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TOM & LISEL: Krimikomödie
TOM & LISEL: Krimikomödie
TOM & LISEL: Krimikomödie
eBook921 Seiten12 Stunden

TOM & LISEL: Krimikomödie

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Über dieses E-Book

Tom ist dreizehn Jahre alt und in seine Klassenkameradin Elisabeth verliebt. Ihr gegenüber ist er schüchtern und unsicher, ansonsten aber im Gespann mit seinem besten Freund, dem fetten Ben, als Lausbub in ihrem kleinen, beschaulichen Dorf in Niedersachsen gefürchtet. Während eines ihrer Streiche entdecken die beiden Lausbuben eine bis auf die Knochen abgenagte Hand einer jungen Frau und kurz darauf auch die Leiche eines jungen Mädchens. Angst und Schrecken bestimmen plötzlich den Alltag in dem kleinen Dorf.
Auch Tom, Lisel und Ben lässt der grausige Fund keine Ruhe, und so stellen sie auf eigene Faust Ermittlungen an. Diese bringen sie dem Mörder immer näher, aber auch in tödliche Gefahr …
"Tom & Lisel" ist vergnügliche Lausbubengeschichte und Krimikomödie in einem, angesiedelt im ländlichen Niedersachsen der Siebzigerjahre.
SpracheDeutsch
HerausgeberLuzifer-Verlag
Erscheinungsdatum12. Mai 2023
ISBN9783958357792
TOM & LISEL: Krimikomödie

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    Buchvorschau

    TOM & LISEL - Wilfried Konowalow

    Toms Geburt

    Als die Wehen am späten Nachmittag begannen und sich Tom noch mit allen Kräften dagegen wehrte, in diese Welt der Sorgen und Lasten zu gelangen, war es ein warmer und sonniger Sommertag.

    Obwohl noch gar nicht auf der Welt, sollte seine Person schon jetzt für einige Turbulenzen sorgen.

    Sein Vater wurde nämlich von der Nachricht seiner baldigen Ankunft auf der Arbeit überrascht, und dort hätte der Zeitpunkt nicht ungünstiger sein können.

    »Karl?!«

    Karl Strüve und sein Kollege Bodo Müller saßen auf dem Ende eines Verschalbrettes. Das andere Ende ragte zwei Meter weit aus dem Fenster. Gerade kletterte der Lehrling, der weniger Grips als das Brett unter ihm hatte, unbeholfen auf die Planke und balancierte auf wackligen Beinen ans Ende hinaus.

    »Karl?!«

    Der Polier kam ins Zimmer. »Kann mir keiner antworten, wenn ich …« Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte entsetzt aus dem Fenster, wo der Lehrling mit den Händen rudernd um sein Gleichgewicht kämpfte. »Was ist denn hier los? Was macht Kalle da draußen?«

    Die beiden Maurer grinsten.

    »Er muss mal pinkeln!«, erklärte Karl gelassen, als wäre es das Normalste der Welt, dass man sich dafür, wie oben beschrieben, vors Fenster stellte.

    »Aufs Klo gehen kann man hier ja nicht«, beschwerte sich Bodo.

    »Das Wasser ist noch abgestellt«, erläuterte Karl.

    »Und dann lasst ihr den Schwachkopf aus dem Fenster klettern?«, protestierte der Polier. Er war inzwischen so blass wie die frisch gestrichene Wand hinter ihm geworden und seine Unterlippe zitterte. »Seid ihr verrückt geworden?« Er schüttelte händeringend den Kopf. »Wenn er nun herunterfällt? Wir sind hier im Obergeschoss!«

    »Was soll denn schon passieren? Da ist doch nur weiche Erde unter ihm!«

    »Trotzdem …« Beunruhigt beobachtete er, wie sich das Brett unter dem Gewicht des Lehrlings bedenklich nach unten bog.

    »Oder soll er sich hier oben in die Ecke stellen?«, fragte Bodo spöttisch.

    »Was äußerst unhygienisch wäre!«

    Bei so vielen guten Argumenten verschlug es dem Polier die Sprache. Er schluckte und beobachtete, wie der Lehrling seine Hose herunterließ.

    »Warum hast du denn nach mir gerufen?«, fragte Karl nebenher und rutschte an die Kante des Verschalbrettes. Das Brett begann bedenklich zu wippen. Sofort hielt der Lehrling in seinen Bewegungen inne. »Macht keinen Scheiß da drinnen!«, rief er mit zittriger Stimme. »Ihr habt es mir versprochen. Bleibt ruhig sitzen und bewegt euch nicht!« Geduckt, und mit einer Hand am Brett, wartete er, bis das Schwanken aufhörte, dann richtete er sich mit den Händen rudernd wieder auf.

    Der Polier verdrehte die Augen.

    »Deine Nachbarin hat angerufen!«, antwortete der Polier, immer noch den Lehrling im Auge behaltend.

    »Meine Nachbarin?«, fragte Karl beunruhigt. Er hatte plötzlich einen so trockenen Mund, dass ihm das Sprechen schwerfiel. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Was wollte sie denn?«

    Da der Polier immer noch geradeaus zum Fenster starrte und ihm so das blasse und verstörte Gesicht von Karl entging, welches ihm zur Vorsicht ermahnt hätte, plauderte er gedankenverloren dahin: »Deine Frau. Es ist soweit. Die Hebamme ist schon unterwegs. Aber steh jetzt nicht auf. Warte bis der Junge …«

    Karl wartete nicht. Er sprang auf, stieß den Polier beiseite, als wäre der bloß ein lästiges Stück Möbel, das im Wege steht, und lief aus dem Zimmer.

    Er ließ zwei Männer und den Lehrling in einer äußerst prekären Situation zurück.

    Der Polier war einfach nur sprachlos vor Schreck und zu einer Salzsäure erstarrt. Bodo klammerte sich fluchend und leichenblass mit beiden Händen an das Brett unter ihm, als könne er damit das Kommende verhindern. Der Lehrling quiekte wie ein Schwein, das auf die Schlachtbank geführt wurde. Die Hebelkraft sorgte für den Rest. Der Lehrling war fast doppelt so schwer wie Bodo, von seinem Gewicht wurde Bodo am anderen Ende des Verschalbrettes wie von einem Sprungbrett zur Decke geschleudert. Er stieß sich den Kopf an, flog auf einen großen Haufen Bauschutt, schlug sich abermals den Kopf an und schürfte sich beide Hände auf. Der Lehrling winselte und heulte, als das Brett unter seinen Füßen von einer Sekunde auf die andere nachgab, er in die Tiefe stürzte und wie ein Kartoffelsack in den Matsch platschte.

    In der Wohnung darunter arbeitete eine zweite Kolonne. Einer der Männer stand am Fenster und wandte sich unangenehm berührt an seine Kollegen. »Sagt mal! Kann es sein, das der Lehrling schwul ist?«

    »Ein wenig durchgeknallt vielleicht. Aber schwul? Wieso?«

    »Na, der Kalle … Springt doch gerade draußen mit heruntergelassener Hose und seinen Schwanz in der Hand am Fenster vorbei. Jetzt liegt er da unten und schreit: Diese Ärsche! Wo sind diese verdammten Ärsche!«

    Anders als der Lehrling nahm Karl die Treppe, um das Haus zu verlassen. Viel länger brauchte er aber auch nicht.

    Das Fahrrad, mit dem er wenig später in rasanter Fahrt durch die Straßen raste, hatte er sich vom Lehrling »ausgeliehen« und war locker drei Nummern zu klein für Karl. Damit seine Knie nicht gegen das Lenkrad schlugen, radelte er breitbeinig und erweckte so den Eindruck eines zu groß geratenden Jungen, der sich das Fahrrad seiner kleinen Schwester genommen hatte. Sein Drahtesel war nur notdürftig zusammengeflickt, es hatte kein Licht, die Bremsen funktionierten nur sehr eingeschränkt, und der Sattel war nur lose aufgesteckt, was dazu führte, dass Karl, wenn er in Fahrtrichtung sitzen bleiben wollte, sich ständig ausbalancieren musste.

    Der Vater in spe wurde von der Vorstellung getrieben, dass seine Anwesenheit bei der Entbindung unbedingt erforderlich war. Dazu kamen alle möglichen Schreckensvisionen und Stimmen, die ihm zuflüsterten, dass alles Mögliche passieren konnte, wenn er zu spät kam. Im Geiste sah er seine hilflose Frau im Schlafzimmer liegen und verzweifelt und händeringend nach seinen Namen rufen. Er hatte ihr versprochen da zu sein, wenn es so weit war. Also galt es keine Zeit zu verlieren.

    Am Bahndamm waren die Schranken heruntergelassen, ein störendes, aber unbedeutendes Hindernis, das Karl einfach umfuhr. Schließlich war die Dampflok, die sich ratternd und zischend näherte, noch weit entfernt. Aber für den Schrankenwärter Frank Corado war die Angelegenheit nicht unbedeutend. Er saß in Gedanken versunken hinter seinem Schreibtisch und sah nur aus dem Augenwinkel einen Schatten über den Bahnübergang huschen. Einen Moment lang glaubte er, dass er vergessen hatte, die Schranken zu schließen. Eine haarsträubende, entsetzliche Vorstellung. Er sprang mit einer Heidenangst hoch, riss die Tür auf, stolperte beim Hinauslaufen über die Türschwelle, drohte zu stürzen und taumelte wie ein Betrunkener, hilflos mit den Armen rudernd, auf den Bahnsteig hinaus. Bis er sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte und erkannte, dass er sich keines Fehlverhaltens schuldig gemacht hatte, erlitt er vor Aufregung fast einen Nervenzusammenbruch.

    Karl beugte sich tief über die Lenkstange seines Fahrrads, um den Luftwiderstand möglichst niedrig zu halten, und trat, getrieben von den Schimpftiraden des Schrankenwärters, noch schneller in die Pedale. Die Häuser flogen an ihm vorüber.

    »He! Achtung!«

    »Mensch, das darf doch nicht wahr sein …«

    »… passen sie doch auf …«

    »… so ein Idiot …«

    Abgerissene Wortfetzen und Schimpftiraden irgendwelcher Leute, die er im Vorbeifahren aufschnappte und einfach ignorierte.

    Als er durch den Vorgarten der Familie Meyer, eine für Ortskundige allseits beliebte Abkürzung, fahren wollte, knallte er über den Bordstein und verlor die Pedalen unter den Füßen. Gerade ging die Frau des Hauses mit einem großen Wäschekorb beladen ächzend über den Rasen. Karl kam schwankend und gestikulierend und »Platz da! Platz da!« rufend auf sie zugeschossen, und die Frau konnte sich nur mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit bringen. Dabei glitt ihr der Korb aus den Händen und die frisch gewaschene Wäsche landete im Dreck.

    Aus der Luft gesehen glich sein Weg so dem eines Sprengkommandos oder Amokläufers. In verschiedenen Abständen hinterließ er Katastrophen, als wäre eine Bombe eingeschlagen.

    Die Abkürzung führte Karl über einen grob gepflasterten Hof, wo Schlaglöcher notdürftig mit Kies oder Sand ausgebessert waren. Es ging vorbei an einer Scheune und mitten durch eine Schar gackernder Hühner, die flügelschlagend auseinanderstoben und in allen Richtungen ihr Heil in der Flucht suchten. Gut durchgeschüttelt erreichte Karl das geschlossene Tor. Er fluchte, rutschte mit einer Vollbremsung über den Kies und riss in fliegender Eile das Gatter auf. Dann setzte er seine Fahrt fort. Die Zeit, das Gatter wieder zu schließen, hatte er nicht, was zur Folge hatte, dass nur wenig später der Hahn seine Hennen hoch erhobenen Hauptes in die Freiheit führte. Da weder Hahn noch Hennen die elementarsten Regeln der Straßenverkehrsordnung kannten, fanden einige von ihnen schon bald ein unrühmliches Ende, als sie, die Vorfahrt missachtend, die Hauptstraße überquerten und von einen heranrasenden Pkw erfasst und wie Tontauben durch die Luft geschleudert wurden.

    Der Verursacher dieser Tragödie bekam davon nichts mehr mit. Er radelte bereits die Zufahrt hinunter und bog viel zu schnell wieder auf die Straße ein. Hier packte er die Kurve nicht, wurde herausgetragen und geriet auf den Gehweg.

    Unerfreulicherweise standen dort zwei Mülltonnen. Er fuhr wie ein Slalomfahrer mitten durch sie hindurch – das heißt, er versuchte es. Er spürte noch, wie seine linke Hüfte die eine und sein rechtes Knie die andere Mülltonne streiften und umrissen. Dann schepperte und knallte es schon, als die Tonnen umkippten und lärmend auf die Straße rollten.

    Während Karl noch versuchte, sein klappriges Fahrrad im Gleichgewicht zu halten, und wie ein Betrunkener hin und her schwankte, hörte er Bremsen quietschen. Er blickte erschrocken hoch und sah einen heranrasenden Lastwagen und ein leichenblasses, undeutliches Gesicht hinter der dreckigen Windschutzscheibe. Dann war der Lastwagen schon vorbei und walzte mit einem schmatzenden Geräusch eine der Mülltonnen nieder. Die andere rammte er nur, schleuderte sie aber in die Luft und über den Gartenzaun, wo sie wie ein Geschoß in einen vom Besitzer penibel gepflegten Fischteich einschlug. So blieb wenigstens eine der Tonnen unversehrt, wobei die Entsorgung derselben, aber insbesondere seines unappetitlichen Inhaltes, weder die Zustimmung der Zierfische noch des Eigentümers fand.

    Auf den Gehweg fahrend kämpfte Karl immer noch um sein Gleichgewicht. Er blickte über die Schulter nach hinten zum Lastwagen, der inzwischen irgendwie zum Stehen gekommen war. Die Fahrertür öffnete sich und ein blasses Etwas entsprang gurgelnd und taumelnd dem Fahrzeug, starrte abwechselnd in Richtung Karl und dann wieder auf die platt gewalzte Mülltonne, und man konnte seinen Blicken entnehmen, dass er ein ähnliches Schicksal auch Karl an die Hacken wünschte.

    Einen Moment lang zögerte Karl. Scheiß drauf! Ist ja nichts passiert!, dachte er dann und trat wieder in die Pedalen.

    Er hätte besser nach vorne schauen sollen. Denn zurückblickend hatte er zwei mit schweren Einkaufstaschen beladene Frauen übersehen. Die eine sprang erschrocken aber noch rechtzeitig zur Seite und sperrte Mund und Augen auf. Die andere ließ ihre Einkaufstüten fallen, so dass sich ihr Inhalt über den ganzen Bürgersteig ergoss und erstarrte fassungslos zur Salzsäure. Die Lenkstange umklammernd, auf den Pedalen stehend, raste Karl zwischen ihnen hindurch. Um ein Haar hätte er sie erwischt.

    Es dauerte einige Sekunden, bevor beide Frauen die Fassung wieder erlangt hatten und Karl wenig damenhafte Schimpfwörter hinterher riefen.

    Nur hundert Meter weiter verkannte ein ortsfremder PKW-Fahrer die Situation vollkommen, als er ausgerechnet vor Karl sein Auto stoppte, sich aus dem Fenster beugte und eine Landkarte ausgebreitet emporhielt, um anzuzeigen, dass er eine Auskunft wünschte. Karl raste kopfschüttelnd vorbei, erwischte die Landkarte mit dem Lenker und riss sie entzwei. Mit ähnlich zerknitterten Gesicht wie seine Landkarte ließ der Fremde wenig später seine Wut an einem unbeteiligten Anwohner aus, nur weil dieser ihm höflich darauf hinwies, dass er seine Karte, wenn er sie nicht mehr benötigte, doch bitte nicht auf der Straße vor seinem Grundstück entsorgen sollte.

    Zuhause wurde Karl von seinen Schwiegereltern empfangen.

    »Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr abgehetzt!«, bemerkte die Schwiegermutter. »Ein bisschen wird es noch dauern!«

    Karl bemühte sich, recht unbefangen zu wirken. »Ich? Ach was!«, winkte er gelassen ab, während er versuchte, seinen rasenden Herzschlag wieder zu beruhigen. »Ich bin gefahren wie immer!« Da er in den vergangenen Minuten weder sich selbst noch andere umgebracht hatte, konnte er das auch im Brustton der Überzeugung versichern.

    Seine schweißnassen Haare straften ihm ohnehin Lügen. Seine Nervosität war ihm ins Gesicht geschrieben, wie einen kleinen Jungen, der gerade seine erste Fünf in Mathe nach Hause brachte. Der skeptische Blick seines Schwiegervaters war darum nicht ganz unbegründet.

    »Sicher ist es ein Mädchen«, meinte der Schwiegervater dann. »Nur ein Frauenzimmer braucht so lange, um sich zu entscheiden, ob es geboren werden will oder nicht.«

    »Die Hebamme muss auch jeden Augenblick kommen«, sagte die Schwiegermutter.

    Karls Herz setzte zwei- oder dreimal aus. »Ist sie denn noch nicht da?«, fragte er so entsetzt, als läge im Schlafzimmer eine Schwerverletzte, die langsam verblutete, nur weil der alarmierte Sanitäter auf seine Brotzeit bestanden hatte.

    »Ein bisschen wird es noch dauern«, wiederholte die Schwiegermutter abwinkend.

    Die Gelassenheit der beiden bewirkte nur, dass Karl noch nervöser wurde.

    Auch Anita Corado, die Hebamme, war von den plötzlichen Wehen überrascht worden. Aber eilig hatte sie es darum nicht. Schließlich hatte sie jahrelange Erfahrungen in der Geburtshilfe und wusste, dass mit Beginn der Wehen noch Stunden vergehen konnten, bis alles überstanden war. Als sie endlich erschien, ordentlich frisiert und zurechtgemacht, als wollte sie zu einer Tanzveranstaltung, war Karl einem Nervenzusammenbruch schon sehr nahegekommen. Die fast provozierende Gelassenheit der Hebamme ließ Karl übersehen, dass sie offensichtlich auch nicht ganz nüchtern war.

    »Wieso kommst du erst jetzt!«, fuhr er sie an.

    Der Frau schien das keinen Eindruck zu machen. Aber nervöse Väter waren ihr ein Gräuel. Ein bisschen Sticheln konnte da nicht schaden.

    »Gestern ist mir eine meiner Enten im Teich ertrunken«, antwortete sie schnippisch. »Ich musste sie heute Morgen aus dem Teich fischen.«

    Der Schwiegervater war hellhörig geworden.

    »So ein Blödsinn!«, meinte er. »Eine Ente kann doch nicht ertrinken! Eine dümmere Ausrede ist dir wohl nicht eingefallen?«

    »Wenn ich es euch sage!«

    »Wie soll das denn passiert sein?«

    »Ihr Schließmuskel war kaputt. Das ist sie voller Wasser gelaufen und abgesoffen!«

    »Scheiße!«, fluchte Karl, nahm Anita am Oberarm und schob sie in Richtung Schlafzimmer. »Mach dass du an die Arbeit kommst, eh ich mir deinen Schließmuskel vornehme!«

    »Mach hier keine Hektik« mahnte sie, schob aber ihren massigen Körper durch die Tür ins Schlafzimmer.

    Tatsächlich sollte sich die Eile als unnötig erweisen. Es dauerte noch bis kurz vor Mitternacht, als Tom endlich geboren wurde.

    Das erste, was der Neugeborene fühlte, waren die verschwitzten Hände der dicken Hebamme, das erste, was er sah, war ihre rote Schnapsnase. Diese ersten Eindrücke und ein harter Schlag auf seinen nackten Popo genügten ihm, um erst einmal lauthals loszubrüllen. Hätte er gewusst, dass das dicke Weib, das ihm gerade bei den Füßen nahm und ihm kopfüber in die Luft hielt, durch den Genuss einer nicht unwesentlichen Menge Schnaps inzwischen ziemlich benebelt war, hätte es ihm gewiss die Sprache verschlagen. Die Hebamme hielt einen Zollstock an seinen Körper und murmelte etwas von viel zu klein. Dann legte sie ihn in einer eiskalten Schale und murmelte etwas von viel zu leicht. Er heulte nicht mehr; jetzt schrie er. Sein Organ würde jetzt jeden Sänger einer Hardrock-Band locker zur Ehre gereichen.

    Dann hörte der Schreihals eine andere Stimme, sie klang sanft und erschöpft:

    »Ist es ein Junge?«

    »Ein Krawallmacher ist er«, meinte die Hebamme. Ihr fettes Gesicht war vor Anstrengung schweißnass und ihr mühsam aufgetragenes Make-up begann sich darum schon wieder aufzulösen.

    Gaby betrachtete ihren Sohn mit liebevollen Augen.

    »So gib ihn mir doch endlich!«

    Diese sanfte, liebevolle Stimme war etwas Vertrautes. Als er dann schließlich in den Armen seiner Mutter lag, spürte er die gleiche Geborgenheit wie noch vor wenigen Minuten, bevor ihm die derben, verschwitzten Hände der Hebamme in dieses Leben gerissen hatten. Also stellte er sein Konzert ein. Er war eh zu müde dafür.

    Dann hörte man Schritte, die Tür wurde geöffnet und Karl, gefolgt von seinen Schwiegereltern, stürmte mit bleichem Gesicht ins Zimmer. Er kniete sich ans Kopfende des Bettes, nahm die Hand seiner Frau und streichelte sie, während er fasziniert auf seinen Sohn starrte. »Ein richtiger Wonneproppen«, flüsterte er.

    »Wie soll er denn heißen?«, fragte die Hebamme.

    »Thomas«, antwortete Karl, während er sich herab beugte und seine Lippen auf die Stirn des Neugeborenen drückte. »Ist auch alles in Ordnung mit ihm?«, fragte er dann.

    »Du lieber Himmel, ja! Was soll denn nicht in Ordnung sein. Es ist auch alles dran, was ein Junge braucht.« Die Hebamme kicherte gekünstelt und verschwand in einem Winkel des Zimmers, wo ihre Tasche stand. Sie kramte eine Flasche heraus, um dann hastig und mit offenkundigem Behagen ein Schluck zu trinken. Jeder im Dorf wusste, dass sie gerne mal einen trank. Aber noch nie hatte es darum irgendwelche Beschwerden gegeben. Als Hebamme schätzte man sie über alle Maßen. Sie galt als zuverlässig und pflichtbewusst.

    Dem Neugeborenen interessierte das alles noch herzlich wenig. Er gähnte und warf seinen Vater einen argwöhnischen Blick zu, kuschelte sich dann an die Mutter und schenkte ihr ein erstes zaghaftes Lächeln. Die war inzwischen vor Erschöpfung eingeschlafen. Das passte dem Schreihals überhaupt nicht. Er brüllte erneut los. Seine Mutter schreckte auf und drückte ihn zärtlich. Sanft und beruhigend sprach sie auf ihn ein. Der Junge beruhigte sich zunehmend, und wenn man bereits einem Neugeborenen die Fähigkeit zugestehen wollte, dass er aus Erfahrungen lernen und Rückschlüsse ziehen konnte, dann hatte er schon jetzt etwas Entscheidendes gelernt: Wenn man brüllt, erweckt man Aufmerksamkeit. Aber mit dieser nicht auszuschließenden Erkenntnis war sein Quantum vorerst gedeckt. Er schlief ein.

    Lisels Geburt

    Gerhard Sander war Polizeiobermeister und Dienststellenleiter in Engern. Er sollte wie Karl Strüve in der gleichen Nacht zu Vaterehren kommen.

    Eine weitere Gemeinsamkeit hatte er mit Karl insofern, als auch er wie aus heiterem Himmel von der unvermutet schnellen Niederkunft seiner Ehefrau überrascht wurde. Auch er war auf seiner Arbeit. Auch er machte gerade Pause. Auch bei ihm wurde die Tür aufgerissen und ein aufgeregter Kollege, auf dessen Uniformjacke Abzeichen und Schulterklappen eines Polizeianwärters prangten, kam herein und berichtete, dass Sanders Nachbarin angerufen habe, um mitzuteilen, dass bei seiner Frau die Wehen eingesetzt hätten.

    Wie Karl konnte er nicht wissen, dass jede Eile unnötig war. Es sollte noch einige Stunden dauern, bis das Neugeborene das Licht der Welt erblicken würde.

    Damit war es aber vorbei mit den Gemeinsamkeiten.

    Er saß zwar auch, aber nicht auf einem Verschalbrett, sondern in einem bequemen Bürosessel, und als er in seiner ersten Reaktion aufsprang, hatte das auch nicht die gleichen folgenschweren Effekte, wie sie im vorangegangenen Fall zu berichten waren. Auch sollte dies sein einziger sichtbarer Gefühlsausbruch bleiben.

    Kaum stand er, hatte er schon seine Selbstbeherrschung wiedergefunden. Jetzt ärgerte er sich, weil er vor seinem Kollegen die Fassung verloren hatte und aufgesprungen war.

    Er hasste jede Art von Unbeherrschtheit. Er hasste Gefühlsduseleien.

    Immer gab er sich ruhig und gelassen, gleichgültig wie aufgewühlt er innerlich wirklich war. Er war Polizeiobermeister und infiziert vom glamourösen Image, das Fernsehen und Kino seinem Berufsstand verliehen. Seine Vorbilder waren Detektive wie Sherlock Holmes oder Maigret. Er eiferte ihnen nach. Er wollte wie sie sein: nüchtern und sachlich und kühl im Handeln oder Einschätzen einer Situation. Dazu passte einfach nicht, dass er seine Selbstbeherrschung verlor.

    Gerhard Sander hatte noch keinen Fall von Bedeutung gehabt. In einem Dorf wie Engern passierte eben nicht viel. Seit fünfzehn Jahren war er Polizeiobermeister und seit zehn Jahren hatte er in Engern sein eigenes Revier, und seit genauso vielen Jahren langweilte er sich zu Tode. Der Höhepunkt seiner Karriere war das zweifelhafte Vergnügen bei der Obduktion einer Leiche anwesend gewesen zu sein. Diese hatte er überraschend gut überstanden, so dass er fortan meinte jedem seiner Kollegen eine Pathologievorlesung halten zu können. Nicht zuletzt darum glaubte er von sich, jeder Situation, die da kommen mochte, gewachsen zu sein. Er würde wie seine Phantasiehelden seinen Ekel unterdrücken, seine Gefühle ignorieren oder ganz einfach ausschalten. Er glaubte ein raubeiniger, hartgesottener, abgezockter Polizist zu sein.

    In Wirklichkeit war er nichts davon. Schon äußerlich war er nur die Karikatur seiner Vorbilder. Böse Zungen behaupteten sogar, dass er eigentlich mehr Don Quichotte ähnelte, dem Ritter von der traurigen Gestalt. Er war etwas zu groß und spindeldürr, beim Gehen glaubte man deutlich das Klappern seiner Knochen zu hören. Er hatte ein schmales, hohlwangiges Gesicht, eine spitze lange Nase, darunter einen auffälligen, schwarzen Schnurrbart. Seine Augen waren zu groß und darüber hinaus schielte er ein wenig.

    Als bekannt wurde, dass die Sanders ein Kind erwarteten, gab es nicht wenige im Dorf, die nicht nur beim Kirchgang ein Stoßgebet gen Himmel schickten, mit dem frommen Wunsch, dass das neugeborene Kind hoffentlich so wenig wie möglich vom Vater erben würde. Zumindest was das Äußere betraf.

    Natürlich wusste Sander um seine körperlichen Makel. Um sein Äußeres aufzuwerten, tat er darum zwei Dinge: Erstens trug er immer seine Uniform zur Schau, ob privat oder zu festlichen Anlässen, und zweitens hatte er immer seine Dienstwaffe dabei, die er nicht zufällig gut sichtbar am Gürtel trug, sondern weil sie dort, wie er meinte, mächtigen Respekt einflößte. Gebraucht hatte er seine Dienstwaffe noch nie. Wobei auch?

    Seine Aufgaben in der Vergangenheit ließen sich leicht aufzählen: Schnellfahrer aufhalten, Führerscheine kontrollieren, Betrunkene in die Ausnüchterungszelle stecken, bevor die zu randalieren begannen, Familienzwistigkeiten schlichten, ausgerissene Kinder ausfindig machen, das war sein Geschäft. Seit Jahren bestand sein Leben aus langsamen, eintönigen Gewohnheiten. Nichts passierte, alles war vorhersehbar. Alle Fälle waren in einem Ordner gesammelt, mehr bedurfte es nicht. Es waren so wenige Fälle gewesen, dass er sich auch ohne Ordner an alle wesentlichen Fakten erinnern konnte. Mehr als kurzfristige Verhaftungen wegen ungebührlichen Verhaltens, Ruhestörung und Widerstand gegen die Staatsgewalt waren dabei nie herausgekommen.

    Das war seine Arbeit: langweilig und monoton. Was wirklich Schlimmes war noch nie passiert. Was sollte in so ein Nest am Ende der Welt auch schon passieren. Engern war ein recht sauberes Dorf, das sauberste seiner Größe im Bezirk. Er war immer informiert über jeden lichtscheuen Strolch, der sich in das Dorf verirrte. Kriminalität wie in den Städten gab es hier nicht. Die Menschen konnten auch bei Nacht ihre Türen unverschlossen halten.

    Jeder Gesetzeshüter wäre froh über diese Tatsache. Aber nicht Gerhard Sander. Er fühlte sich unterfordert. Ein Polizist seines Kalibers hatte größere Aufgaben verdient. Darum hatte er schon daran gedacht, aus Engern wegzuziehen und sich in ein anderes Revier versetzen zu lassen. Es war eh zu erwarten, dass früher oder später die Polizeidienststelle in Engern geschlossen wird. Er unterstand dem Polizeipräsidium in Rinteln, und die hatte zu wenig Personal, zu wenig Ausrüstung, die Leute waren unterbezahlt und überarbeitet. Immer öfter wurde er darum nach Rinteln zum Innendienst beordert, um auszuhelfen. Das er dennoch in Engern blieb, hatte gute Gründe. Zum einen war er in Engern respektiert und beliebt und sein eigener Herr. Zum anderen war da seine schwangere Frau. Sie liebte das Dorf, die vertraute Örtlichkeit und die vertrauten Gesichter und genoss das Leben als »Frau Polizeiobermeister«. Es gab in Dorf nur noch zwei Frauen, die ihr den Status der First Lady streitbar machen konnten: die des Bürgermeisters und die des Doktors. Niemals würde sie dieses Leben freiwillig aufgeben.

    Es musste eigentlich nur einmal etwas Interessantes passieren, irgendetwas wo er seinen kriminalistischen Spürsinn unter Beweis stellen konnte.

    Aber jetzt stand ihm nicht der Sinn nach großen Kriminalfällen. Bei seiner Frau hatten die Wehen eingesetzt. Das war Aufregung genug. Denn so unaufgeregt, wie er sich äußerlich auch gab, so beunruhigt war er doch im Innern. Eigentlich konnte man das nur an seinem Schnurrbart sehen, der sich aufgeregt sträubte. Sein Kollege der Polizeianwärter Manfred Peterson kannte dieses Zeichen und bot sich darum an, Sander nach Hause zu fahren. Großer Gott, dachte Sander. Reiß dich zusammen! Er lehnte natürlich ab und verließ ganz die Contenance bewahrend das Polizeirevier. Ruhig aber zügig ging er hinüber zur Bankfiliale, wo er sein Auto, einen bundesrepublikanischen Peterwagen, im Volksmund auch VW-Käfer genannt, immer parkte, stieg ein und raste los.

    Einen Moment lang erwog er, das Blaulicht einzuschalten. Reiß dich zusammen, Gerhard!, ermahnte er sich abermals und ging vom Gas. Er brauchte noch Zeit, um sich zu sammeln. Er war noch zu aufgeregt, seine Hände waren feucht und er fühlte sich beklommen. So konnte er seiner Frau nicht unter die Augen treten.

    Er wohnte am anderen Ende von Engern, keine beträchtliche Strecke vom Revier entfernt, aber durch den miserablen Straßenzustand und den lahmen Verkehr kam er nur langsam voran. Das hohe Verkehrsaufkommen war ungewöhnlich. Wenn das so weitergeht, dachte er beunruhigt, werde ich mich doch noch verspäten. Irgendwann ging es nur noch im Schneckentempo weiter und er überlegte schon, die Hauptstraße zu verlassen, um auf schmalen Seitengassen ans Ziel zu kommen.

    Verwundert registrierte er, dass sich am Hof vom Bauer Müller der Verkehr staute. Hoffentlich kein Unfall, dachte er. Zwischen den wartenden Autos sah er den Alten wütend und wild gestikulierend rauf und runter laufen. Als Sander näher kam, sah er den Grund dafür. Überall liefen seine Hühner auf der Straße herum. Sie saßen auf dem Bürgersteig, auf den Motorhauben und einige sogar auf den Dächern der wartenden Autos. Mit seiner rechten Hand schwenkte der Bauer drohend einen Krückstock, wobei es zweifelhaft war, ob es seinen Hühnern oder den Autofahrern galt. Die Hühner jedenfalls ließen sich nur wenig davon beeindrucken und liefen flügelschlagend nur ein paar Schritte weiter, wo sie dann außer Reichweite verharrten und den Bauern und die Autos mit ihren dummen Augen anblinzelten. Das veranlasste wiederum die verärgerten Kraftfahrer ungeduldig und wütend zu hupen. So flatterte das Federvieh wieder aufgescheucht und gackernd in Richtung des Bauern. So ging es hin und her.

    Der Bauer selbst muss dümmer sein als seine Hennen, dachte Sander. Oder wie konnte er sonst glauben, sein Federvieh von der Straße zu bekommen, wenn er wie ein Berserker zwischen ihnen herumtobte?

    Zwei Autos vor ihm hatte ein aufgebrachter Fahrer, des Wartens müde, das Fenster heruntergekurbelt, um einen wohlgezielten Fluch in Richtung des Bauern loszuwerden. Der blieb ihm aber im Hals stecken, als eines der Hühner flatternd im Auto landete und bei seiner Ehefrau einen hysterischen Anfall verursachte. Sander hatte nur ein sehr eingeschränktes Blickfeld, konnte aber einen Knäuel von Bewegungen ausmachen, in dem Fäuste zuckten, ein Körper sich wie ein Wurm drehte und wand, Federn stoben und abwechselnd die Henne und das leichenblasse Gesicht der Frau erschienen.

    Nichts sehen und nichts hören, dachte Sander. Nur nicht aufhalten lassen. Ich muss nach Hause. So warf er nur einen strafenden Blick in Richtung des Bauern, als er schließlich immer noch im Schritttempo die Stelle passierte, wo Blut und Federn auf der Straße zweifelsfrei darauf hinwiesen, dass hier schon einige Hühner ihre Exkursion nicht überlebt hatten.

    Nach etwa fünfhundert Meter bog er von der Hauptstraße ab und folgte der langgezogenen Kurve einer kleinen Seitenstraße. Er bremste ab, als die hohen Tannen, die sein Grundstück begrenzten und keinen neugierigen Blick auf das Grundstück erlaubten, hinter einer fast mannshohen Hecke auftauchten. Er lenkte den Wagen die Auffahrt hinauf, wo ihm am Haus ein Mercedes den Weg versperrte. Schon von der Einfahrt her hatte Sander ihn erleichtert als den Wagen von Doktor Bünthe ausgemacht. Sein Magen rumorte trotzdem wieder bei der Vorahnung dessen, womit er gleich konfrontiert werden würde.

    Auf der Treppe zum Eingang hockte die neunmalkluge Göre von nebenan. Das Mädchen war acht Jahre alt. Sie hatte die Beine hochgezogen, die Füße unter ihrem Kleid verborgen und hielt ihren Kopf auf die Hände gestützt. Sander seufzte bei ihren Anblick unwillkürlich auf. Sie war ein nerviges Kind. Aber heute war ein großer Tag. Er würde Vater werden. Also ließ er sich dazu herab, ihr freundlich über die Haare zu streichen.

    »Na, nun wirst du ja bald einen Spielkameraden haben. Oder wünscht du dir lieber eine Spielkameradin?«

    »Wenn ich es mir aussuchen darf …«, begann sie nachdenklich, »und es nicht zu viel Umstände macht …«, fuhr sie fort, »dann würde ich mir ein Pony wünschen!«

    Sie strahlte ihn an.

    Vorlaute Göre, dachte Sander und ging eiligen Schrittes ins Haus.

    Es sollte noch fast bis Mitternacht dauern.

    Wie immer gab er sich ruhig und gelassen.

    Scheinbar leidenschaftslos wartete er im Wohnzimmer auf den großen Augenblick. Er wollte auf jeden Fall bei der Geburt dabei sein.

    Nüchtern und emotionslos ließ er sich vom Arzt erklären, warum trotz starker Wehen die Geburt noch auf sich warten ließ.

    Er trank gerade ein Martini (geschüttelt, nicht gerührt!), als sich die Ereignisse überschlugen.

    Plötzliche Aufregung im Schlafzimmer, hastige Schritte, laute Rufe und dazwischen das Wehklagen seiner Frau.

    Als Sander ins Schlafzimmer stürzte, war es schon vorbei. Elisabeth war geboren. Sie nieste, atmete hastig und begrüßte ihren Vater mit so lauten Schreien, dass dieser (wie er das bei seiner Frau zu tun pflegte) gewohnheitsmäßig innehielt und erstarrte. Dann setzte er eine betont tapfere Miene auf und ging festen Schrittes zum Ehebett.

    Was er sah, ließ ihn zur Salzsäule erstarren: Da war die Nachgeburt … viel Blut … das bleiche Gesicht seiner jungen Frau …

    Die Situation und seine Reaktion konnte man auch wie folgt festhalten: Er kam, er sah, er schaute … und wurde ohnmächtig.

    Später hatte unser hartgesottener Polizeiobermeister für diesen äußert peinlichen Zwischenfall eine überaus einleuchtende Erklärung:

    Der Martini! Er würde ihn sicherstellen, zur Untersuchung ins Labor geben und - wenn sich seine Vermutung bestätigen sollte und der Inhalt der Flasche sich als ungenießbar erweisen sollte - rechtliche Schritte gegen den Hersteller erwägen. Dass die Flasche schon halb leer war, ohne dass sich jemals eine vergleichbare Reaktion eingestellt hätte, verschwieg er geflissentlich.

    Einen Vorwurf würde er sich nichtsdestotrotz gefallen lassen müssen. Seiner kriminalistisch geschulten Nase hätte der eigentümliche Geruch des Martinis auffallen müssen.

    »Wenn ich nur nicht so verschnupft wäre …«, fügte er hinzu und schnaubte zur Bestätigung in sein blütenweißes Taschentuch.

    Dr. Bünthe versuchte verbissen sein Grinsen und die spitzen Bemerkungen, die ihm auf der Zunge lagen, zu unterdrücken.

    Schließlich war der peinliche Zwischenfall vergessen. Unser neugeborenes Mädchen hatte nämlich eine beeindruckende Ähnlichkeit mit Thomas Strüve, der zeitgleich das Licht der Welt erblickte: Sie konnte fast genauso laut schreien. Ein wenig damenhafter, ein wenig kultivierter, aber doch laut genug, um damit die Aufmerksamkeit aller Anwesenden nur auf sich zu lenken.

    Sander nahm sein Töchterchen in die Arme, drückte es an seiner Brust und wiegte es hin und her. Er spürte ihr kleines Herz schlagen: Bum-bum … bum-bum … bum-bum … Es war still im Zimmer geworden. Der Vaterstolz trieb ihm die Tränen in die Augen. Fasziniert horchte er auf das sanfte, gleichmäßige Pochen ihres Herzen. Beschützen würde er es. Niemand sollte diesem Herzen jemals wehtun. Während er verträumt den Pochen ihres Herzens horchte, blickte er gedankenverloren auf das blutdurchtränkte Bettlaken. Das Blut, der Schlag ihres Herzens … Plötzlich hatte Sander eine unbestimmte Vorahnung. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Angst kam aus dem Nichts und ergriff Besitz von ihm. Er drückte das Mädchen noch kräftiger an seine Brust.

    »Gerhard, sehe ich da etwa Tränen der Rührung in deinen Augen!«, rief der Arzt und riss ihm in die Wirklichkeit zurück.

    »Der Schnupfen …«, sagte Sander, »der verdammte Schnupfen!«

    »Dann gib mir lieber die Kleine!«, sagte seine Frau. »Bevor du sie mir noch ansteckst!«

    Jahre später sollte Sander sich wünschen, dass er seinen dunklen Ahnungen mehr Bedeutung geschenkt hätte.

    Olafs Geburt

    In dieser ereignisreichen Nacht wurde noch ein drittes Kind geboren, aber bis auf die Tatsache, dass es in der gleichen Nacht geboren wurde, sollte es hier keine Gemeinsamkeiten geben.

    Heinrich Linne, kurz Heini genannt, wachte auf und blickte auf die Uhr, die auf dem Fußboden neben dem Bett stand. Es war halb fünf Uhr morgens.

    Warum bin ich aufgewacht, dachte er.

    Er blieb regungslos liegen und horchte in die Dunkelheit hinaus.

    Die Schweine, fuhr es ihm durch den Kopf. Ihr Grunzen hat mich geweckt. Heute sind sie aber früh dran.

    Er wälzte sich aus seinem knarrenden Bett und knipste das Licht an. Geblendet schloss er die Augen. Sein Kopf schmerzte. Sein Kater war schlimmer als für gewöhnlich. Bis weit nach Mitternacht hatte er im Krug herumgesessen und unzählige Gläser Bier getrunken. Er stand auf, streckte und reckte sich und hörte, wie die Wirbel in seinem Rückgrat knackten.

    Heini Linne war ein wandelndes Muskelpaket, ein Meter sechzig groß und neunzig kg schwer. Sein Stiernacken, die breiten Schultern, die von harter Arbeit gestählten Muskeln und der immense Brustkorb verliehen ihm das Aussehen eines professionellen Ringers in Miniaturausgabe. Mit seinen kurzen Beinen, langen Armen, seinen gewaltigen Fäusten und seinem langen Rumpf wirkte er wie ein abgebrochener Riese, wie ein Gnom aus dem Märchenwald.

    Aber Heini war körperlich behindert und geistig zurückgeblieben. Er hatte einen Buckel und ein steifes Bein. Schon sein Äußeres verriet jedermann, dass er nicht ganz richtig im Oberstübchen war. Er hatte immer den Ausdruck eines Lächelns in seinem etwas rundlichen Gesicht, und seine Miene war ein Spiegelbild seiner Gefühle und Empfindungen. Er hatte die Intelligenz und die Unbekümmertheit eines Kindes. In der Schule hatten ihn früher die Kinder darum gehänselt, bis er zwei von ihnen windelweich geprügelt hatte. Seitdem wagte es niemand mehr, sich über Heini lustig zu machen. In gewisser Weise fürchtete man ihn, denn bei all seiner hässlichen Unförmigkeit strahlte er Kraft, Behändigkeit und Mumm aus. Er war kein sabbernder Idiot, er war halt dumm, begriffsstutzig, geistig zurückgeblieben, ein Legastheniker, der weder schreiben noch lesen konnte, weil ihn sein Vater mit neun Jahren aus der Schule genommen hatte. Er gehörte zu den Menschen, die eine Reifenpanne am Auto betrachteten und Gott erleichtert dankten, dass er nur unten platt war. Er war ein Mensch, der auf äußere Sinneseindrücke mehr reagierte als andere. Er liebte die Geselligkeit und suchte ständig nach Anerkennung. Er ging gern in die Kneipe, weil die alkoholisierten Männer ihn wie ein Kumpel behandelten, und er ging gerne auf dem Fußballplatz, denn Fußball war eine willkommene Abwechslung in seinem eintönigen Leben und gab ihm Gelegenheit ungestraft zu fluchen und zu johlen.

    Er trat zum Stuhl am Bettende und zog ein speckiges Hemd, seine blaue Latzhose und schwere Arbeitsschuhe an. Dann ging er zum Waschbecken. Einen Stock unter sich hörte er ein Scheppern. Seine Schwägerin war auch schon auf. Sein Bruder war bestimmt schon zum Angeln und er musste alleine das Vieh versorgen, und vermutlich hatte sie noch einige andere Arbeiten für ihn. Er ging zum Fenster und blickte hinaus.

    Heini wohnte mit seinem Bruder und seiner Schwägerin auf einen kleinen verkommenden Bauernhof, der an der Landstraße lag, die von Engern nach Deckbergen führte. Hier, im Osten Engerns, lagen etwas abseits der Gemeinde eine Vielzahl verstreut liegender Gehöfte. Hier lebten seit Generationen arme und reiche Bauern. Ihre Äcker lagen in der Nähe ihrer Wohnhäuser. Der Linne-Hof war ohne Zweifel der am heruntergekommensten. Er war abgewirtschaftet und verwahrlost. Schon der äußere Eindruck war beklagenswert. Der Hof bestand aus drei Gebäuden, dem Wohngebäude mit der anliegenden Scheune und dem etwas abseits liegenden Stall. Die Scheune war noch relativ gut erhalten. Nur ein paar herausgerissene Latten, durch die der Wind pfiff, mahnten, dass hier ein Zimmermann dringend benötigt wurde. Am Wohngebäude war der Verputz schäbig und verwittert, an vielen Stellen war er abgebröckelt oder hatte tiefe Risse, niemand hatte sich die Arbeit gemacht, den Mauerschutt fortzuräumen. Alle Mauern sahen aus, als würden sie jeden Augenblick einstürzen, aber noch saßen Scheiben in den Fenstern, wenn sie auch blind vor Schmutz waren. Stürme hatten viele Schindeln fortgerissen, das Dach war daher undicht und nur notdürftig repariert. Bei Regenwetter bildeten sich Pfützen auf dem Dachboden.

    Der Stall glich einer baufälligen Ruine. Er war aus Holz und Blech und sah aus, als wäre es nie angestrichen worden. Auf der linken Seite musste vor Jahren das Fundament nachgegeben haben, zumindest schien die Baracke auf dieser Seite allmählich im Erdboden zu versinken. Dadurch waren die Fenster verzogen und das Glas zersprungen. Notdürftig waren die Fenster wieder mit Brettern zugenagelt worden. Der Hof selbst war nie gepflastert worden, er bestand aus festgetrampelten Lehmboden. Bei starken Regen verwandelte er sich in einen matschigen, knöcheltiefen Morast. Solange Heini zurückdenken konnte, war es hier nie anders gewesen. Sein Vater und seine Mutter hatten immer am Rande der Pleite gestanden. Durch Landverkäufe hatten sie sich aber immer irgendwie über Wasser gehalten. 1952 kam der Vater bei einem Unfall ums Leben. Damals war Heini dreißig Jahre alt und sein Bruder Heinz fünfundzwanzig. Sie bewirtschafteten den Hof bis 1956, dann verloren sie alles Land an die Banken. Was ihnen blieb, war das Grundstück mit dem Wohngebäude und den Ställen, und ein kleiner Acker hinter dem Haus, wo sie Kartoffeln anpflanzten. Von der Mutter hatten sie nichts zu erwarten. Sie war schon bald nach dem Tod ihres Mannes in ein baufälliges Gebäude am Bahndamm gezogen, wo sie von einer kargen Witwenrente ihr Leben fristete.

    Die Brüder waren sehr unterschiedlich. Heini war eine weichherzige Seele, mit einem edlen Charakter und einem gütigen Herzen. Heinz Linne war ein berechnender Mann mit einem selbstsüchtigen Charakter, der jede Möglichkeit nutzte, um von der Arbeit nicht allzu sehr belästigt zu werden. Er hatte es früh verstanden, seinen geistig zurückgebliebenen Bruder auszunutzen. In seinen Augen war der behinderte Bruder ein Trottel, der nicht bis drei zählen konnte, ein Vollidiot, der ausgenutzt und mit Arbeit überhäuft werden konnte.

    Nach dem Tod des Vaters hatte Heinz ein Problem: Er kam in die Verlegenheit, sich selbst durchbringen zu müssen. Neben dem Anbau von Kartoffeln begann er Schweine zu mästen. Seine Haupttätigkeit bestand aber darin, seinen Bruder Anordnungen zu geben und die ganze Arbeit machen zu lassen, er selbst war für den Verkauf der Kartoffeln und der gemästeten Schweine verantwortlich. Ihr Einkommen war spärlich und sie lebten nur mehr recht und schlecht von dem Verkauf. Dann hatte Heinz Ingrid geheiratet, die Tochter vom Bauern Brandes, ein molliges, pickeliges Mädchen. Ingrid war eine Schlampe, quengelig und stinkend faul. Sie machte aus ihrem Herz keine Mördergrube und behandelte Heini mit der Kälte und Abneigung, wie man einen Menschen behandelte, den man nur als Mühlstein am Hals betrachtete. Ein Jahr später war sie »trächtig« geworden, wie sein Bruder sich grinsend ausgedrückt hatte. Jetzt reichte das Geld hinten und vorne nicht mehr. Vier Mäuler konnte »er« nicht mehr stopfen. Dafür warf sein Geschäft zu wenig ab. Seine Frau kam dann auf die glorreiche Idee, dass man am besten bei Heini sparen könnte. Schließlich ernährten und pflegten sie den Krüppel ohne dafür eine gleichwertige Gegenleistung zu erhalten. So kam es, dass er monatelang in den gleichen Klamotten herumlief und sich davon ernähren musste, was ihm der Bruder und die Schwägerin übrig ließen. So wäre es wohl geblieben, wenn nicht der Umstand eingetreten wäre, dass Heini aus Mangel an Nahrung immer schwächer wurde und schon bald den Hof nicht mehr bestellen konnte. Also wurde der »Krüppel« wieder aufgepäppelt und die Mehrkosten damit gedeckt, dass sie ihm als Knecht verdingten. Nicht selten arbeitete er zum Mindestlohn fünfzig Stunden pro Woche. Dabei waren sie verschlagen genug, Heini einzureden, dass sie es ja nur gut mit ihm meinten, und dieser war dankbar und folgsam.

    Natürlich musste Heini weiterhin den eigenen Hof bestellen. Um fünf Uhr stand er auf und fütterte die Schweine, damit sein Bruder ausschlafen konnte, um die Anforderungen des Tages in aller Frische bewältigen zu können. Eine dieser Anforderungen war das wöchentliche Sportangeln mit seinen Nachbarn.

    Dass er ausgenutzt wurde, kam Heini nicht in den Sinn. Aber auch wenn er es gewusst hätte, würde es ihm nichts ausmachen, er war arbeiten gewöhnt und hatte alles, was er zum Leben brauchte. Sein eigenes Zimmer hatte er auch, eine kleine Dachkammer, spartanisch mit billigen Möbeln eingerichtet. Er schaute emotionslos auf sein Bett mit den dreckigen Laken, zum Schrank, an dem eine Tür aus den Angeln gerissen war und zum Tisch, unter dem zwei wacklige Stühle standen, die von einem Haufen schmutziger Wäsche fast vollständig bedeckt waren. Alles war so dreckig und speckig, dass ein reinlicher Mensch das Zimmer als ein verkommenes Rattenloch bezeichnet hätte. Aber das störte Heini nicht.

    Er ging zum Waschbecken, besah sich in dem mit Wasser bespritzten Spiegel und kämmte sein streichholzlanges Haar. Dann ging er zum Flur hinaus und das muffige Treppenhaus hinunter. Dort wurde er von einer Katze erschreckt, die fauchend aus einer dunklen Ecke sprang und über die Treppe ins untere Stockwerk verschwand. Überall roch es nach Katzenpisse.

    Kaum hatte er die Küche betreten, als sich seine Schwägerin bereits wie ein Geier auf ihn stürzte. Sie hatte üppige, fettige Haare, die nicht sehr ordentlich frisiert waren, üppige Brüste und bot im Allgemeinen, was ihre Kleidung betraf, einen schlampigen Anblick. Sie war Mitte zwanzig, im neunten Monat schwanger, trug eine runde Nickelbrille, und ihre miese Laune stand ihr im Gesicht geschrieben.

    »Wird auch Zeit, dass du aufstehst!«, schimpfte sie.

    Heini duckte sich.

    »Nach dem Füttern wirst du den Schweinestall ausmisten! Danach habe ich noch andere Arbeit für dich!«

    Er ging wortlos zum Ofen und nahm den verbeulten Wasserkessel von der verrosteten Platte, kippte sich eine Tasse Kaffee ein, zog unter dem dreckigen Tisch einen Stuhl raus und setzte sich. Seine Schwägerin ließ ihn dabei die ganze Zeit nicht aus den Augen.

    »Heini Hunger!«, sagte er.

    Seine Schwägerin stellte ein Teller mit Suppe auf den Tisch.

    »Das ist von gestern übriggeblieben«, erklärte sie.

    Heini schaute emotionslos auf den Teller mit der Suppe, eine trübe, rostig-farbene Flüssigkeit, in der schmierige kleine Nudeln herumschwammen.

    »Löffel!«, sagte er.

    »Hier!« Sie griff in die Spüle nach einem klebrigen Löffel, der wohl auch von gestern übriggeblieben war, und zog die Bluse aus der Hose, um den Löffel damit abzuwischen. Heini konnte das Fett rund um ihre Taille sehen und ihren aufgeblähten Bauch. Während der Schwangerschaft war sie aus den Fugen gegangen. Sie war ein Mädchen, das bereits jeden jugendlichen Reiz verloren hatte. Sie trug alte, abgelegte Kleidung, die wohl noch nie gewaschen worden war, und sah ständig kränklich und blass aus.

    »Das du mir heute nicht rumtrödelst!«

    »Nein, mach ick nicht!«

    »Wie geht es heute deinem Kopf?« Die Frage war kühl und unbeteiligt.

    »Kopf gut!«

    »Ihr Kerle mit eurer elenden Sauferei.«

    Heini schwieg, denn sein Wortschatz ließ keine Diskussionen oder Widersprüche zu. Außerdem besaß sie mehr Willen und Entschlusskraft als er und sie konnte einen mit ihrer Nörgelei zur Verzweiflung bringen.

    Während er die Suppe löffelte, fing sie an, über sich selbst zu sprechen, und im Verlauf der folgenden Minuten erzählte sie ihm zum wiederholten Male ihre Lebensgeschichte. Es war ein Gemisch von Wahrheit und Lügen und Wunschträumen. Heini hörte ihr interessiert zu. Er war dumm genug, ihr jedes Wort zu glauben.

    Als ihr Wortschwall versiegte, stand er auf.

    »Gehst du jetzt das Vieh füttern?«

    »Ja!«

    Er ging hinaus. Die kleine Treppe, die von der Haustür in den Hof führte, hatte kein Geländer mehr, die Stufen waren ausgetreten und brüchig. Der Morgen dämmerte bereits und offenbarte das trostlose Bild des Hofes. Bodennebel kroch wallend über die Felder. Wie er über dem Hof ging, ähnelte er in verblüffender Weise dem verkrüppelten Quasimodo, dem tauben Glöckner von Notre-Dame. Links vom Stall flatterte Wäsche auf der Leine. Eine fette Katze streunte um feuchte, geplatzte Abfalltüten, deren Inhalt auf dem Boden verstreut war. Etwas abseits stand das rostige Skelett eines ausgeschlachteten Treckers. Im Morgengrauen wirkte er wie ein Mahnmal aus vergangenen Zeiten, wie um an bessere Tage zu erinnern. Er ging zum Stall, öffnete die knarrende, ächzende Brettertür und knipste das Licht an. Sofort setzte ein ohrenbetäubender Lärm ein. Schweine grunzten und quiekten. Dicke Balken unter der Decke verschluckten fast das ganze Licht der zwei Glühbirnen, die an zwei dünnen Strippen von der Decke hingen und leuchteten daher nur mäßig die verrottete Bude aus. Es stank nach Moder und Scheiße. Der Boden war mit dickem Schmutz bedeckt. Dichtgedrängt standen bis zu zwanzig Schweine auf engsten Raum. Heini füllte die Tröge und beobachtete die gierig fressenden Schweine. Dann ging er wieder zum Haus zurück. Eigentlich wollte er nur die Schippkarre holen. Aber er spürte plötzlich eine innere Unruhe. Der Instinkt sagte ihm, dass etwas nicht in Ordnung war, und irgendwie empfand er einen inneren Zwang noch einmal nach seiner Schwägerin zu schauen. Er wusste später nicht mehr, warum er noch einmal zurückgegangen war. Es war nur eine Ahnung gewesen. Er trat in den Flur und ging zur Küche. Die Küchentür war nur angelehnt. Er wollte sie gerade öffnen, da hörte er das leise Stöhnen hinter der Tür.

    »Ingrid?«

    Stille, dann wieder das Stöhnen.

    Er drückte gegen die Tür, aber sie ließ sich nur spaltbreit öffnen. Etwas lag davor. Plötzlich fühlte er ein Zittern in den Knien.

    »Ingrid, wat is dir?«

    Ein lautes Stöhnen diesmal.

    Heini schob mit der Schulter gegen die Tür. Plötzliche Angst ließ seinen Mund trocken und filzig werden. Ächzend öffnete sich die Tür, etwas schleifte über den Boden. Als die Tür weit genug geöffnet war, so dass er sich in die Küche zwängen konnte, sah er sie. Sie lag seltsam verkrümmt auf dem schäbigen Küchenteppich, der einmal blau gewesen sein mochte, jetzt aber an vielen Stellen bis auf die Webschnüre durchgetreten war. Sie lag auf dem Bauch, den rechten Arm hatte sie angewinkelt, der linke Arm lag schlaff neben dem Rumpf. Lähmender Schrecken ergriff den Buckligen. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu erfassen, was sich da seinen Blicken bot.

    »Au Backe!«, sagte er mit belegter Stimme, und Angst und Entsetzen schwangen darin mit.

    Als sie seine Stimme hörte, versuchte sie, sich umzudrehen, aber es gelang ihr nicht. Mit einem Ruck löste er sich aus der Starre. Er ließ sich neben ihr auf die Knie nieder und beugte sich über sie. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Ihr Mund war ein wenig geöffnet. Er entdeckte eine blutende Wunde am Hinterkopf. Sonstige äußere Verletzungen waren nicht festzustellen.

    »Mein Baby …« stöhnte sie. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber zu hören war nur ein Gurgeln, von einem erneuten Stöhnen abgelöst. Dann verlor sie die Besinnung.

    »Au Backe!«, wiederholte er. »Ojemine!«

    Wertvolle Sekunden vergingen, bis Heini begriff, dass er handeln musste und Fragen sinnlos waren. Heini war zwar zurückgeblieben, aber nicht schwachsinnig; er konnte einfache Zusammenhänge herstellen. Das gelang nicht immer, aber hier war die Situation eindeutig. Er musste sie erst einmal aufs Sofa legen, sie musste von dem harten und kalten Fußboden weg, daran gab es keinen Zweifel. Er fasste ihr unter die Arme und zog sie hoch. Heini wusste bis dahin nicht, wie schwer es war, eine fette und bewusstlose Frau von der Stelle zu bewegen, weil ihr immer wieder in sich zusammensinkender Körper sich jedem festen Zugriff entzog. Doch Heini hatte übermenschliche Kräfte. Er legte sie im Wohnzimmer aufs Sofa und versuchte wieder einen klaren Gedanken zu fassen.

    Er eilte zum Telefon. Seine Hände zitterten, als er die Nummer vom Notruf wählte, die er vom Telefon ablesen konnte. Das Telefon klingelte einmal, zweimal. Noch nie im Leben waren Heini die Sekunden so lang vorgekommen wie jetzt. Was, wenn keiner abnahm oder niemand das Telefon hörte? Eine Ewigkeit schien zu vergehen, dann ein Klicken und eine monotone, teilnahmslose Stimme sagte: »Städtisches Krankenhaus Rinteln. Sie wünschen?«

    Heinis Lippen verspritzten Worte wie eine Gießkanne. »Bitte, schicken Auto … Ingrid gefallen … Schwanger … Sie stirbt … Heini weisch nischt, was sollen tun …«

    »Ihre Adresse bitte!«

    Er nannte sie und knallte den Hörer wieder auf, ohne auf eine Antwort zu warten. Mein Gott, warum wusste er nicht, was er tun sollte? Warum hatte Heinz ihm nicht gesagt, wie er sich in einen solchen Fall verhalten musste? Er hatte schreckliche Angst um sie, aber noch mehr vor seinen Bruder, wenn es ihm nicht gelang, diese Situation zu meistern. Sein Bruder konnte böse werden, wenn er sich zu dumm anstellte. Als er einmal vergessen hatte, die Tür vom Schweinestall zu verriegeln und sämtliche Schweine ausgebrochen waren, hatte er ihn mit der Heugabel windelweich geschlagen. Dummheit muss bestraft werden, hatte er dabei immer wieder geschrien. Sollte er ihr Wasser holen oder ihre blutende Wunde …

    Seine Gedanken rissen ab, als er das Martinshorn des Rettungswagens vernahm.

    Im Krankenhaus tauchte dann zwei Stunden später auch Ingrids Ehemann Heinz auf. Da saß er dann noch eine ganze Weile in einem unbequemen Plastikstuhl und blätterte genervt in einer Illustrierte. Jetzt beißen die Fische am besten, dachte er und ärgerte sich abermals darüber, dass er hier herumsitzen musste. Man hatte ihn vor einer Stunde darüber informiert, dass bei seiner Frau die Fruchtblase geplatzt war, und man das Kind vor dem errechneten Termin holen musste.

    »Machen sie sich keine unnötigen Sorgen«, hatte der Arzt gesagt. »Ein Kaiserschnitt ist heute nichts Besonderes mehr.«

    Verdammt peinlich, dachte Heinz. Noch nicht einmal ein Kind konnte sie normal gebären. Er hatte überlegt, ob er wieder zum Angeln gehen sollte, aber die Peinlichkeit, der Arzt könnte kommen und ihn nicht mehr vorfinden, ließ ihn sitzen bleiben.

    Auf der Uhr des Warteraumes krochen die Minuten dahin. Um halb neun kam eine Schwester und sagte: »Herr Linne?«

    »Ja.«

    »Die Operation ist gut verlaufen. Sie haben einen gesunden Jungen.«

    »Na, prima! Dann kann ich ja wieder gehen, wenn alles o.k. ist.«

    »Ja, wollen sie ihren Sohn denn nicht sehen?«

    Er überlegte angestrengt. Warum eigentlich nicht, dacht er dann. Mal sehen, was sie zustande gebracht hat.

    Die Schwester führte ihn in die Entbindungsstation. In einen der Betten lag ein winziges Baby. Heinz betrachtete es emotionslos und war nur darüber erstaunt, wie klein und zierlich der Säugling war. Eine weiße Decke war ihm bis zum Hals hochgezogen. Es war so blass und still, dass Heinz einen Augenblick lang dachte, es sei tot; einfach gestorben, während er mit der Schwester gesprochen hatte. Dann sah er, wie die winzigen Hände sich bewegten. Er betrachtete das Gesicht des Säuglings. Seine Züge waren bereits jetzt sehr empfindsam und mehr weiblich als männlich, fand er angewidert. Für dieses blässliche Etwas hatte er sein Angeln abgebrochen. Angeln war die einzige Abwechslung, die er hatte, nachdem er sich den ganzen Tag bei seinem Scheißjob die Seele aus dem Leib geschwitzt hatte.

    Der Säugling bewegte sich abermals, und ein schwacher Laut kam aus seiner Kehle. Seine Lider flatterten.

    »Wie soll er heißen?«, fragte die Schwester.

    »Olaf!«, antwortete Heinz.

    »Ihrer Frau geht es den Umständen entsprechend«, sagte die Schwester mit leiser, besänftigender Stimme. »Es war keine leichte Geburt, aber ihr Zustand hat sich stabilisiert. Wir werden sie ein paar Tage hier behalten, für alle Fälle. Möchten sie ihre Frau auch noch sehen?«

    »Nicht nötig. Sie schläft doch sowieso. Oder nicht?«

    »Ja natürlich. Ich dachte nur …«

    »Ich komme morgen noch einmal vorbei.«

    Heinz wandte sich ab und ging. Seine Angel wartete auf ihn. Und wie gesagt, um diese Zeit bissen sie am besten.

    Das Dorf

    Zwischen Weser und Weserbergland, mitten im Schaumburger Land, nur wenige Kilometer von der Kreisstadt Rinteln entfernt, lag Engern, ein ruhiger, beschaulicher Ort. Hier wurden die drei Kinder geboren.

    Einige würden Engern als idyllisches Dörfchen bezeichnen, andere als ein verschlafenes Nest. »Ein schöner Flecken«, sagten die einen. »Wie hingeschissen«, sagten die anderen. Tatsächlich konnte man sich den Eindruck nicht erwehren, dass hier ohne Sinn und Verstand ein Dorf entstanden war. Seine Häuser waren kreuz und quer zerstreut, wie die durcheinandergeworfenen Spielklötze eines Kindes und glichen einem Krebsgeschwür, das sich unkontrolliert ausbreitete. Die aus harten, ungleichmäßigen Kopfsteinpflaster bestehende Hauptverkehrsstraße, die anscheinend einige Jahrzehnte später gebaut worden war, schlängelte sich durch den Ort wie ein Gebirgsfluss. Ihr entlang zogen sich viele kleine, sich nicht weniger windende Gässchen, wo kein Haus dem anderen glich. Wunderschöne, alte Fachwerkhäuser strahlten Ruhe und Beschaulichkeit aus, penibel gepflegte Vorgärten luden zum Verweilen ein.

    Für Durchreisende aber war das kleine Dorf nur ein verkehrstechnisches Hindernis. Engern lag zwischen Rinteln und Hameln. Die Bundesstraße 83 war die kürzeste Verbindung zwischen den Städten. Touristen und Pendler, die durch Engern fuhren, ärgerten sich über die kurvenreiche, schlechte Straße und die dadurch erzwungene Geschwindigkeitsbegrenzung.

    Den Engeranern war das egal, denn Fremde waren eben nur Fremde und die waren jeden Dörfler sowieso von Natur aus suspekt. Engern war ein Dorf, wo jeder jeden kannte. Engern war provinziell, und was die Leute interessierte, waren nicht die Fremden, sondern die eigenen Nachbarn, die es mit Adleraugen zu beobachten galt.

    Man bemitleidete Frank Corado, der durch einen fürchterlichen Schicksalsschlag sein Bein verloren hatte und nun als Schrankenwärter sein Leben fristen musste. Man verachtete Benno Reichelt, einen wüsten Trunkenbold, und man verspottete den geistig zurückgebliebenen Heinrich Linne. Nur wenige Geheimnisse blieben geheim. So wussten nicht nur die Nachbarn, dass Ursel Wulhorst mit einem Reisenden aus Hannover durchgebrannt war, und sie bedauerten den sitzen gebliebenen Ehemann. Was aber keiner wusste, war die Tatsache, dass ihr Mann über ihr Verschwinden überhaupt nicht traurig war und allmorgendlich ein Gebet sprach, worin er Gott inbrünstig darum bat, dass seine Frau da blieb, wo der sprichwörtliche Pfeffer wuchs.

    Die Leute wussten, dass der Sohn vom Bauer Hinrich schwul war, was nicht schwer zu erraten war, denn schon auf seinem Gesicht malten sich alle Tiefen seines Lasters ab. Aber sie wussten nicht, dass unter der Maske seiner Leichtlebigkeit und Verdorbenheit ein gerissener Geschäftsmann steckte, der auf alles und jedes scharf Acht gab, und den Reichtum seines Vaters in wenigen Jahren bereits verdoppelt hatte.

    Die Frauen wussten, dass Sarah Schmittke eine leichtlebige, flatterhafte Frau war. Der eine Teil zerriss sich das Maul über die »Schlampe«, der andere ignorierte sie einfach. So manche brave Ehefrau würde sich entsetzt die Augen reiben, wenn sie wüsste, dass unter den Herren, die die Dame regelmäßig besuchten, ihr eigener Mann war.

    Die Menschen wussten, wer sich am helllichten Tag in der Kneipe herumtrieb und sie wussten, dass die uralte Oma Ruben im Konsum schon mal was mitgehen ließ, sie wussten auch, dass der Bauer Bredemeier hoch verschuldet war und heimlich zum Roten Kreuz ging, um dort Kleider für seine Kinder zu erbetteln.

    Im Norden grenzte das Dorf fast schnurgerade am Bahndamm. Dahinter begannen das Neubaugebiet und die langgedehnten saftigen Weiden, die sich bis zum Waldrand zogen und ein beliebtes Ziel für Spaziergänger waren. In Engern gab es keine Kirche, aber natürlich mussten die Dorfbewohner darum nicht auf den religiösen Trost verzichten. Während die Kinder das aus ihrer Sicht zweifelhafte Glück hatten, zweimal wöchentlich in der Dorfschule zum Konfirmandenunterricht gehen zu dürfen, um dort dem Gebet und den furchteinflößenden Predigten des Pastors zu lauschen, damit sie gut, tugendhaft, dankbar und folgsam wurden, was aber nur den Erfolg hatte, dass ihnen das Blut in den Adern erstarrte, mussten die erwachsenen Kirchgänger über die Felder und durch den Wald den weiten Weg nach Steinbergen laufen, um dort am Gottesdienst teilzunehmen zu können.

    Hier am Waldrand aber lag das eigentliche Heiligtum des Dorfes: der Sportplatz. Alles, was laufen, gehen, humpeln konnte, pilgerte am Wochenende zum Sportplatz.

    Engern war ein fußballverrücktes Dorf. Es gab fast niemanden, der sich nicht für Fußball interessierte oder sich dem Fieber, den es entfachte, entziehen konnte. Wer sich abfällig über diesen Sport äußerte, erntete erst entrüstete und dann wütende Blicke und riskierte, im Dorf nicht mehr ernst genommen zu werden. Ein Vater, dem ein Sohn geboren wurde (seltsamerweise nicht gleich mit Fußballschuhen), interessierte sich in erster Linie nicht für die Farbe seiner Augen, der Größe oder dem Gewicht des Neugeborenen, sein erstes Interesse galt den Beinen und seiner Muskulatur. Waren sie kurz und stämmig? Dann konnte er ein guter Abwehrspieler werden. Waren sie schlank und drahtig? Dann konnte er in den Angriff.

    Fußball war hier eine Religion, und das konnte man wortwörtlich nehmen. Der Erzfeind und Hauptrivale war Rinteln. Wenn das »Derby« gegen Rinteln lief, dem Teufel, dem ewigen Rivalen, dem Beelzebub, war ganz Engern auf den Beinen. Als Großvater Jakob zwei Stunden vor Anpfiff an einen Herzanfall starb, ließ ihn die Familie bis nach dem Spiel in der Scheune liegen. Als einer der Zuschauer während des Spiels einen Kreislaufkollaps erlitt, weigerten sich die Sanitäter ihn vor Ende des Spiels ins Krankenhaus zu fahren. Als ein Schiedsrichter es ablehnte, das Derby nach der 2:0 Halbzeitführung wegen den schlechten Witterungsverhältnissen wieder anzupfeifen (der ganze Platz war in der Halbzeit nach einem Eisregen unspielbar geworden), wurde er von der Menge fast gelyncht. Schiedsrichter trauten sich seitdem nur noch auf dem Platz, wenn sie sich vorher ein wenig Mut angetrunken hatten. Lange Zeit galt: Die Ränge waren voll – der Schiedsrichter auch.

    Bei einer Niederlage wurden die Fahnen halbmast gehängt und Trost im Alkohol gesucht. Es gab nicht wenige, die ein paar Tage lang schwarze Trauerkleidung trugen. Bei einem Sieg wurde exzessiv gefeiert. Für die heimische Gastronomie war der umsatzstärkste Tag im Jahr nicht das jährliche Erntedankfest, sondern das Derby gegen Rinteln. Für die umliegenden Krankenhäuser galt Alarmbereitschaft. Hinter vorgehaltener Hand behaupteten bösartige Zungen, dass es selbst auf dem Oktoberfest in München weniger Schnapsleichen zu behandeln gab. Als das »Schaumburger Nachrichtenblatt« als die größte regionale Zeitung eine Niederlage gegen Rinteln als verdient bezeichnete, kündigten hunderte Abonnenten in Engern ihrer Zeitung, was sich wirtschaftlich so empfindlich auswirkte, dass die Zeitung schließlich ihren verantwortlichen Redakteur vor die Tür setzte und man sich in Engern mit einer ganzseitigen Anzeige entschuldigte.

    Die erste Mannschaft hatte es bis in die Bezirksliga geschafft, und man war stolz darauf, dass fast nur Einheimische in der Mannschaft spielten. Immer wieder gab es Versuche von größeren Vereinen, Spieler aus Engern abzuwerben. Dabei wurden nicht unwesentliche Summen gehandelt. Aber es war aussichtslos, denn kaum ein Verein konnte bessere Bedingungen bieten. Die reichsten Bauern des Dorfes sponserten den Verein. Den Spielern fehlte es an nichts.

    Für einige wenige Spieler wurde der SV-Engern zum Sprungbrett. Die meisten Jugendlichen wuchsen arm auf, viele jobbten neben der Schule, und in der Erntezeit leisteten sie für ein paar Mark Knochenarbeit auf den Feldern. Wenn es für sie hier eine Fahrkarte heraus gab, dann war es Fußball. Ein Beispiel dafür war Ulli Koch. Er war die hiesige Berühmtheit. Auch er stammte aus einer armen Familie und war schon als Jugendspieler aufgefallen. Mit siebzehn Jahren war er nach Hannover gegangen und hatte dann fast zehn Jahre für 96 gespielt, meistens als Stürmer. 1954 wurde er mit Hannover 96 Deutscher Meister und beendete seine Karriere. Heute besaß er ein gutgehendes Restaurant in der Innenstadt von Hannover und war in Engern ein bleibender Mythos geworden. Jeder Junge wollte wie Ulli werden, er war ihr Idol und wenn man in Engern »Erfolg« sagte, meinte man Ulli Koch.

    Im Süden grenzte das Dorf mit vereinzelten Höfen an der Weser. Der Großteil war hier offenes Land mit Feldern, Wiesen und Weiden. Die Weser war hier besonders breit, aber die Ufer waren seicht und sandig. Hier, unmittelbar an der Weser, lagen die Sand- und Kiesgruben. Im Laufe der Jahrzehnte waren drei große Seen entstanden. Wirtschaftlich genutzt wurde nur noch der dritte See.

    Der größte und älteste See war fast achthundert Meter lang und maß an seiner breitesten Stelle fast sechshundert Meter und war von einem dichten Wald eingerahmt. Mitten darin, ungefähr dreihundert Meter vom Ufer entfernt, lag eine schmale, felsige Insel, dicht bewachsen mit Bäumen und Büschen.

    Auf Ortsfremde musste gerade die Seenlandschaft sehr idyllisch wirken, doch die Einheimischen mieden den See. Zwar hatte das Unglück, das mit diesem See verbunden war, vor vielen Jahren stattgefunden, aber ein Dorf wie Engern hatte ein gutes Gedächtnis. Vor mehr als dreißig Jahren war hier ein Schüler ertrunken. Obwohl der See wegen seiner Untiefen und sumpfigen Stellen noch nie zum Baden freigegeben war, hielt sich doch niemand daran. So auch am 24. Juli 1927. Mehrere Kinder spielten und schwammen im See, als sie sahen, wie der Sohn vom Fleischer nur hundert Meter vom Ufer entfernt plötzlich aufschrie und wie ein Stein versank. Mit Booten und Stangen suchte man drei Tage vergeblich nach seiner Leiche. Der Boden des Sees war tief und schlammig und voller Wasserpflanzen. Die Leiche war im Schlamm verschwunden, einfach verschluckt und sollte nie wieder auftauchen. Seitdem wurde der See gemieden und ängstliche Eltern versuchten ihre Kinder von dort fernzuhalten. Um die Kinder nachhaltig abzuschrecken, wurde die Geschichte ausgeschmückt. Sie erzählten, dass irgendwas Grauenvolles im See schlummerte und einer der Angler schließlich doch die Leiche gefunden hatte. Sein Körper war halb verwest gewesen und wie ein Ballon aufgedunsen. Die Fische hatten seine Augen aufgefressen. Sein Gesicht war vom Entsetzen verzerrt, als wäre er nicht nur ertrunken, sondern vor Angst gestorben. Der Teufel hatte ihn geholt und lauerte jetzt auf sein nächstes Opfer. Kein Kind wagte sich mehr an den See, geschweige denn in das Wasser. Irgendwann glaubten die Erwachsenen schließlich selbst an diese Geschichte. Erst in den fünfziger Jahren wagten sich die ersten Angler wieder an den See.

    Die zwischen Ortschaft und den Seen gelegenen Felder wurden wegen ihrer geographischen Lage auch »Südfeld« genannt. Durch die alljährlichen Überschwemmungen der Weser waren die Niederungen nur teilweise bebaubar und wurden daher zum größten Teil als Viehweiden benutzt. Überall waren Entwässerungskanäle und tiefe Gräben, um das Land so lange wie möglich vor Überflutungen zu schützen. Aber spätestens zur Schneeschmelze konnten sie nicht mehr verhindern, dass die Felder überschwemmt wurden. Nicht selten ließ ein plötzlicher Kälteeinbruch das flachstehende Wasser zu Eis gefrieren und verwandelte alles kilometerweit in eine einzige Eiswüste.

    Engern war ein idyllisches Örtchen.

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