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Koblanks
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eBook251 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Das Tempelhofer Feld in Berlin an einem herbstlichen Sonntagnachmittag Ende der 1870er Jahre. Väter gehen mit ihren Söhnen zum Drachensteigenlassen an die Natur und im Ausschank der Brauerei Tivoli ist mächtig was los. Dort arbeitet auch Mamsell Röschen und wird, wie üblich, von ihrem Fast-Verlobten Ferdinand Koblank, genannt Nante, aufgesucht. Heute hat sie ihm aber eine traurige Mitteilung zu machen: Ihr Vater hat sich entschieden gegen eine Verlobung mit dem als Schürzenjäger geltenden jungen Mann ausgesprochen. Ferdinand nimmt es einigermaßen unbekümmert, und Rösschen ist überzeugt, dass er ihr dennoch treu bleiben wird. Daher widersteht sie auch allen Annäherungsversuchen von Anton Timpe und legt es ihm als perfide Strategie aus, als er ihr versichert, Ferdinand stehe kurz vor der Verlobung mit Auguste, der Tochter des reichen Zibulke. Ihr bricht es schier das Herz, als im Hause Zibulke nun tatsächlich bald die Hochzeitsglocken läuten und Nante mit seinem Gustchen im Haus in der Bülowstraße einzieht. Während Anton weiterhin erfolglos um Röschen wirbt, werden im Hause Koblank zwei Kinder geboren: Zuerst der kleine Theo, dann das zarte, winzige Mädchen Elli, deren Geburt leider zugleich ihrer ebenfalls sehr zarten Mutter das Leben kostet – woraufhin Ferdinand von seiner verzweifelten Schwiegermutter des Mordes an ihrer Tochter bezichtigt wird. Während er sich nun zunehmend von den Zibulkes entfremdet, erinnert sich Nante, der nun verwitwete Vater zweier kleiner Kinder, wieder an seine Jugendliebe, das Röschen, und sucht erneut den Kontakt zu ihr. Und die so schmählich Sitzengelassene hat ihn ja insgeheim nie aufgehört zu lieben ... Werden Theo und Elli bald eine liebende Stiefmutter haben? Erdmann Graesers großer Berliner Familienroman, voller herzhaft realistischem Humor, tief humanistischer, einfühlsamer Liebe und mit reichlich Berliner Kodderschnauze erzählt, wurde nach seinem Ersterscheinen 1921 bis in die achtziger Jahre hinein immer wieder aufgelegt und ist nun zum ersten Mal auch als E-Book erschienen.Erdmann Graeser (1870–1937) war ein deutscher Schriftsteller. Als Sohn eines Geheimen Kanzleirats im Finanzministerium in Berlin geboren, ist Graeser zwischen Nollendorfplatz und Bülowbogen im Berliner Westen aufgewachsen. Graeser studierte Naturwissenschaften, brach jedoch das Studium ab und arbeitete zunächst als Redakteur für die "Berliner Morgenpost" und später als freier Schriftsteller. Er wohnte viele Jahre in Berlin-Schöneberg und zog nach seinem literarischen Erfolg nach Berlin-Schlachtensee im Bezirk Zehlendorf. 1937 starb er an einem Herzleiden. Sein Grab liegt auf dem Gemeindefriedhof an der Onkel-Tom-Straße in Zehlendorf. In seinen Unterhaltungsromanen thematisierte Graeser die Lebenswelt der kleinen Leute im Berlin seiner Zeit und legte dabei auch großen Wert auf den Berliner Dialekt. Zu seinen bekanntesten Romanen gehören "Lemkes sel. Witwe", "Koblanks", "Koblanks Kinder" und "Spreelore". Einige seiner Romane wurden später auch für Hörfunk und Fernsehen bearbeitet.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum5. Juni 2016
ISBN9788711592465
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    Buchvorschau

    Koblanks - Erdmann Graeser

    www.egmont.com

    1

    Der Sommer war überreif, der Herbst, an den noch niemand so recht glauben wollte, kam. Wem es nicht die Anzeichen der Natur verrieten – die seltsam klare Luft, die feinen blauen Dunstschleier abends und morgens in den Baumwipfeln –, dem kündete es ein anderes untrügliches Zeichen: die Berliner Jungen zogen zum Drachenfest aufs Tempelhofer Feld hinaus.

    Aber nicht mehr allein, die Angehörigen kamen mit, denn die Väter – wieder jung – waren ebenfalls vom Drachenfieber erfaßt worden. Schon von weitem, ehe das freie Gelände da draußen vor dem Halleschen Tor-Bezirk erreicht war, sah man bereits die Drachen unter dem blauen Himmel flimmern – in allen Farben, einen immer höher als den anderen. Überall auf dem ausgedörrten Grase Menschen – die meisten hatten es sich bequem gemacht, lagen auf dem Rücken, blinzelten nach den Drachen, verfolgten jede Bewegung und lachten schadenfroh hinter denen her, die sich in eiligem Lauf vergeblich abquälten, ihren Drachen zum Aufstieg zu bringen.

    Wie das Mauerwerk einer Festung ragten die starken Wände der Brauerei Tivoli aus der Ebene. Von dort klangen heute, am Sonntagnachmittag, die Töne der Kapelle, und in den Konzertgarten zog alles, was den Groschen Eintrittsgeld bezahlen konnte und sich nun bei Bier und Gänsebraten oder Jauerschen Würsten mit Meerrettich von der Mühsal einer langen Arbeitswoche erholen wollte.

    »Büblein wirst du ein Rekrut,

    Merk dir dieses Sprüchlein gut ...«,

    tönte es schmetternd. Die Kellner balancierten auf hochgehobenen Händen große Servierbretter, besetzt mit schäumenden Bierseideln, alte, verhutzelte Frauen bahnten sich mühsam durch das Gewühl einen Weg und verkauften, von Tisch zu Tisch humpelnd, Salzbrezeln zum Anreizen des Durstes für die Erwachsenen oder runde, steinharte Pfefferkuchen für die Kinder; zuweilen kam auch ein Händler, an Bindfäden in der Luft hinter sich herziehend ein Gewirr roter, grüner oder blauer Ballons, die den Jüngsten von manchen Vätern gern als Notbehelf für einen Drachen gekauft wurden.

    Die Luft war durchbraust vom Rufen, Schreien und Sprechen Tausender von Menschen – ein Berliner Sonntagnachmittag Ende der siebziger Jahre.


    Ununterbrochen eilten die Kellner nach dem Bierausschank oder dem Büfett, wo unter Leitung von Mamsell Röschen Schmidt die Portionen Gänsebraten mit Gurkensalat, die Wiener Schnitzel oder Kalbsnierenbraten aufgestellt und an die Kellner abgegeben wurden.

    An solchen Tagen war Mamsell Röschen die Munterkeit selbst und konnte wie ein Kapitän im Sturmgebraus kommandieren – immer freundlich und bereit, jeden Augenblick selbst mit Hand anzulegen. Heute aber mußte ihr was verquer gegangen sein, denn in ihrem hübschen frischen Gesicht war ein recht trübseliger Zug, der allen auffiel, die mit ihr sprachen.

    Man konnte ja den Anlaß leicht erraten: Der »schöne Ferdinand« hatte es in der letzten Zeit wieder einmal zu arg getrieben. Die Küchenmägde erzählten die tollsten Geschichten von ihm, dem Schürzenjäger. Wenn er, auf dem Kutschbock sitzend, mit dem Brauerwagen über das Tempelhofer Feld jagte, brauchte er nur mit der Peitsche zu winken oder mit der Zunge zu schnalzen, und jedes Mädel, das er da unterwegs traf, war sofort bereit, ein Stück mit ihm zu fahren. Na, und dann ...

    Und das, trotzdem sie doch alle wußten, daß er mit der Mamsell so gut wie verlobt war!

    Plötzlich zuckte Röschen zusammen – über den freien Vorplatz, der das Wirtschaftsgebäude vom Konzertgarten trennte, kam Ferdinand Koblank, der seinen freien Tag hatte. Auch sonntags ging er stets in dem weißen Drillichanzug, die Hosen steckten in hohen, blankgeputzten Schaftstiefeln, die Mütze saß schräg auf dem braunen Kraushaar, und im Knopfloch glühte eine rote Nelke. Der Mann strotzte von Kraft und Gesundheit – es war schon richtig: mit dem wagte keiner anzufangen, selbst wenn er ihm das Mädel vor der Nase wegnahm.

    In der Nähe des Küchenfensters blieb er stehen, griff nach einem der klobigen Schwefelholzbehälter, die dort auf dem runden eisernen Tischchen standen, strich aber das Hölzchen an der Kehrseite seiner Hose an und brannte dann, nachdem sich der Schwefeldunst verzogen, eine Zigarre an. Während der ganzen Zeit schielte er zu Röschen hinüber.

    Endlich sah sie zu ihm hin und nickte unmerklich. Da setzte er gelassen seinen Weg weiter fort, trat durch eine kleine eiserne Hinterpforte auf die Straße hinaus und ließ sich wartend in einer Sandgrube dicht neben der Steinmauer nieder.

    Hier war es merkwürdig still und einsam. Das Brausen und der Lärm der Blechmusik aus dem Biergarten war kaum zu hören. Die Menschen, die das Feld belebten, kamen mit ihren Drachen nicht her, nur ein paar armselige Existenzen, die sich in ihrer Zerlumptheit abgesondert hatten, lagen da und dort in dem dürren stacheligen Bocksbartgrase, die verbeulten Hüte auf den Gesichtern, und verschliefen die Zeit. Pennbrüder! dachte Ferdinand verächtlich. Vor ihm blühten ein paar Stauden wilder Zichorie, blau wie Kornblumen, Kohlweißlinge flatterten träge vorüber, und ein Goldkäfer irrte verzweifelt durch die unendliche Sandwüste zu Füßen des Wartenden. In der Luft war ein süßlicher Malzduft, vermischt mit dem Geruch der frischgepichten riesigen Biertonnen, die hinter der Mauer zum Trocknen in der Sonne standen.

    Da klappte die kleine Eisentür – Röschen kam. Ferdinand stand auf und ging ihr entgegen. Sie gaben sich die Hände, aber Röschen sah fort. Ihre blauen Augen wurden plötzlich naß – sie fuhr mit dem Zipfel der weißen Latzschürze darüber und sagte: »Ick komme dir bloß rasch Bescheid sagen, Nante! Vater will’s nich zujeben!«

    Das rote, frische Gesicht des Bierfahrers blieb unverändert, nur die weißen starken Zähne faßten den Zigarrenstummel fester. »Will also nich – Ri-Ra-Rösiken?«

    Nun weinte sie bitterlich, achtete nicht mehr darauf, daß die frischgewaschene Schürze beim Abtrocknen der Tränen zerknittert wurde.

    »Ick konnt’ mir’s ja denken«, sagte Ferdinand. »Ick hab’ nischt – ebensowenig wie dein Oller hatte, als er dunnemals anfing. Und wenn er nu det Haus in die Möckernstraße hat und den Jroßkotz ’rausbeißt, versteh’ ick ja, det er für seine Tochter eenen anderen Schwiegersohn haben will. Na – denn weene man nich, Ri-Ra-Rösiken, laß dir eenen aussuchen und werde jlicklich mit ihm!«

    »Nante – kann ick wat for?« schluchzte sie. »Vater hat sich nach dir erkundigt und jehört, wie du es treibst ...«

    Ferdinand Koblank verteidigte sich gar nicht. »Na denn also – Fräulein Röschen – war es woll heute das letztemal, wo Sie mir ...«

    Sie hob erschrocken den Kopf, als er sie wieder mit Sie anredete, und starrte ihn an.

    Er hielt ihr die Hand hin, aber sie ergriff sie nicht, sondern schlug plötzlich laut aufweinend die Hände vors Gesicht, wandte sich um und ging rasch davon. Gleich darauf schnappte die kleine Eisentür ins Schloß, der Schlüssel wurde umgedreht und abgezogen.

    Die Dämmerung kam, die Familien, die auf der Ebene im Sonnenschein gelagert, rüsteten zum Aufbruch. Überall wurden die Drachen aus der Luft geholt und stürzten dann zuletzt, die Spitze nach unten, rauschend und krachend zur Erde. Eine Völkerwanderung nach der im grauen Dunst liegenden Stadt begann – das Feld wurde allmählich einsam.

    Auch Ferdinand war, ganz in Gedanken versunken, der Stadt zugeschritten, schließlich ans Hallesche Tor gekommen, überlegte nun einen Augenblick und ging dann am Kanal entlang weiter.

    Ick werde Vatern ’mal wieder uffsuchen, dachte er. Der alte Koblank, der seinen Posten als Güterinspektor bei der Potsdamer Bahn kürzlich aufgegeben hatte, lebte jetzt als Witwer einsam hoch oben unter dem Dach eines der ersten Häuser in der Flottwellstraße. Da hatte er einen weiten Überblick über die Bahngleise, sah abends die bunten Signallaternen aufflammen, hörte den Pfiff der Lokomotiven und philosophierte bei seiner Pfeife Rosenblättertabak über Welt und Menschen still vor sich hin. Denn er war ein sinnierlicher Herr.

    »Nanu?« fragte er verwundert, als er die Tür geöffnet und den Sohn erkannt hatte. »Nanu, was treibt dich denn her?« Er ließ ihn in die Stube vorangehen und wies auf einen Stuhl am Fenster.

    Ferdinand faßte in die Brusttasche und hielt ihm ein paar Zigarren hin. Der Alte schüttelte den Kopf. »Behalt man«, sagte er, »ich rauch’ am liebsten meine Piepe, die Dinger haben ja keine Luft!«

    »Aber du hast ja man bloß noch Pollack drinne!«

    Ja, die Pfeife war ausgebrannt, gab nur noch Schmirgeltöne von sich. Der Alte zog ein paarmal kräftig, ohne gleich zu antworten. Er ärgerte sich stets, wenn sein Sohn »berlinerte«, denn von Jugend auf hatte er darauf gehalten, daß Ferdinand »ordentlich« spräche – obwohl er, der Alte, sich in der Erregung ebenfalls gehenließ. Aber er war der Sohn eines prinzlichen Leibkutschers, hatte gute Umgangsformen gelernt und hätte es gern gesehen, wenn der Junge einen Beruf ergriffen, der ihn in die Höhe gebracht. »Wenn du bloß beim Militär geblieben wärst, den Zivilversorgungsschein bekommen hättest«, sagte er seufzend.

    »Na ja – Vater – ick weeß ja!«

    Der Alte hatte nun doch eine Zigarre genommen und sie in der Hand zerbröckelt, während er den Sohn forschend betrachtete. »Wie geht’s dir denn eigentlich?«

    »Jott – ick lebe meinen juten Tag! Mir kann keener – ick brauch’ mir nich anranzen zu lassen und strammzustehen – mache, wat ick will!«

    »Und was machste dann später–als alter Mann, ohne Pension?«

    »Ick pfeif’ uff die paar Jroschen!«

    »Ja – jetzt – aber nachher!«

    »Denn werd’ ick Totenjräber!«

    Der Alte sah ihn mit einem Blick an, in dem die ganze Verdrossenheit lag, die er seit Jahren gegen den widerspenstigen Sohn aufgespeichert hatte – aber er schwieg. Wozu sich den schönen Sonntagabend verderben! Als er dann aber Ferdinand so weltverloren in den Abendhimmel starren sah, durchfuhr ihn plötzlich ein Schreck. »Na, sprich doch, dir is doch was, Nante, haste was ausgefressen, dann sag’s doch!«

    »Nee – Vater, mach dir keene Sorge!«

    »Denn das würdest du mir doch auch nicht antun?« fragte der Alte, noch immer mißtrauisch.

    »Ick mach’ dir keene Schande – also keene Bange – so eener bin ick nu doch nich.«

    »Janz richtig kommt mir die Kiste aber nicht vor!«

    Ferdinand lachte. »Ick war nur herjekommen, um zu sehen, wie es dir jeht, Vater, nu will ick aber wieder türmen – adje!« Er reichte dem Alten die Hand.

    »Adjes, Nante! Du solltest dir ’ne tüchtige Frau nehmen, die tut dir not.«

    »Det werde ick ooch – du jlaubst ja nich, wie rasch det jehen kann.«

    Er nickte noch einmal zum Abschied und ging davon.

    2

    Graue Dunstschleier lagerten in der Frühe des nächsten Tages über dem Feld, schwanden aber schnell, als die Sonne höher stieg. Es wurde wieder ein herrlicher Spätsommertag, so wie gestern.

    Im Zuckeltrab fuhr Ferdinand auf der Landstraße nach Berlin. Heute war die weite Ebene leer, nur eine Schafherde mit ihrem Hirten in einiger Entfernung zu sehen, und zuweilen klang aus der Gegend der Hasenheide ein Trompetensignal – dort übten Soldaten. Dann und wann ein Lokomotivenpfiff oder das heisere Krächzen einer Krähenschar, die das Peitschenknallen und das Räderrollen des herannahenden Wagens aufgescheucht hatte.

    Überall, wohin heute der schöne Ferdinand kam, wunderte man sich, wie eilig er es hatte. Wenn er sonst die Bierfässer in die Gastwirtschaften rollte oder die Achtel- und Vierteltonnen in die Haushaltungen trug, war es immer mit großem Hallo geschehen, und die Dienstmädchen waren nachher noch stundenlang in heller Aufregung gewesen. Heute kniff er sie ja auch in die Backen und bloßen Arme, drückte wohl die eine oder andere an die Lederschürze – aber man merkte, er tat es nur aus Gefälligkeit, ohne selbst ein Vergnügen dabei zu haben.

    Nun lenkte er den Wagen um den Belle-Alliance-Platz in die Lindenstraße und hielt vor dem Hause des Töpfermeisters Zibulke. Dieses Haus stammte noch aus der ersten Bebauung der Straße, war zweistöckig mit ehemals rotem, jetzt schwarz gewordenem Ziegeldach, machte aber in seiner schmucklosen Einfachheit einen wohltuenden, gediegenen Eindruck.

    Der »olle Zibulke«, wie immer in merkwürdig großkarierten Hosen, stand vor der Haustür und überwachte den Mops seiner angejahrten, etwas verwachsenen Tochter.

    »Schon wieder een Achtel?« fragte er verdrießlich, als Ferdinand, das Fäßchen auf der Schulter, mit kaum merkbarem Gruß an ihm vorbeiging.

    »Wenn Se nich wollen?« Ferdinand machte kurzerhand kehrt. »Fräulein Aujuste hat bestellt – alle vierzehn Tage soll ick kommen!«

    »Wenn meine Tochter det so bestimmt, is’s ooch richtig – also man ’ruff damit!«

    Herr Zibulke sah ihm mit kritischen Blicken nach, wie er die weißgescheuerten Treppen nach dem ersten Stock hinaufstieg, wandte sich dann aber wieder der Betrachtung des Mopses zu, der auf dem Rinnsteinbrett vor der Tür stand.

    »Wat jlotzte, Mufti? Du fängst im Leben keene Ratte nich! Und wat sollsten ooch mit ’ne Ratte, wo du dein’ Futternapp nich mal leerfrißt!«

    Ein Drehorgelspieler kam, von einer Kinderschar gefolgt, in diesem Augenblick aus einem Nachbarhause und wollte an Herrn Zibulke vorbei in den Flur.

    »Raus – hier wird nicht jedudelt!« sagte der Alte.

    Der Drehorgelspieler zog ergeben weiter, die Kinder aber begannen Herrn Zibulke aus sicherer Entfernung zu beschimpfen:

    »Olle Töpperschürze! Jeizkragen!«

    Er tat, als hörte er nichts. Da begann die Rotte zu singen:

    »Aujuste Zibulke kriejt keenen Mann,

    Drum schafft sie beizeiten ’nen Mops sich an,

    Da freut sich der Olle und is vajniejt,

    Weil er so billig ’nen Schwiegersohn kriejt!«

    Herr Zibulke machte unwillkürlich eine Bewegung, als wolle er seine Holzpantinen abziehen und in die Schar schleudern. Doch er überlegte es sich. Schon einmal war ihm auf diese Weise ein Pantoffel abhanden gekommen, weil er nicht getroffen und einer der Jungen das Ding aufgehoben hatte und damit geflüchtet war. So hielt er es für das beste, dem Hunde zu pfeifen und in die Wohnung zu gehen.

    Herr Zibulke hatte, weil sie zu viel Lärm machten, die neuen schweren Pantinen auf der Treppe ausgezogen und war in Strümpfen hinaufgegangen. Als er jetzt die nur angelehnte Korridortür aufmachte, sah er, wie Liese, das Dienstmädchen, erschrocken von der Küchentür zurückprallte.

    »Nanu, du kiekst woll durchs Schlüsselloch, wat jibt’s denn da drinne so Scheenet – wat?«

    »Fräulein Juste hat mir ’rausjeschickt, als der scheene Ferdinand kam!«

    »Na – laß doch die beeden, da sollste eben nich bei sind. Wart, ick werd’ dir! Wirste jetz jleich den Mülleimer ’runtertragen!«

    Und als das Mädchen verschwunden war, klinkte Herr Zibulke die Tür auf und trat in die Küche.

    Fräulein Auguste hatte einen Taler in der Hand, den sie jetzt, als sie ihren Vater erblickte, in die Schürzentasche zu stecken suchte. Sie war aber zu aufgeregt, das Geldstück entfiel ihr, rollte durch die Küche, gerade auf Ferdinand zu. Er trat mit dem Fuß darauf, hob es aber nicht auf.

    Herr Zibulke bückte sich schnell und nahm den Taler. »Na – det dauert ja heite hier so lange? Wa’m jeht ihr denn nich in die gute Stube, wenn ihr euch so wat Wichtiges zu sagen habt, det Liese ans Schlüsselloch horcht!«

    Ferdinand sah ihn pfiffig an: »Wir hatten janischt Wichtiges. Fräulein Aujuste wollte mir nur ’nen Taler Trinkjeld jeben – ick mach’ mir aber nischt aus ’n Taler Trinkjeld!«

    »Sondern?« sagte Herr Zibulke. Und als Ferdinand nur die Achseln zuckte, setzte er hinzu: »Aber aus tausend – wat?« Ferdinand lachte laut auf. »Und wenn Sie fufzigtausend sagen, wird’s mir noch nich heiß!«

    »Aber bei hunderttausend, wat?«

    »Det käme druff an!«

    »So? Ja – da werden die jungen Männer schwach! Kenn’ ick, weeß ick! Da bekommen se jleich Jefühle! Sagen Se mal, wie is denn, woll’n Se nich nächsten Donnerstag ’ne scheene Landpartie mitmachen – per Kremser, wat?«

    Ferdinand hatte nicht nein, aber auch nicht ja gesagt, nur nach Fräulein Auguste geblickt – ein Blick, der sie von oben bis unten erfaßte, unter dem sie sich förmlich wand.

    Nun war er auf der Rückfahrt. An einem der Chausseebäume auf dem Tempelhofer Feld saß eine merkwürdige Gestalt, ein noch junger Mensch, bekleidet mit Manchesterhosen, schwarzem Rock und großem Schlapphut. Um den Hals hatte er ein rotes Tuch geschlungen, in der Hand hielt er eine Schnapsflasche. Er saß da und sang:

    »Kommen Se ’rin, kommen Se ’rin, kommen Se ’rin,

    Kommen Se ’rin in die jute Stube ...«

    Ferdinand hielt den Wagen an: »Timpe – Anton Timpe, du hast woll blauen Montag jemacht?«

    Der Mensch erhob sich schwerfällig, starrte den Bierfahrer ein Weilchen an und sagte: »Ick kenne dir – du bist der scheene Ferdinand! Mein Name is Anton Timpe. Steinmetz Anton Timpe – ein Künstlerer aus die Möckernstraße – Jrabkreuze – Todesengel – jeborstene Säulen.«

    »Jawoll – det weeß ick! Und wenn du deine Kusine siehst – Röschen Schmidt –, denn sage ihr man: Der scheene Ferdinand hat ’ne andere.«

    Aber der »Künstlerer« Anton Timpe betrachtete diese Mitteilung nur als Aufforderung zum Singen. Er nahm noch einen kräftigen Schluck aus der Flasche und hob dann mit lauter Stimme an:

    »Herr Schmidt, Herr Schmidt –

    Wat bringt det Rösken mit?

    ’n Schleier und ’n Federhut –

    Der steht dem Rösken jar zu jut ...«

    Und schwankend setzte er sich in Bewegung und torkelte über das von der Sonne durchglühte Feld. Ferdinand schnalzte mit der Zunge und zog die Zügel an. Die beiden wohlgenährten Braunen setzten sich, schon längst ungeduldig durch die umschwärmenden Bremsen, sofort in Gang, und als sich Ferdinand dann noch einmal umsah, war Anton Timpe mit seiner Schnapsflasche am Horizont verschwunden.

    Am Abend aber kletterte Ferdinand durch den lockeren, weißen Sand zum Kreuzberg hinauf und ließ sich neben dem Denkmal des Freiheitshelden nieder. Weltabgeschieden und einsam saß er da und starrte auf das bunte Durcheinander der Dächer.

    Ein letzter Sonnenglanz lag über der großen Stadt, aus allen Schornsteinen kringelte blauer oder grauer Rauch. In weiter Ferne leuchtete die goldene Gestalt auf der Siegessäule, Ferdinand erkannte auch die grüne Kuppel des Schlosses, den Turm der Jerusalemer Kirche, in der er eingesegnet worden war – und plötzlich legte er den Kopf an das eiserne Gitter, schluckte und würgte, wischte sich mit dem Handrücken die naßgewordenen Augen und sagte halblaut: »Ja, ja – Ri-Ra-Rösiken – alles is futsch.« Als er sich wieder aufrichtete, war die Dämmerung völlig hereingebrochen, Berlin lag in schweren, grauen Dunstschleiern, nur das fahle Grün der Bäume aus den Gärten am Fuße des Berges schimmerte noch deutlich erkennbar herauf.

    Ferdinands Gesicht hatte alle Weichheit verloren. Er erinnerte sich, wie Mamsell Röschen fortgeblickt, als er am Nachmittag am Küchenfenster vorbeigegangen war.

    »Zu arm bin ick ihr – na, denn

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