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Karo König
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eBook267 Seiten3 Stunden

Karo König

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Über dieses E-Book

"Aus der Nervenheilanstalt Dalldorf soeben der mehrfache Raubmörder und Brandstifter Zacharias ausgebrochen. Vorsicht bei der Festnahme. Lebensgefährlich." Der "Irre" Zacharias begeht einen Mord und verschwindet spurlos. Gleichzeitig beginnt der rätselhafte "Karo König" den Schriftsteller Larsen zu erpressen. Und nicht nur ihn ... Kriminalinspektor Mac O'Kelly von der Berliner Polizei versucht, Larsen zu schützen, kann aber nicht verhindern, dass bei der Geldübergabe auf den Schriftsteller geschossen und er schwer verwundet wird. Dann findet O'Kelly heraus, dass "Karo König" neun Jahre zuvor, von 1918 bis 1921, schon einmal in Berlin sein Unwesen getrieben hat. Sein Verschwinden und Wiederauftauchen fällt also zusammen mit der Zeit der Inhaftierung von Zacharias im Irrenhaus. Aber Zacharias kann die neuen Verbrechen unmöglich allein begehen. Damals hätten die Missetaten von "Karo König" beinahe dem Kriminalinspektor Link das Amt gekostet. Jetzt ist Link jedoch O'Kellys Vorgesetzter, und gemeinsam machen sich sich daran, "Karo König" das Handwerk zu legen, assistiert vom berühmten Detektiv Herr Friede. Doch das ist mit schier undurchschaubaren Verwicklungen, vertrackten Schwierigkeiten und ungeahnten Gefahren verbunden. Zum Beispiel scheint bei alledem der Berliner Trambahnfahrplan eine ganz besondere Rolle zu spielen. Und "Karo König" schlägt schon wieder zu ... Ein unglaublich spannender, vielschichtiger und ereignisreich-turbulenter Kriminalroman aus dem Jahre 1930, der auch heute noch genauso spannend ist wie in seinem Erscheinungsjahr!-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9788711625972
Karo König

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    Buchvorschau

    Karo König - Arno Alexander

    www.egmont.com

    1

    Der Morseapparat begann zu klappern.

    Tick — — — tick — tick — tack — — — tick — tick — — —.

    Wachtmeister Grün fuhr aus seinem Brüten auf. Sein sehniger Oberkörper beugte sich vor, seine Augen folgten gespannt dem dünnen Papierstreifen mit den kleinen Punkten und Strichen.

    „Polizeirevier 18. Dringendes Telegramm. An das Polizeipräsidium Berlin …"

    Mit der linken Hand rückte Grün ein Blatt Papier heran, die rechte umklammerte den Bleistift. Der weiße Papierstreifen kletterte weiter, einer sich windenden Schlange ähnlich.

    „Aus der Nervenheilanstalt Dalldorf soeben der mehrfache Raubmörder und Brandstifter Zacharias ausgebrochen. Trägt Anstaltskleidung. Vorsicht bei Festnahme. Lebensgefährlich."

    Wachtmeister Grün nahm den Hörer vom Fernsprechapparat und ließ sich mit der Zentrale verbinden. Hastig gab er das Telegramm weiter. Kaum hatte er den Hörer eingehängt, als der Telegraph schon wieder zu klappern begann.

    Tick — tick — — — tack — tack — tick — — —.

    „Polizeirevier 7 an Berliner Polizeipräsidium. Aus Dalldorf entsprungener Irrer Zacharias hier gesichtet. Verfolgung aufgenommen."

    Diesmal hatte Grün keine Zeit, das Telegramm weiterzuleiten, denn gleich darauf rasselte die Telephonklingel.

    „Hier Wachtmeister Anders! meldete sich eine Männerstimme. „Sofort Alarm schlagen. Wir haben einen Irren verfolgt, und als ihm alle Wege abgeschnitten waren, floh er in den Hof des Polizeipräsidiums. Wir halten den Ausgang besetzt.

    Grün schüttelte den Kopf. Als er das Telegramm und die aufstenographierte Meldung weitergab, spielte um seine Lippen ein nachsichtiges Lächeln.

    „Der Kerl kommt uns wie gerufen, hörte er die Stimme des diensthabenden Kommissars durch das Telephon. „Wollen mal gleich ein bißchen Jagd machen!

    „Viel Spaß!" rief Grün heiter in den Apparat und hängte lachend ein.

    Plötzlich fiel ein dunkler Schatten über den Tisch. Im selben Augenblick sprang das Fenster klirrend entzwei. Grün fuhr herum. Die Hand tastete instinktiv nach dem Revolver.

    Es war bereits zu spät. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah Grün im Fensterrahmen die schier riesenhaft erscheinende Gestalt eines Mannes in schwarz-weiß gestreifter Kleidung — dann hatte sich der Koloß mit einem einzigen gigantischen Satz auf ihn gestürzt. Bücher und Instrumente flogen krachend zu Boden. Grün lag auf dem Rücken und sah in zwei grausame, blutunterlaufene Raubtieraugen. Zwei Pranken preßten sich wie Schraubstöcke um seinen Hals, und die Sinne schwanden ihm.


    Zehn Minuten später eilte ein hochgewachsener Polizist mit den Abzeichen des Telegraphendienstes durch die Gänge des Polizeipräsidiums. Er wurde von mehreren Beamten angehalten und nach den letzten den entsprungenen Irren betreffenden Telegrammen gefragt. Jedem gab er bereitwillig und höflich Auskunft.

    Fünf Minuten darauf fand man den Telegraphenbeamten Grün vollkommen entkleidet, tot, erdrosselt in seinem Zimmer, und nach einer knappen Viertelstunde wußten es alle Beamten, daß jener hochgewachsene Polizist niemand anderes, als der entsprungene Irre Zacharias gewesen war. Soviel man aber auch forschte und suchte — seit dem Augenblick, als dieser das Gebäude des Polizeipräsidiums verlassen hatte, fehlte von ihm jede Spur. Es war, wie wenn ihn der Erdboden verschluckt hätte.

    2

    Kriminalinspektor Mac O’Kelly faltete stirnrunzelnd die ihm vom Polizeipräsidium zurückgestellte Unkostenrechnung zusammen und warf sie ärgerlich in ein Fach seines Schreibtisches.

    „Wieder haben sie mir sieben Autofahrten gestrichen! brummte er unzufrieden. „Ein Verlust von dreizehn Mark und fünfundsechzig Pfennigen! Die alte Geschichte. Man soll überall zurecht kommen, und wenn man dabei ein paar Autofahrten riskiert, so muß man sie hernach selbst bezahlen!

    „Zu Fuß gehen ist billiger! bemerkte Wachtmeister Taube philosophisch und betrachtete wohlgefällig seine starken, schweren Stiefel. Er saß in O’Kellys altertümlichem Schaukelstuhl, hatte die Beine bequem übereinander geschlagen und schaukelte emsig hin und her. „Ich gehe immer zu Fuß, fuhr er selbstzufrieden fort. „Man kommt dabei viel rascher vorwärts. Von zwei Anwärtern auf einen höheren Posten wird immer derjenige vorgezogen, der billiger arbeitet!"

    „Das stimmt! sagte O’Kelly ironisch. „Ich möchte aber nicht gern solche Stiefel tragen wie Sie. Das hat entschieden auch seine Nachteile. Die Blicke des Inspektors hingen mißbilligend mit stummem Vorwurf an der Stelle, wo Taube mit seinen unförmigen Stiefeln den Schaukelstuhl in Schwung zu bringen pflegte. Die Ölfarbe war an dieser Stelle längst abgetreten, und die nackten Holzbretter wiesen unzählige häßliche Schrammen und Kratzer auf.

    Der Wachtmeister setzte umständlich einen Zigarrenstummel in Brand.

    „Ich habe es Ihnen doch schon oft gesagt, entgegnete er ruhig, „an meinem Hochzeitstag lasse ich diesen Fleck auf meine Kosten streichen.

    „Warum eigentlich erst an Ihrem Hochzeitstag?" erkundigte sich O’Kelly belustigt.

    „Weil ich von diesem Tage an zu Hause schaukeln werde!" erwiderte Taube würdevoll.

    O’Kelly lachte laut auf.

    „Bilden Sie sich keine Schwachheiten ein, Taube! rief er fröhlich. „Ihre Frau wird Ihnen was husten! Nie und nimmer wird sie zugeben, daß Sie ihren Fußboden derart vandalisch behandeln!

    „Meinen Sie?" fragte Taube kleinlaut, und versank in dumpfes Brüten. O’Kelly war aufgestanden, hatte Rock und Weste abgeworfen und angelte in einem mächtigen Koffer, der bis obenauf in buntem Durcheinander mit sauberer und schmutziger Wäsche vollgepfropft war, nach einer halbwegs brauchbaren Krawatte.

    „Halten Sie in Ihren Tiefbohrungen mehr nach rechts! riet Taube mit sachverständiger Miene. „Das Gebiet ist dort aussichtsreicher!

    „Danke!" sagte O’Kelly kurz. Bald hatte er das Gesuchte gefunden und begann vor einem schäbigen und abgenutzten Spiegelschrank Toilette zu machen.

    Man hätte sich kaum etwas Entgegengesetzteres denken können, als den immer frischen, fröhlichen, kaum achtundzwanzigjährigen O’Kelly und den behäbigen, schwerfälligen und fast fünfzehn Jahre mehr zählenden Taube. Und doch bestand zwischen den beiden schon seit Jahren ein eigenartiges Freundschaftsverhältnis. Im Kriminalamt lachte man weidlich über diese Freundschaft, die darin zu bestehen schien, daß sich die beiden ständig zankten und einander immer in den Haaren lagen. Weniger bekannt war es, daß Taube seinen Inspektor schon so manches Mal mit Todesverachtung aus einer heiklen und gefährlichen Situation herausgehauen hatte, und daß O’Kelly wiederum mehr als einmal mit stoischem Gleichmut eine scharfe Rüge seiner Vorgesetzten angehört hatte — für Schnitzer, die nicht er, sondern Taube begangen.

    „Mein lieber Taube, sagte O’Kelly nach einer Weile, als er mit dem Umziehen fertig war, „ich gehe jetzt zu Larsens. Sie werden sich also wohl oder übel zeitweilig von meinem Schaukelstuhl trennen müssen, außer Sie ziehen es vor, die halbe Nacht hier auf mich zu warten!

    „Ich gehe nach Hause," erklärte Taube gähnend. Plötzlich horchte er auf: im Korridor waren Stimmen hörbar geworden und gleich darauf klopfte es.

    „Herein!" rief der Inspektor laut.

    Die Tür öffnete sich langsam. Ein Dienstmann, die rote Mütze und ein kariertes Taschentuch in der einen Hand, einen Brief in der anderen, trat herein.

    „Kriminalinspektor Mac O’Kelly!" las er bedächtig und blickte fragend umher.

    O’Kelly streckte die Hand vor.

    „Das bin ich selbst. Lassen Sie mal sehen. Erwarten Sie Antwort?"

    „Nein!" entgegnete jener und wandte sich zum Gehen.

    O’Kelly hatte den Umschlag aufgerissen und starrte mit wenig geistreichem Gesichtsausdruck auf einige kurze Schreibmaschinenzeilen.

    „Halt! rief er plötzlich. „Bleiben Sie mal noch einen Augenblick da, guter Mann!

    Der Dienstmann drehte sich mürrisch um und kam langsam zurück.

    „Wer hat Ihnen diesen Brief gegeben?" erkundigte sich O’Kelly interessiert.

    „Was weiß ich? lautete die in unwirschem Ton gegebene Antwort. „Ein Herr hielt mich auf der Straße an, gab mir den Auftrag, den Brief zu besorgen und bezahlte die übliche Gebühr, ohne auch nur einen Pfennig Trinkgeld zu geben. Alles andere geht mich nichts an.

    „Wie sah der Herr aus?" fuhr O’Kelly beharrlich fort. Er hatte die Finger der rechten Hand lässig in die Westentasche versenkt und klapperte vernehmlich mit einigen Silbermünzen.

    Die Mienen des Dienstmannes hellten sich auf.

    „Es war ein alter Mann, erzählte er nun beinahe eifrig. „Er hat einen langen schneeweißen Vollbart. Trägt eine Brille. Hinkt auf einem Bein. Ist weder groß noch klein.

    „Wie war er gekleidet?"

    „Habe nicht besonders darauf geachtet … Hm … Ich glaube, er trug einen grauen, bis obenauf geschlossenen Regenmantel und einen dunklen Schlapphut. Aber genau kann ich’s nicht sagen."

    „Na, gut! sagte O’Kelly, und reichte dem Mann eine Silbermünze. „Jetzt können Sie gehen. Es ist möglich, daß ich Sie noch einmal brauche. Ihre Nummer? 24? Gut. Alles in Ordnung.

    „Was ist los, Inspektor?" erkundigte sich Taube ungeduldig, als sich die Tür hinter dem Dienstmann geschlossen hatte.

    „Ich bin mir selbst nicht klar darüber, erwiderte der andere kopfschüttelnd. „Hier lesen Sie mal! Und dann sagen Sie mir, was Sie davon halten!

    Taube ergriff den Briefbogen behutsam mit zwei Fingern und begann zu lesen. Der Inhalt des Schreibens war kurz; Anrede und Unterschrift fehlten gänzlich.

    „Sie werden vermutlich heute abend Gelegenheit haben, sich in meine Angelegenheiten zu mischen. In Ihrem eigensten Interesse rate ich Ihnen dringend davon ab. Am klügsten wird es sein, wenn Sie heute abend zu Hause bleiben. Sollten Sie im Zweifel darüber sein, ob diese Warnung ernst zu nehmen ist, so empfehle ich Ihnen, bei Kommissar Dr. Link anzufragen, ob er sich des Karo König entsinnt."

    „Nun, wie denken Sie darüber? fragte O’Kelly, als sein Kollege mit dem Lesen zu Ende war. „Wer mag dieser mysteriöse Karo König wohl sein?

    „Ich vermute, sagte Taube nachdenklich, „ich vermute, es ist ein Verbrecher!

    „Daß er kein hoher Regierungsbeamter ist, habe ich selber erraten!" sagte O’Kelly bissig. Ärgerlich ballte er den Briefumschlag, den er noch immer in der Hand hielt, zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Doch sogleich sprang er hinterher und zerrte den Umschlag wieder heraus.

    „Da scheint ja noch was drin zu sein!" Mit diesen Worten zog er aus dem Umschlag eine französische Spielkarte hervor. Es war der Karo König.

    „Auch eine Visitenkarte, brummte Taube. „Ich würde an Ihrer Stelle nicht lange Rätselraten spielen, sondern der Weisung dieses seltsamen Königs folgen und mal bei Dr. Link anfragen.

    „Ein guter Gedanke!" O’Kelly langte hastig nach dem Hörer des Telephons und ließ sich mit Kommissar Dr. Link verbinden. Taube horchte gespannt. Sogar das Schaukeln hatte er vergessen. Das Gespräch war kürzer, als einer von den beiden vermutet hatte. Schon nach einer knappen Minute hängte O’Kelly ein. In komischer Verzweiflung warf er die Arme in die Höhe.

    „Wissen Sie, was er gesagt hat?"

    „Nun?"

    „Das ginge mich den Deibel was an!"

    Taube riß verblüfft die Augen auf.

    „Das ist grob und deutlich!"

    „Allerdings!"

    „Dr. Link ist doch sonst nicht so!"

    „Im Gegenteil! Er ist stets sehr liebenswürdig und zuvorkommend. Es ist mir schleierhaft, womit ich ihn eben erzürnt haben mag! Denn erzürnt war er! Das ist klar."

    Taube wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

    „Wirklich merkwürdig! Aber was wollen Sie jetzt tun? Werden Sie der Warnung Folge leisten und den Abend zu Hause verbringen?"

    O’Kelly schüttelte energisch den Kopf.

    „Fällt mir gar nicht ein! Entweder die ganze Geschichte ist ein dummer Witz — Bluff, oder aber der Warner weiß genau, was ich heute abend vorhabe. Dann aber ist es sehr wahrscheinlich, daß heute gerade bei Larsens etwas passieren wird, was ich vielleicht durch mein Eingreifen verhindern kann. Folglich muß ich hin!"

    „Stimmt!" erklärte Taube bedächtig. Langsam erhob er sich und fuhr in seinen Mantel. O’Kelly stand schon bei der Tür, Hut und Überzieher in der Hand. Auf der Straße verabschiedete er sich hastig von dem Wachtmeister und sprang in einen vorüberfahrenden Trambahnwagen.

    „Nehmen Sie sich in acht, Inspektor!" rief ihm Taube warnend nach.

    O’Kelly nickte fröhlich. Er gestand es sich nicht ein, daß sich seiner eine von Minute zu Minute wachsende Unruhe bemächtigt hatte.

    3

    Aus dem Eßzimmer der Larsenschen Villa tönte leise das Klirren von Tellern und Messern. Nora, die noch junge Tochter des Hauses, warf einen letzten, prüfenden Blick über die geschmackvoll gedeckte Tafel.

    „Es ist gut, Anton, sagte sie freundlich zu dem in respektvoller Haltung ihrer Befehle harrenden Diener. „Bitten Sie Vater zu Tisch! Oder — nein, warten Sie — ich werde ihn selbst rufen!

    Leichtfüßig lief sie durch den teppichbelegten Korridor und dann quer durch das große und elegante Gesellschaftszimmer. Dieser Saal war heute voll von Gästen, fast ausschließlich jungen Leuten in Noras Alter. Seit fünf Jahren, seit dem Tode ihrer Mutter war dies schon so. Beinahe allabendlich versammelte sich in dem gastfreien Hause eine bunte, lustige Gesellschaft, wobei es zwar sehr lärmend, aber dessenungeachtet auch immer sehr harmlos zuging. Hans Larsen gönnte seiner Tochter und einzigem Kinde jede nur erdenkliche Freude, und jeder Wunsch, den er ihr von den Augen ablesen konnte, war schon im Voraus erfüllt. Alles, was sie tat und unternahm, war ihm recht. Beschwerden der Nachbarn über nächtliche Ruhestörung, polizeilichen Strafmandaten für rücksichtsloses Autofahren, ja sogar dem wütenden Zetern und Schreien der Schneiderinnen und Hutmacherinnen, denen Nora wohl die Ware abnahm, sich aber nie um die Bezahlung dieser auch nur kümmerte — alledem begegnete Larsen stets mit demselben nachsichtig-liebenswürdigen Lächeln und stets mit derselben dick gefüllten Brieftasche. Zwei- oder dreimal war es vorgekommen, daß ältere Geschäftsfreunde ihm ernst und eindringlich das Sinnlose seiner Erziehungsmethoden klarzumachen versuchten. Auch diesen Vorhaltungen war Larsen mit demselben liebenswürdigen Lächeln entgegengetreten; nur schien es etwas wehmütiger und schuldbewußter als sonst. Genützt hatten die Vorhaltungen bestimmt nicht. Es blieb alles beim alten.

    Abgesehen von einer gewissen Rücksichtslosigkeit und Verschwendungssucht, schien übrigens Noras Charakter unter diesen eigenartigen Erziehungsmethoden kaum gelitten zu haben. Ihr Benehmen war nie arrogant oder schnippisch, sondern stets durch eine ursprüngliche und zuweilen geradezu naive Natürlichkeit gekennzeichnet. Immer war sie bereit, auch den Wünschen und Neigungen ihrer Freunde und Freundinnen Rechnung zu tragen, und nie konnte man einen Unterschied in ihrem Wesen bemerken, ob sie nun mit ihrem Vetter, dem Grafen von Hayen, sprach, dessen Barvermögen auf einige hunderttausend Mark geschätzt wurde, oder aber sich mit dem jungen, hoffnungsfreudigen Reporter Elst unterhielt, dessen Einkommen genau 125 Mark monatlich betrug.

    Nora klopfte leise an die Tür des Arbeitskabinetts ihres Vaters und trat auch sogleich ein. Hans Larsen saß an seinem Schreibtisch, hatte den Kopf in die Hände gestützt und die Augen geschlossen. Sein Gesicht drückte etwas Gequältes und Gespanntes aus.

    „Vater, was ist dir?" Besorgt war Nora an seinen Stuhl geeilt und umfaßte liebevoll seine Schultern. Einen Augenblick schien es, als wollte Larsen sich erschöpft gegen Noras Gestalt lehnen, doch gleich darauf stand er etwas hastig auf und drückte seiner Tochter einen flüchtigen Kuß auf die Stirn.

    „Nichts, Kindchen! Was soll denn mit mir sein? Ich arbeite gerade!"

    „Oh! machte Nora bedauernd. „Wenn ich das gewußt hätte … Nun habe ich dich gestört …

    „Macht nichts! Larsen lächelte müde und nachsichtig. „Die Gedanken kommen und gehen. Du hast sie verscheucht, aber sie werden schon wiederkommen. Er seufzte. „Ich wünschte, sie kämen nicht wieder!"

    Nora verstand den Sinn dieser Worte nicht. Hans Larsen war Schriftsteller; oft genug hatte er ihr erklärt, wie wichtig gerade in diesem Beruf die Denkarbeit ist, und nun wünschte er, daß die Gedanken, die ihm Ruhm und Vermögen einbrachten, nicht wiederkommen möchten. Nora öffnete schon den Mund, um eine Frage zu stellen, als sie wieder deutlich den Ausdruck von Qual und Furcht im Gesicht ihres Vaters wahrnahm. Da unterdrückte sie jede Frage und forderte ihn energisch zum Gehen auf.

    „Komm, Vater! Das Essen wird kalt. Komm nur! Es ist wieder eine ganze Menge Leute da!"

    „So? Ein Freudenschimmer erhellte die Züge Larsens. „Hat sich mein Töchting gut amüsiert? Wer ist denn wieder alles da?

    „Ach, plauderte Nora eifrig, indem sie mit ihrem Vater langsam nach den Gesellschaftsräumen ging, „da ist der kleine Elst — du weißt, der vom Berliner Tageblatt. Er ist wieder einmal sterblich verliebt! Diesmal eine ganz ernste Sache — sagt er! Aber das behauptet er ja immer. Dann — Inspektor O’Kelly, der heute ein bitterböses Gesicht macht. Er hat einen interessanten, neuen Fall — streng geheim zu halten! Der spukt ihm anscheinend dauernd im Kopf herum. Des weiteren sind erschienen: mein erlauchter Herr Vetter, der Graf von Hayen, ferner Assessor Mühlenthal, Erna, Agnes … Aber da siehst du sie ja alle schon vor dir!

    Während dieses Gespräches hatten die beiden den Salon erreicht. Larsen wurde mit Hallo empfangen und drückte lächelnd die vielen sich ihm entgegenstreckenden Hände.

    „Sachte, sachte, Kinners! wehrte er ab. „Ihr reißt mich alten Mann ja noch um! Etwas mehr Maß in euren Freudenbezeugungen, wenn ich bitten darf! Und jetzt — los! Marsch ins Eßzimmer! An die Futternäpfe!

    Lachend und lärmend begab sich die junge Gesellschaft zu Tisch. Larsen nahm an dem einen Ende der Tafel Platz, ihm gegenüber saß Nora, die sich vergebens bemühte, die würdevolle Hausfrau zu spielen. Anton, das Faktotum des Hauses, lief mit den geschmackvoll garnierten Schüsseln hin und her und hatte alle Hände voll zu tun, um den ungeniert vorgebrachten Wünschen jedes einzelnen nachzukommen.

    O’Kelly war ein häufiger Gast dieses Hauses. Er kannte den ungezwungenen, fast familiären Ton, der hier herrschte, zur Genüge. Es war heute nicht anders als sonst. Und gerade dieser Umstand, daß er hier keinerlei Veränderung vorfand, wunderte ihn, denn er erwartete für heute etwas Besonderes. Je alltäglicher sich das Leben und Treiben hier ausnahm, um so unerwarteter mußte dann allen dieses „Besondere kommen. Unerwarteter und gefährlicher … O’Kelly horchte auf. Es war ihm, als hätte er eben einige Worte gehört, die ihn instinktiv beunruhigten. Einen Augenblick saß er still da und versuchte die kurzen Worte in sich nachklingen zu lassen. Richtig! Jetzt fielen sie ihm ein … „Erwartet keine Antwort — so lauteten sie. Aber warum in aller Welt beunruhigte ihn das? Warum nur? Aha, jetzt wußte er auch dies! Es war eine Ideenverbindung, die sich in seinem Unterbewußtsein vollzogen hatte. Fast

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