Flugrost
Von Stefan T. Gruner
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Über dieses E-Book
In der ersten Erzählung liegt der Schwerpunkt auf einem Gefängnisalltag, den ein als "gemütskalt" eingestufter Jugendlicher nur noch durch komödiantisches Verhalten meistert, bis er bei einer Beruhigungsaktion umkommt.
In der zweiten Erzählung geht es vor allem um das Problem der Täuschung, die Betreuer, Sozialarbeiter und Therapeuten bei einigen scheinbar änderungswilligen Gefangenen erleben, bis die Maske fällt. Schock und Enttäuschung bei den "Gelinkten" ist oft dramatisch; der Glaube an Resozialisierung darf darüber nicht verloren gehen.
Stefan T. Gruner
Stefan T. Gruner, geboren in Leipzig, Kindheit in München, Jugend in Bonn. Hotelangestellter und Sprachlehrer in Madrid. Hauptschullehrer in Versmold. Psychologie Abschluss an der Uni Bielefeld. Zusätzliche Ausbildung zum Gesprächstherapeut. Interner Trainer und Schulungsleiter in Pharma-Unternehmen. Anschließend freier Trainer mit Schwerpunkt Teamtraining, Konfliktlösung, Mediation. Verheiratet in Bielefeld, eine Tochter.
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Buchvorschau
Flugrost - Stefan T. Gruner
Wie der gute Bürger sein Edelstahlgeländer
am Balkon oder seine Chromleiste
am Auto auch putzen und polieren mag,
der Flugrost befällt seine Glanzstücke,
denn der Flugrost kommt
mit der gleichen Luft,
die er atmet.
„Wir unterscheiden zwischen Gesellschaften, die Menschenfleisch essen, also in der Einverleibung gefährlicher Individuen das einzige Mittel sehen, deren furchtbare Kräfte zu bannen oder gar zu nutzen, und jenen anderen - wie der unsrigen - die man als Menschen erbrechende bezeichnen könnte."
Claude Lévi-Strauss
Bericht über einen vierzehneinhalbjährigen
gemütskalten Mörder
Die entscheidende Wandlung kommt beim Umtausch an der Kleiderausgabe im Keller unter den Verwaltungsräumen. Es gleicht einer Häutung. Hinter einem speckigen Tisch stehen rollbare Ständer für die Kleidersäcke, an den Wänden Regale für Schuhe und Kleinkram. Wilhelm leert seine Taschen. Er betritt einen hüfthohen Holzkasten, seine Sachen werden in einem Kleidersack verstaut, der von zwei Häftlingen verplombt wird und nur im Beisein des Besitzers wieder entplombt werden darf. Den Inhalt bestätigt er in einem Registerbuch.
Wilhelm beobachtet den Umkleider vor ihm: Der Junge steht in dem Holzverschlag wie ein Stier vor der Kastration. Noch hat er seinen Humor nicht verloren: „Brauch keine Unterhemden, hab ein dickes Fell." Er hat seine Halskette, seinen Totenkopfring abgegeben, zieht seine Bomberjacke aus, zieht sein Kunstseidenhemd aus, reicht seine handgenähten Stiefeletten über den Verschlag, zieht seine Jeans, seine Boxershorts aus. Einer der zur Kleiderausgabe eingeteilten Häftlinge übergibt ihm seine neue Garnitur:
1 Paar schwarze Halbschuhe
3 graue Unterhosen
3 graue Unterhemden
3 graue Polohemden, langärmelig
2 Paar Socken
2 Paar Turnschuhe für drinnen und draußen
1 Paar Pantoffeln
1 Arbeitsanzug, blaue Bundhose und blaue Jacke
1 Latzhose - „blauer Anton" - plus Hosenträger
1 Rundbundhose
1 schmaler Ledergürtel
1 Freizeitanzug graublau
1 Freizeithemd, beige, ansonsten wie Normalhemd
1 Paar Freizeitschuhe, schwarz, dünnere Sohlen
2 Laken
2 Decken
2 braune Frotteehandtücher
Für den Winter:
3 lange Unterhosen und Unterhemden auf Wunsch
1 Pullover, grau, V-Ausschnitt
1 Parka mit abnehmbarem Futter
Plötzlich ist dieses Gefühl da! Eben noch höhnisch obenauf, knickt der Straßenheld ein, seine Schultern sacken zusammen, er verliert seine Gesichtsfarbe, er verliert seine normale Stimme. Er fiepst kleinlaut und erschrickt vor sich selbst. Verstummt. Steigt in die graue Anstalts-Unterhose. Muss sich ein Unterhemd aus dem gleichen Stoff überziehen. Wagt nicht mehr, gegen die ihm anschließend zugeteilte Hose zu protestieren, die um seine Beine schlottert und am Arsch Falten wirft. Außerdem hat er das Pech, eine der älteren gestreiften Hemden zu erwischen, die als „Flattermänner verschrien sind. Seine Jacke zeigt schlecht gestopfte Löcher am Schulterblatt. Schließlich steckt er seine Füße in schwarze „Kindersärge
, die im gefängniseigenen Betrieb hergestellt sind: zeitlose Modelle von erschütternder Hässlichkeit.
Er kommt aus dem Verschlag, tritt in dem Körper verspottenden Aufzug vor die Augen des Personals, wirkt gestaucht, entzaubert, kümmerlich. Jetzt erst spürt er, was keinem Richter gelang: Sie haben ihn am Boden! Er ist gefickt, ist fertig, jetzt erst, aus seiner Rüstung geschält, saust er durch die Falltür der Justiz in die eigentliche Strafzone. Entmachtet. Wo er noch vor wenigen Minuten mit geschwollenem Kamm hereingockelte, steht er nun als graue Null da und begreift nicht, weshalb ihm die Knie versagen.
Betäubt greift er das Deckenpaket, in dem seine Wechselwäsche verschnürt ist, schlurft ab und ist froh, dass ihn keiner anspricht, weil er sich in dem Moment nicht einmal sicher sein kann, ob ihn ein Heulkrampf übermannt, den er sich nie verzeihen wird.
Was man sich vornimmt, wenn man einfährt, spielt keine Rolle. Du kennst dich erst, wenn's passiert. Den cholerischen Peter überrascht seine Gelassenheit, die an Gefühlstaubheit entlangschrammt, wogegen Paul, der sich für unerschütterlich hielt, plötzlich mit Panikattacken kämpft. Die meisten glauben es ihrem Selbstbild schuldig zu sein und erstmal auszurasten, sich gegen Mauern und Türen zu werfen, den Tiger im Käfig zu machen, in die Ausnüchterung geschleift zu werden und den Putz von der Wänden zu beißen... aber