liebe gewesen.

    Im Schattenwald lebten einst nicht viele Menschen, nur selten kamen Wanderer vorbei. Seine Mutter, Anders und er waren nach dem Tod seines Vaters auf sich gestellt gewesen. Sie lebten allein im Haus, das seinem Vater und vor diesem seinem Großvater gehört hatte. Es war ein recht großes Haus für die Gegend, gebaut auf einem Steinsockel, doch Wände und Dach waren aus Holzstämmen gezimmert. Es gab einen winzigen Schuppen, in dem sie ihre Werkzeuge aufbewahrten, einen kleinen Ziegenstall und die Scheune. Früher standen darin nur die alte Stute, die seine Mutter vor vielen Jahren mit in den Schattenwald gebracht hatte, und das Maultier, auf dem Anders hierhergeritten war.

    Ein Großteil der Arbeit und die große Last der Verantwortung lag auf den Schultern von Linus‘ Mutter. Er selbst erfüllte die Aufgaben, die ihm als Jungen übertragen werden konnten, allerdings war er meist noch trotzig und enttäuscht darüber, dass seine Streifzüge in den Wald ein jähes Ende gefunden hatten. Vor etwa fünf Jahren änderte sich ihr hartes, aber durch und durch friedliches Leben, als immer häufiger Jägergruppen aus dem Kemutikon-Gebirge nördlich der Eiswüste in den Schattenwald kamen. Die Lebensbedingungen dort waren wirklich hart. In den Höhen über der Eiswüste gab es wenig Vegetation und kaum fruchtbaren Boden. Die Familien dort zogen wie Nomaden von einem Ort zum anderen in der Hoffnung, bessere Wildbestände zu finden oder von den kargen Pflanzen des Gebirgsbodens Beeren und Kräuter ernten zu können. Die Winter der letzten Jahre waren besonders hart gewesen, sodass die Menschen im Gebirge jenseits der Eiswüste kaum noch in der Lage waren, ihre Familien zu versorgen. Deshalb zogen mehr und mehr Jäger durch die unerbittliche Eiswüste, um im Schattenwald ihr Glück zu versuchen. Nur die härtesten und kräftigsten Männer und Frauen überlebten den Weg durch das unendliche Eis. Diejenigen, die es bis in den Schattenwald geschafft hatten, wollten sich ein neues Leben aufbauen. Sie waren ebenso hart und unbarmherzig wie die Eiswüste selbst. Sie nahmen sich, was sie fanden, vertrieben Familien von ihren Höfen, indem sie das Land und Wild in der Region beanspruchten.

    Linus‘ Mutter hatte Angst gehabt. Angst, ihr Haus zu verlieren, Angst, ohne Wald und Garten nicht überleben zu können, Angst, von ihrem Sohn getrennt zu werden, und sogar Angst, ihr Leben zu verlieren, wenn die Nomaden zu ihr kämen. Mehr als einmal kamen Jägergruppen durch den Wald, fanden jedoch das Haus nicht und zogen weiter. Dann, eines Tages, Ulrika war gerade am Bach und wusch die Wäsche, wurde sie von einem Reiter entdeckt. Sofort war sie von vier kräftigen Männern auf ihren schweren, langhaarigen Pferden umzingelt. Die Männer reisten allein, fünf Brüder, von denen der jüngste noch ein Knabe war. Sie schienen keine Frauen zu haben, und es war Ulrikas Glück im Unglück, dass sie zwar Witwe, aber noch jung genug für weitere Kinder war. Andrej, der älteste Bruder, der offensichtlich das Sagen hatte, mochte sie vom ersten Moment an. Sehr schnell offenbarte er ihr sein Interesse an ihr. Auf seine raue, harte Art schien er sie aufrichtig und ehrlich zu lieben. Keiner der Brüder, aber auch kein anderer Mann würde wagen, sie anzurühren, das wusste Ulrika von dem Moment an, als Andrej von ihr forderte, seine Frau zu werden. Er war groß gewachsen, dunkel und kernig wie altes Holz, aber einige Jahre jünger als sie. Für sie und Linus war es eine Möglichkeit, zu einem Leben zurückzukehren, bei dem sie nicht jeden Tag nackte Angst ums Überleben haben müssten. Es gab wohl kaum eine Alternative für sie. Sie hatte zuvor davon gesprochen, zurück in die Dörfer des Brugau-Landes zu gehen. Zurück an den Ort ihrer Kindheit. Vielleicht hätte sie bei ihrer Tante Odette unterkommen können. Aber ihr fehlte der Mut, nach so vielen Jahren in der Einsamkeit wieder unter die Leute zu ziehen. Nun, da Andrej und seine Brüder da waren, gab es nur noch die Entscheidung zu einem gemeinsamen Leben mit ihnen, oder keinem Leben. Aber die Hoffnung, alles möge sich für sie und ihren Sohn zum Guten wenden, hatte sich schnell als vergebens herausgestellt. Sie litten zwar keinen Mangel und waren beschützt, aber das Leben mit diesen Männern aus der Fremde war alles andere als entspannt. Linus merkte, wie seine Mutter von Mond zu Mond⁶ müder und trauriger wurde. Früher, als sein Vater Åke noch gelebt hatte, war sie fröhlich gewesen, hatte viel gelacht und Späße gemacht. Das war nun lange her, ein Traum aus früher Kindheit.

    Nun, am Morgen seiner ersten großen Jagd waren die Augen seiner Mutter noch trauriger als gewöhnlich. An den roten Lidern konnte er erkennen, dass sie in der Nacht geweint hatte. Nun saß sie neben ihm, und er war froh, dass sie einfach schweigend den Morgen begrüßen konnten. Jedes Wort wäre zwischen ihnen heute zu viel gewesen. Er wusste auch so, was sie ihm sagen wollte. Dann ging das Tor der Scheune auf, Andrej und seine Brüder kamen mit den bereits gesattelten Pferden in den Hof. Linus‘ Mutter erhob sich eilig und ging schnell ins Haus, um auch den Männern Milch und Kastanienbrot zu richten. Andrej erblickte den Jungen vor dem Haus und schrie über den Hof: »Linus, hol dein Pferd, wenn du nicht zu Fuß auf die Jagd gehen willst. Wir warten nicht auf einen Langschläfer.« Linus stellte seinen Becher ab, dann ging er in die Scheune um das Pferd, das seine Frau Mutter ihm überlassen hatte, nun ebenfalls zu satteln. Wenige Augenblicke nach ihm betrat auch Anders die Scheune und machte sich an dem alten Maulesel zu schaffen. Linus sah ihn verwundert an, als der Alte das Tier gesattelt und mit Taschen bepackt neben seine Stute führte. Er saß noch in der Scheune auf, seinen Bogen und Köcher auf den Rücken geschnallt. Der Alte sah den fragenden Blick von Linus und entgegnete: »Mach den Mund wieder zu, Junge, du kennst mich schlecht, wenn du dachtest, ich lasse dich mit diesen Gebirgslöwen allein auf die Jagd ziehen.« Linus schenkte ihm ein Lächeln und trabte durch das Tor auf den Hof hinaus, wo sich inzwischen die Gebirgsmänner anschickten, ebenfalls die Pferde zu besteigen. Fünf kräftige, zottelige Pferde standen bereits im Hof. Andrej war mit einunddreißig Jahren der älteste der Brüder. Er war groß und kräftig, hatte dichtes schwarzes Haar und einen breiten Schnurrbart. Seine Augen waren dunkel, so dunkel, dass sie meist schwarz aussahen. Wenn er erbost oder gelangweilt war, zogen sich seine buschigen, dunklen Augenbrauen zusammen, und seine Augen sahen aus, als lägen sie tief in schattigen Höhlen in seinem Kopf. Seine Brüder Pjotre und Iwan sahen ihm sehr ähnlich, waren jedoch kleiner und schmaler als er. Sein Bruder Dimitri, der erst einundzwanzig war, hatte blaue Augen und sah verträumt aus. Wenn er mit den anderen sprach, erzählte er oft, dass er sich bald eine Frau suchen und in die Stadt ziehen würde. Die anderen lachten ihn aus, zerzausten ihm die glatten Haare, als könnten sie ihm dadurch die Flausen aus dem Kopf vertreiben, und knufften ihn in die Seite. Dimitri war schlanker und zarter gebaut als die anderen. Fjodor hatte Linus einmal erzählt, dass sie unterschiedliche Väter hatten, aber alle von der gleichen Mutter namens Dunja abstammten. Sie teilten sich alle den Namen Dragov. Ihre Familiengeschichte ließ sich über tausend Jahre zurückverfolgen bis zu einer Frau namens Donja Dragov, die auch als die Schreckliche Königin bekannt war. Fjodor sah seinen älteren Brüdern nicht sonderlich ähnlich. Er war ebenso kräftig gebaut und konnte Linus ohne Schwierigkeiten bei ihren Ringkämpfen, die sie im Sommer im Gras übten, zu Boden drücken. Seine Haut und seine Haare waren aber heller als die seiner Brüder und er schien ihre Hartherzigkeit nicht zu teilen. Er war der einzige, der gelegentlich ein Auge auf Marius hatte, ihn mit zu den Pferden nahm oder ihm die kleinen Kaninchen im Wald zeigte. Wenn seine Brüder jagen waren und mehrere Tage nicht nach Hause kamen, ging er Ulrika zur Hand, versorgte seinen kleinen Neffen und half bei der Hausarbeit. Heute war er ebenso wie Linus mit von der Partie, wenn auch die Prüfung, die Linus nun vor sich hatte, bereits hinter ihm lag. Er musste sich dieses Mal zurückhalten, bis Linus seine Aufgabe erfüllt hatte.

    Wie üblich ging es laut bei den Dragovs zu, als Linus sich zu ihnen gesellte. Sie scherzten; Iwan versuchte, Pjotre aus dem Sattel zu schubsen, hatte aber keinen Erfolg. Dafür bekam er es gleich heimgezahlt, als dieser sein Pferd geschickt wendete und die Lederriemen, die Iwans Satteltaschen hielten, mit einem Schnitt seines Jagdmesser durchtrennte, sodass die Tasche zu Boden fiel. »Wenn ihr mit dem Kinderkram bald fertig seid, können wir vielleicht noch losreiten, bevor die Sonne hoch am Himmel steht«, donnerte Andrej, gab seinem Pferd einen Tritt in die Flanken und preschte als Erster vom Hof. Fjodor grinste Linus an, dann folgte er ihm so schnell er konnte. Auch die anderen setzten sich in Bewegung, wobei Iwan seine Taschen und damit auch sein Mittagessen zurücklassen musste. Als Letzte verließen Anders und Linus den Hof, doch Anders ermutigte ihn, zu den Reitern aufzuschließen, da er mit seinem Maulesel das Tempo ohnehin nicht halten konnte. Linus schenkte ihm einen Blick über die Schulter, mit dem er sich bei dem alten Mann bedanken wollte. Dieser nickte kurz und kümmerte sich dann wieder darum, sein Reittier in Trab zu versetzen. Linus preschte davon und jagte den anderen Pferden hinterher. Sein Herz klopfte. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl auf dem Rücken eines Pferdes, obwohl seine Stute lammfromm und sehr geschickt war. Die kalte Morgenluft ließ seine vom Tau feuchten Haare zu Eis erstarren, die Kälte des Waldes hüllte ihn ein. Bald hatte er die Reiter eingeholt, die auf die Mitte des dichten Waldes zuritten. Inzwischen hatten sie aufgehört, zu Scherzen und zu Grölen, stattdessen ritten sie leise auf der Pirsch durch das dichte Unterholz. Die ersten Stunden des Tages vergingen, doch bisher hatten sie kein Glück gehabt, denn sie waren noch keiner lohnenswerten Beute begegnet. ›Warum sollten sie so tief in den Wald gehen? Wäre es nicht sinnvoller, an den Lichtungen und Feldrändern nach Wild Ausschau zu halten?‹, fragte sich Linus. Andrej war es gewohnt, im Gebirge und den Rändern der Eiswüste zu jagen. Im dichten Wald wären sicherlich andere Jagdtechniken ratsam als im Gebirge.

    Linus grübelte noch über die Pläne und Taktik seines Herrn Vaters nach, als dieser sein Pferd stoppte und den anderen ein Zeichen gab, ebenfalls anzuhalten. Er hatte etwas entdeckt und winkte Linus zu sich her. An der Körperhaltung der übrigen Begleiter erkannte Linus, dass es eine mächtige Beute sein musste, der sie auf der Spur waren. Vielleicht hatten sie einen Bären oder einen Wildbiber gefunden, der so groß wie ein ausgewachsenes Schwein werden konnte und den Arm eines Mannes mit einem Hieb durchbeißen konnte. Beides keine leichte Beute, die dort auf ihn warten würde. Was er jedoch sah, als er neben Andrej zum Stehen kam, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Am Fuße des sanften Hügels, den sie soeben von Osten her erklommen hatten, sah er zwei Drahtwölfe. Sie waren deutlich kleiner als gewöhnliche Wölfe, hatten etwa die Größe eines ausgewachsenen Schäferhundes und langes, flauschiges graues Fell. ›In den Augen eines Fremden mussten sie niedlich und ungefährlich aussehen‹, schoss es Linus durch den Kopf. Er hatte aber viel von Anders über die Tiere des Waldes gelernt, sodass er nun wusste, warum diese Tiere Drahtwölfe genannt wurden. Unter ihrem buschigen, weichen Fell gab es eine sehr dichte Unterwolle, die so fest und stabil wie ein Drahtgeflecht war, um das ganze Tier wie ein Kettenhemd zu schützen. Kein gewöhnlicher Pfeil und kein Messer konnte sie verletzten. Unter diesem kuscheligen Pelz verbarg sich ein starker Wolf, jederzeit kampfbereit, mit Klauen und einem starkem Gebiss. Gegen diese beiden Wildtiere hatte er keine Chance zu überleben. Nicht, wenn er nur mit einem Messer bewaffnet war. Das einzige Mittel, um den Drahtpanzer zu durchbrechen, war Feuer. Doch weit und breit war kein Feuer entfacht, außerdem ahnte er, dass die Dragov-Brüder von ihrer traditionellen Kampftechnik kein Stück abweichen wollten. Irgendwie musste Linus einen Versuch unternehmen, das nahende Unheil zu stoppen.

    Es waren zwei Wölfe, vermutlich ein Wolfspaar, denn Drahtwölfe waren Einzelgänger und lebten nicht in Rudeln. Sollten sie Nachwuchs erwarten, würden sie sich nicht damit begnügen, einen Angreifer niederzuringen, sondern würden die gesamte Gruppe angreifen. Linus fasste allen Mut zusammen. »Herr Vater Andrej«, flüsterte er dem Mann auf dem Pferd zu seiner Rechten zu. »Das sind Drahtwölfe, man kann sie nicht mit einem Messer besiegen …« Eine Handbewegung seines Vaters und sein eisiger Blick ließen ihn verstummen. »Ich hatte nicht erwartet, dass du bei der Jagd erfolgreich sein würdest, Junge. Allerdings hatte ich dir mehr Mut zugetraut. Ich dachte, du würdest es wenigstens versuchen. Ich habe mich wohl getäuscht, du scheinst eher ein Mädchen als ein Mann zu sein.« Er warf Linus noch einen finsteren Blick zu, dann ließ er sein Pferd den Hügel hinuntertraben. ›Er weiß es nicht‹, dachte Linus bei sich. Er kannte keine Drahtwölfe, ließ sich von ihrem harmlosen Aussehen blenden. Ohne einen weiteren Gedanken zu fassen, ritt er hinter Andrej den Hügel hinunter. Dieser hatte bald die Wölfe erreicht, die ihn mit gefletschten Zähnen anknurrten, und um sein Pferd herum Stellung bezogen. Er hielt sein Jagdmesser in der rechten Hand, ritt auf den größeren der Wölfe zu, stieß sich dann aus dem Sattel ab, wie es die traditionelle Jagdart im Gebirge jenseits der Eiswüste war. Im ersten Moment war der Drahtwolf unter ihm, überrascht von dem plötzlichen Angriff, doch als die Messerstöße keine Wirkung zeigten, war es bald der Wolf, der die Oberhand gewann und Andrej unter seinem schweren Körper gefangen hielt. Linus, der auf seinem Pferd nah an das Kampfgeschehen herankam, konnte sehen, wie Andrej versuchte, die scharfen Zähne des Drahtwolfs von sich fernzuhalten. Er umklammerte den Hals des Tieres, versuchte so, ihn von sich wegzudrücken. Bald floss rotes Blut seine Arme entlang. Der Wolf war schnell und wendig, er hatte mehr als einmal zubeißen können. Andrej brauchte seine ganze Kraft, um ihn von seinem Gesicht fernzuhalten. Dann schaffte er es, sich über den Wolf zu wälzen, und drückte ihn so gut es ging zu Boden. Der Drahtwolf ließ sich das nicht lange gefallen und kroch rückwärts aus der Umklammerung heraus, um im gleichem Moment, in dem er sich freigekämpft hatte, erneut anzugreifen. Dieses Mal war Andrej so überrascht, dass seine Deckung nachgab. Das scharfe Wolfsgebiss schlug sich in seine Kehle. Das Wolfsweibchen hatte mit gefletschten Zähnen und ständigem Knurren den Kampf verfolgt, sich aber selbst in einigem Abstand gehalten.

    Gerade in dem Moment, als Linus diese Wölfin erreichte und sich vom Pferd stürzen wollte, zischte ein Feuerblitz an seinem rechten Ohr vorbei. Es musste ein brennender Pfeil sein, der von hinten auf den kämpfenden Drahtwolf geschossen worden war und diesen im Nacken traf. Ein zweiter, dann ein dritter folgten sofort und verletzten den Drahtwolf an der Kehle sowie zwischen den Rippen. Ein weiterer Feuerblitz zuckte durch den Schnee, landete aber zwischen den Füßen des anderen Wolfes an Linus‘ Seite, ohne diesen zu verletzen. Der kleinere Drahtwolf hob den Kopf, schaute in die Richtung, aus der das Feuer kam, schaute zu Linus, der neben ihm im Schnee hockte, bereit, einen hoffnungslosen Ringkampf auszufechten. Die Wölfin blickte ihm direkt in die Augen, sodass Linus für einen Moment glaubte, sie wollte ihm sagen, dass sie ihn nicht vergessen werde. Dann flog ein weiterer Feuerblitz durch die Luft. Die Wölfin machte kehrt und verschwand blitzschnell im Wald. Linus blickte auf die kleinen glimmenden Feuer im Schnee. Es waren Pfeile, die in Brand gesetzt worden waren. Linus blickte sich um. Die anderen Männer hatten sich um den toten Wolf und den am Boden liegenden Andrej versammelt. In der Richtung, aus der die Pfeile geflogen gekommen waren, stand ein Mann mit gespanntem Bogen auf der Kuppe des Hügels. Es dauerte einen Moment, bis Linus in diesem Mann seinen Mentor Anders erkannte. Er hatte nicht erwartet, ihn so schnell bei der Gruppe zu sehen, die mit einigem Vorsprung vor ihm geritten war. Vor allem war er verwundert über seine kampfbereite Haltung. Er sah nicht mehr nach dem alten Mann aus, der er in den letzten Jahren gewesen war.

    Während Linus noch nicht fassen konnte, was gerade passiert war, kam Anders den Hügel hinuntergesprungen, verstaute den Bogen dabei wieder auf seinem Rücken, sprang auf Linus‘ Pferd und reichte ihm eine Hand, um ihn hinter sich in den Sattel zu ziehen. Mit einem misstrauischen Blick auf die Dragov-Brüder, von denen nur Fjodor zu bemerken schien, was sich um ihn herum abspielte, während alle anderen über Andrej und den Wolf gebeugt waren, zischte er Linus an: »Mach schon, steig auf, wir müssen schnell hier weg!« Linus schwang sich zu ihm auf seine Stute. Er erhaschte in dem Moment, als Anders das Pferd umlenkte und den Hügel hinauf antrieb, noch einen Blick von Fjodor, der ihm direkt in die Augen sah und ihm langsam zunickte. Noch ganz benommen von den Ereignissen und der raschen Wendung des Geschehens, versuchte er zu begreifen, was vor sich gegangen war. Anders griff nach den Zügeln des Maultiers, um es hinter sich herzuziehen. Er fragte Linus über die Schulter hinweg, ob er verletzt sei, dann gab er dem Pferd einen Tritt in die Flanken, als der Junge die Frage verneinte. Durch den in der Mittagssonne glitzernden, vereisten Wald führte die Stute sie zielsicher zurück nach Hause. Dem Maultier blieb nichts anderes übrig, als irgendwie Schritt zu halten.

    ›Was ist gerade passiert?‹, versuchte Linus seine Gedanken zu ordnen. Sein Herr Vater war sicherlich tot. Es hatte so viel Blut gegeben, dass sich die Stelle um den Mann und den Wolf rot gefärbt hatte. Einen Angriff von einem Drahtwolf, der seine Familie beschützen wollte, überlebte man nicht. Er selbst hatte wohl sein Leben auch nur den Feuerpfeilen zu verdanken. Wo war das Feuer hergekommen? Gewiss, die Pfeile hatte Anders mit seinem Bogen abgeschossen, aber wie hatte er sie so schnell zum Brennen gebracht? Wovor waren sie nun auf der Flucht und was – um der Göttinnen Willen – war mit Anders geschehen? Wer war dieser wendige, starke Mann, und wo war der alte Greis geblieben, den er sein halbes Leben gekannt hatte? Diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während sie durch den Wald ritten. Doch der Gedanke, der ihm in den Sinn kam, als sie das Haus in der Senke liegen sahen, ließ Linus einen eiskalten Schauer den Rücken hinunterlaufen. Was würde nun mit ihnen geschehen? Sie hatten Andrej und seine Brüder im Wald zurückgelassen. Der Mann seiner Frau Mutter, der ihr in den letzten Jahren Schutz geboten hatte, war voraussichtlich tot. Was würden die Dragov-Brüder tun? Würden sie hier bleiben, bei Mutter und ihrem Neffen Marius? Würden sie zurückkehren in das Kemutikon-Gebirge? Was sollte aus ihm werden? War es richtig gewesen, einfach davonzureiten? Er dachte an den Blick von Anders, als dieser ihn auf das Pferd hochgezogen hatte, und an den Blick, den Fjodor ihm bei ihrem überstürzten Aufbruch zugeworfen hatte. Irgendwie wusste er, dass sich alles ändern würde, dass er tatsächlich zum Mann geworden war, auch wenn der Tag anders verlaufen war, als sein Herr Vater es geplant hatte.

    Die Pflichten der Königstöchter

    Es musste einen heftigen Streit gegeben haben, das erkannte die elfjährige Yuki sofort an der Art, wie die schwere messingverblendete Tür zum Ratssaal aufgestoßen wurde. Solange die Tür geschlossen war, drang kein Laut aus dem Inneren des Raumes. Prinzessin Yuki und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Yuna saßen wie jeden Samstag auf der Bank im Vorraum. Sie warteten geduldig, bis die Ratsaudienz beendet war, damit ihr Vater, der König, sie empfangen konnte.

    Die beiden Mädchen hatten wie jede Woche den Morgen damit verbracht, sich für die Audienz bei

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