Michelle
Von Bernt Danielsson
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Buchvorschau
Michelle - Bernt Danielsson
wissen.
Mittsommer
Wenn das hier ein Film wäre, würde er so anfangen:
Der Zuschauerraum wird dunkel, der Vorhang geht hoch – die Kamera fegt über spiegelblankes Wasser. Ein früher Sommermorgen – das sieht man an den Farben, am Licht. Die Kamera ist vorn an der Schnauze eines Hubschraubers anmontiert (aber das sieht man natürlich nicht), der auf die Schären nördlich von Stockholm zuhält.
Die Musik setzt sofort ein: ein stampfender Baß, von spröden, glockenähnlichen Synthiklängen umspielt. Dann ein kurzer, prägnanter Akkord auf einem anderen Synthi, ein Streicherklang – und der Vorspann beginnt mit großen roten Buchstaben.
Die Wasseroberfläche wird immer mehr von einer stillen Brise gekräuselt, die landeinwärts streicht. Kleine Felseninseln tauchen auf und flitzen rasch am Betrachter vorbei. Nach und nach wachsen sie und werden zu richtigen Inseln, grüne Bäume und Büsche tauchen auf und Häuser, kleine Bootshäuser an morschen alten Stegen und prächtige, frischrenovierte Jugendstilvillen.
Vor einem kleinen rotgestrichenen Sommerhaus mit weißen Ecken sitzt eine Familie und frühstückt neben einer Fahnenstange, auf der die schwedische Fahne in der Brise flattert.
Die Filmmusik legt jetzt richtig los, farbenprächtige Synthiteppiche werden ausgerollt, und im Vordergrund röhrt ein Altsaxophon.
Die Kamera gleitet in eine weite, offene Bucht hinaus. Ganz hinten erhebt sich eine bewaldete Felswand steil aus dem Wasser. Mitten in dem dunklen Grün leuchtet ein hellbraunes Rechteck.
Als das Kameraauge sich nähert, entpuppt sich das Rechteck als ein Holzhaus, das hoch oben auf dem Felsen liegt. Das Haus wird immer größer und bleibt im Mittelpunkt der Leinwand.
Jetzt entdeckt der Zuschauer eine Veranda, die an der ganzen Vorderseite entlangläuft. Die Veranda ist leer, und man kann durch die großen Fensterfronten direkt in ein Zimmer reinschauen.
Im selben Augenblick, als der Zuschauer bereits damit rechnet, daß die Kamera gleich durchs Fenster kracht, steigt der Hubschrauber geschmeidig in die Höhe und streicht dicht über die roten Dachziegel hinweg.
Auf der Rückseite des Hauses wird er langsamer und senkt sich über einen großen Garten. Der Garten ist voller grünschimmernder Büsche, Apfelbäume und Birken, links steht ein üppiger Goldregen mit knallgelben Blütentrauben. Direkt dahinter leuchtet ein riesiger, blauvioletter Rhododendronbusch auf. Die Sonne scheint hinter der Hausecke hervor und durchleuchtet die tausend zarten Blätter einer Fliederhecke. Die schräg fallenden Sonnenstrahlen werfen Schatten auf den Rasen. Der Hubschrauber landet. Die Kamera folgt einer Treppe aus Schieferplatten vom Haus zu einer rotgestrichenen Garage runter. Ein fast zugewachsener Weg führt vom unteren Ende der Garage auf eine größere asphaltierte Straße hinaus.
In diesem Moment endet der Vorspann. Der Name des Regisseurs verschwindet, und die Musik verklingt, während gleichzeitig sämtliche Geräusche des Sommervormittags hörbar werden:
Die schwache Brise tuschelt in Millionen von Blättern, aus allen Richtungen dringt Vogelgezwitscher, heisere Meisenjungen piepsen pausenlos nach Futter und stressen ihre Eltern, die im Pendelverkehr unterwegs sind, aus der Ferne hört man Möwen kreischen, ebenso das Schnaufen eines Schärendampfers, das dann von einem vorbeibrüllenden Motorboot übertönt wird.
Die Kamera verharrt auf dem zugewachsenen kurzen Weg vor der Garagentür.
Dann ist ein Automotor zu hören, zuerst schwach aus dem linken Lautsprecher, er wird immer lauter, und gleich darauf biegt ein weißer Audi 100 CC Kombi ins Bild und bremst heftig vor den Garagentoren.
Der Motor verstummt.
Die Autofenster sind dunkel, und es ist unmöglich, die Personen im Auto zu erkennen, doch da – die Vordertür an der Fahrerseite geht auf, und ein untersetzter Mann steigt aus. Er blinzelt in den starken Sonnenschein und setzt eine Sonnenbrille auf. Er ist ziemlich kurz geraten und kräftig gebaut (um es freundlich auszudrücken), hat Bartstoppeln und trägt ein unglaublich scheußliches kurzärmeliges Hemd.
Das ist mein alter Herr.
Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, wie alt er ist, so um die Fünfzig, glaube ich. Im Urlaub weigert er sich, sich zu rasieren, und heute hat er Urlaub. Sonst arbeitet er in einer kleinen Firma, die irgendwas mit Computern zu tun hat.
Jetzt steht er da und scheint nicht so recht zu wissen, was er tun soll. Da ihm offensichtlich nichts einfällt, legt er seine behaarten Unterarme aufs Autodach und tut erst mal nichts.
Dann geht die Beifahrertür auf, und meine Mutter steigt aus. Sie ist ein paar Jahre jünger als mein Vater und auch nicht sehr groß, aber immerhin ein paar Zentimeter länger als er. Sie sieht ein bißchen tantig aus, allerdings wie eine ziemlich frischgebackene Tante, sie ist nämlich immer noch recht schlank und straff, was wohl daher kommt, daß sie immer so nervös ist, praktisch also aus purer Nervosität abnimmt.
Früher war sie Lehrerin, aber seit wir vor ein, zwei Jahren in unser Reihenhaus gezogen sind, arbeitet sie als Studienberaterin, und das bedeutet, daß sie meistens daheim hockt und auf einem unserer vierzehn Computer herumspielt. Aber ich muß ehrlich zugeben – eigentlich hab ich keinen blassen Schimmer, was sie treibt.
„Ach! Ist das ein herrliches Mittsommerwetter!" ruft sie mit einem leicht übertriebenen Seufzer aus, holt tief Luft und läßt die Nasenflügel beben. Mit anderen Worten, sie klingt genau wie eine typische Mutter.
Mein Vater sagt nichts, trommelt nur einen kurzen Wirbel aufs Autodach und grunzt dazu.
Mit anderen Worten, er klingt genau wie ein typischer Vater.
Dann geht die hintere Tür auf der Seite meiner Mutter auf, und eine vierzehnjährige Puppe klettert raus, mit wilden, langen Haaren, die frisch blondgefärbt und absichtlich zerzaust sind. Mitten ins Haargestrüpp hat sie natürlich eine Sonnenbrille gepflanzt – wie es sich gehört.
Sie hat hautenge weiße Jeans an, die mitten am Schienbein aufhören, dazu knallrote Wildlederpumps mit hohen Absätzen. Ein sehr knappes gelbes T-Shirt schmiegt sich an ihren Oberkörper. Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß sie echt scharf aussieht, um nicht zu sagen ziemlich ordinär (wie Omi bei unserer Abfahrt bemerkte).
Sie sieht sehr viel älter aus als vierzehn – ich würde achtzehn schätzen, aber wenn es darum geht, Leute einzuschätzen, bin ich eine echte Niete. Vor allem, wenn es darum geht, das Alter von Mädchen zu erraten, liege ich immer total falsch – und wenn sie außerdem geschminkt sind, ist es sowieso völlig unmöglich, und geschminkt ist Cammi ja immer.
Dieses leckere Stück ist meine Schwester und heißt eigentlich Camilla.
Körperlich gesehen ist im letzten Jahr einiges mit Cammi passiert – zur größten Verzweiflung meiner alten Herrschaften. Daß sie außerdem dafür sorgt, alles vorzuführen, was mit ihr passiert ist, und tatsächlich echt gut aussieht, macht die Sache nicht gerade besser.
Sie ist genauso groß wie meine Mutter, aber damit hören auch sämtliche Ähnlichkeiten auf, sowohl die inneren als auch die äußeren.
Und dann:
Täterätätätää!!!
Die Autotür numero vier geht auf, und aus dem Auto steigt ‚The Tall Dark Hero‘.
Mit anderen Worten – ich.
Lang und dunkel stimmt, und wenn das hier wirklich ein Film wäre, würde man sofort denken: So ’ne Fehlbesetzung!
Im Vergleich zu meinen Eltern und Cammi bin ich nämlich sehr groß und außerdem habe ich viel dunklere Haare als die drei. Obendrein hab ich Locken – und die übrigen drei haben absolute Schnittlauchlocken, sogar Cammi, obwohl die ja immer so viel mit ihren Haaren anstellt, daß man das nicht sieht.
Leider kann ich nicht behaupten, daß ich direkt wie ein ‚hero‘ aussehe. Ich fühle mich auch nicht wie einer, obwohl ich das gern täte.
Ich bin gut zwei Jahre älter als Cammi; wenn man uns zusammen sieht, hält man das zwar nicht für möglich, denn obwohl ich größer bin als sie, sieht sie viel älter aus – auf jeden Fall von außen.
Der Schein trügt selbstverständlich, denn in den letzten Jahren sind mit mir genauso viele umwälzende Sachen passiert, allerdings haben sich die meisten sehr im Inneren abgespielt, abgesehen von einer peinlichen Andeutung von Flaum zwischen der Nase und der Oberlippe.
Da stehen wir also.
Die Familie Pihlsten.
Ich mache ein allgemein muffiges Gesicht, das tue ich immer. Und außerdem kneife ich die Augen zu, wegen der Sonne, dadurch sieht man die Falten auf meiner Stirn deutlicher. Ich bilde mir ein, etwas älter auszusehen, wenn ich die Augenbrauen runzle, und daher laufe ich immer möglichst sauertöpfisch durch die Gegend. In Wirklichkeit bin ich im Moment eher erwartungsvoll. Und das, obwohl es Mittsommer ist und obwohl ich weiß, daß ich den ganzen Abend mit meinen Eltern, ihren Freunden und Cammi verbringen muß.
Gleichzeitig bin ich ein wenig nervös. Ähnlich wie früher vor Weihnachten – so ein Kribbeln im Bauch. Das sieht man mir natürlich nicht an.
Meine Mutter sieht sich um und seufzt noch einmal über das ‚hinreißende, zauberhafte‘ Mittsommergrün.
„Aber wenn es so warm bleibt und kein Regen kommt, wird alles rasch ausgetrocknet sein", sagt sie, geht nach hinten und macht die Kofferraumklappe auf. Mit viel Mühe gelingt es ihr, zwei Koffer aus dem vollgestopften Kofferraum herauszuzerren.
Keiner von uns rührt einen Finger, um ihr zu helfen. Mein Vater lehnt weiterhin am Autodach und sieht zu, wie sie stöhnt, ächzt und schnauft. Nachdem sie den zweiten Koffer rausgewuchtet hat, sagt er:
„Laß die Koffer doch drin. Ich stell das Auto über Nacht in die Garage." Und damit hebt er träge die linke Hand und zeigt auf die Garagentüren.
„Ha... als ob das was nützen würde! entgegnet meine Mutter. „So ein Schloß ist für die doch ein Kinderspiel! Und ich hab nicht vor, es irgendwelchen Dieben leicht zu machen und mir meine Sachen einfach klauen zu lassen.
Cammi sieht mich an und verdreht ihre großen, sorgfältig geschminkten Augen. Dann spitzt sie spöttisch und gelangweilt ihre knallroten Lippen. Ich verstehe genau, was sie meint.
Plötzlich beginnt die ganze Familie Pihlsten, wie in einem alten Stummfilm hin und her zu rennen. Wir schleppen eine Menge Plastiktüten ins Haus, die Cammi und mich auf der ganzen Fahrt bedrängt haben.
Mein Vater hebt ein paar klirrende Tüten heraus und stellt sie äußerst behutsam an den Fuß der Schiefertreppe, die sich zu dem braunen Holzhaus hinaufwindet.
Leider gehört das Haus nicht uns. Ich hätte viel lieber alle meine Sommerferien hier verbracht als in dem engen umgebauten Bootshaus unten in Schonen, das wir seit Urzeiten mieten.
Nein, dieses elegante Holzhaus gehört meinem Onkel – dem Bruder meines Vaters, vielmehr gehört es seiner Frau, genau wie das Segelboot, die drei Autos und die Villa in Helsingborg. Mein Onkel heißt Thorbjörn, und seine Frau, meine Tante also, heißt Charlotte.
An diesem Mittsommertag waren Thorbjörn und Charlotte (oder Tobbe und Chatti, wie sie sich selbst nennen) irgendwo in Südfrankreich und würden erst in zwei Wochen nach Hause kommen. Und bis dahin würde ich völlig solo dort oben wohnen – das heißt, nachdem meine Eltern und Cammi morgen glücklich abgereist wären.
Und das war der Grund, warum ich so gespannt war und warum ich mich mitten in der Sommerhitze vorweihnachtlich fühlte. Am liebsten wäre es mir natürlich gewesen, wenn die übrigen Pihlstens sofort nach Schonen abgezischt wären, aber so viel Glück hatte ich dann doch nicht – bis zum folgenden Tag würde ich sie noch ertragen müssen.
Es war ein kleines Wunder, daß ich tatsächlich ganz allein hier residieren durfte. Anfangs war meine Mutter natürlich strikt dagegen, solche Dummheiten kämen ja überhaupt nicht in Frage. Sie bildet sich ein, daß ich immer noch sieben sei und völlig unfähig, für mich allein zu sorgen.
Mein alter Herr war auch nicht gerade begeistert von der Idee.
„Du wirst natürlich all deine vergammelten Kumpane und eine Menge Weiber anschleppen und rumsaufen und alles kurz und klein schlagen und das Haus abbrennen."
Natürlich sagte er das mit einem Grinsen, aber ich habe den Verdacht, daß trotz allem eine gehörige Portion Ernst hinter den Worten lag.
„Total daneben getippt, antwortete ich und versuchte, mich zu beherrschen. „Ich hab vor, dort ganz allein zu bleiben.
„Lüg doch nicht", brummte er.
„Warum um alles in der Welt willst du denn ganz alleine dort sein?" fragte meine Mutter und machte ein verständnisloses Gesicht.
„Weil ich allein sein will, ist doch klar", sagte ich.
Da schüttelte sie nur den Kopf und begriff gar nichts mehr.
Schließlich konnte ich mich trotz aller Proteste doch durchsetzen. Die einzigen, die keine Einwände hatten, waren Tobbe und Chatti.
„Na, klar doch, mein Junge! dröhnte Tobbe gönnerhaft am Telefon. „Menschenskind! Und du – tu uns einen Gefallen, ja? Mach die Gefriertruhe und die Speisekammer leer. Dann brauchst du schon kein Geld fürs Essen auszugeben, mit den Vorräten könnte man glatt eine Armee versorgen. Nur – beim Weinkeller würd ich mich ein bißchen bremsen, ja? Ha, ha. Also, schau das Ganze als ein Geburtstagsgeschenk von Tobbe und Chatti an.
„Hab aber erst am 18. Dezember Geburtstag."
„Na, um so besser", sagte er, ohne zu erklären, was er damit