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Bis die Nacht ihr Auge öffnet: Ein Hippie-Roman
Bis die Nacht ihr Auge öffnet: Ein Hippie-Roman
Bis die Nacht ihr Auge öffnet: Ein Hippie-Roman
eBook376 Seiten4 Stunden

Bis die Nacht ihr Auge öffnet: Ein Hippie-Roman

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Über dieses E-Book

In einem marokkanischen Gefängnis sitzt ein Hippie, er leidet an Halluzinationen, hat einen Verbrecherkopf und ist schon lange auf der unbändigen Suche nach intensivem Leben und einem neuen Bewusstsein. Im Schmelztiegel der Hippiebewegung erlebte Hendrik seinen Ausstieg, den Tod seines Freundes, eine gescheiterte Liebe und Verrat. Wohin haben ihn seine schrillen Träume von freier Liebe getragen? Im Gefängnis kann ihm seine Drogen-Esoterik nicht helfen. Die Leidenschaften der 68er, die Atombombe, die Versuchungen der Gewalt und die islamistische Gefährdung unter den Muslimen im Gefängnis sind die Splitter seiner gescheiterten Welt, in der er nun eine neue aufleuchten sieht. Gerd Flügels Roman ist eine poetische und brachiale Auslotung der fundamentalen Menschheitsfragen, ein moderner Faustroman.
SpracheDeutsch
HerausgeberRuhland Verlag
Erscheinungsdatum20. Sept. 2019
ISBN9783885091646
Bis die Nacht ihr Auge öffnet: Ein Hippie-Roman

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    Buchvorschau

    Bis die Nacht ihr Auge öffnet - Gerd Flügel

    GERD FLÜGEL

    Bis die Nacht ihr Auge öffnet

    Ein Hippie-Roman

    Ruhland Verlag

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich

    geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des

    Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

    Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

    Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die meisten Personen und Ereignisse im Gefängnis und

    auf den Reisen sind frei erfunden.

    Die heute gültige Rechtschreibung und Zeichensetzung wurde an manchen Stellen bewusst verändert, um z.B. Zustände des Rauschhaften zu verdeutlichen.

    Gerd Flügel

    ISBN 978-3-88509-163-9

    ISBN 978-3-88509-164-6 (epub)

    ISBN 978-3-88509-165-3 (mobi)

    Copyright © Ruhland Verlag, Bad Soden 2018

    Gerd Flügel, Bis die Nacht ihr Auge öffnet

    Lektorat: Gerhard Lentzen, BGP

    Umschlagbild: © agsandrew / istockphoto LP

    Alle Rechte vorbehalten.

    Printed in EU with love by MCP, Polen

    www.ruhland-verlag.de

    Meiner Frau und meinen alten Freunden gewidmet.

    Teil I

    Von der Badewanne …

    Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden,

    Als Eure Schulweisheit sich träumt…

    Hamlet zu Horatio,

    in: Shakespeare, Hamlet I,5

    Kapitel 1

    Die Zelle

    Ich wache in der Nacht auf und glaube, noch halb im Schlaf, das Geräusch der Wellen, das Atmen der Wasser zu hören.

    Albert Camus: Das Meer,

    in: Albert Camus, Heimkehr nach Tipasa, 1954

    Zum Glück habe ich einen Helfer gefunden. Es ist erträglicher geworden in der Zelle, seit Hamid da ist. Und am Morgen ist auch dieses sehnsüchtige Etwas wieder da, das rüttelt, zieht und aufsteigen lässt, durch die Gitterfenster in den blauen Himmel hinein. Die Albträume sind weniger geworden, nur ab und zu spielt das Unterbewusstsein noch verrückt.

    Trotzdem dauert es noch lange, bis das Ich sich gefunden hat, besonders heute. Eine Erkältung hängt in den Gliedern, ein Frösteln am ganzen Körper, der Kopf fiebrig.

    Aber halten wir uns an das Objektive: Ich, Heinz alias Hendrik, liege in einem marokkanischen Knast, unweit des Atlantischen Ozeans, dessen Rauschen man in stillen Stunden hören kann. Das Urteil: drei Jahre, drei Jahre für das Handeln mit Haschisch, drei Jahre - eine unvorstellbar lange Zeit!

    Aber schon kann ich es hören, ein Mitgefangener, der mir ins Ohr schreit: Qu’est-ce que tu as? Trois années, c’est rien, c’est vraiment rien!¹ Einer, der zehn Jahre hier abzusitzen hat.

    Und schon sehe ich auch wieder Ali neben seinem Motorrad vor mir liegen, nach der Verfolgungsjagd, die Augen aufgerissen, starr –

    Die alte Wut kocht wieder hoch: Die Polizei muss einen Tipp bekommen haben, wir müssen verraten worden sein! Und du, Judy, du weißt wahrscheinlich nichts von alledem, bist im fernen Amerika und hast bis heute keine Nachricht in mein Gefängnis geschickt.

    Die Wärter haben zugeschlossen. Das Rasseln der Schlüssel und das Aneinanderschlagen der Blechnäpfe ist verhallt in dem langen Korridor vor den Zellen.

    Ich liege auf meinem Platz. Er befindet sich an elfter Stelle, von der Zellentür aus nach links gezählt, dem dritten Fenster gegenüber, mit Gitterblick auf den Morgenhimmel. Ich liege am Boden, auf einer ekelhaft kratzigen, braunen Decke, mein Platz macht gut zwei Meter mal achtzig Zentimeter aus. Unten am Fußende liegt noch eine zweite Kratzdecke, die Nächte sind im Dezember schon deutlich kühler geworden. Am Kopfende sind als Kopfkissen meine Kleider stationiert, und einige andere persönliche Dinge, die mir die Gefängnisleitung zugestanden hat. Ein etwa fünfzig Zentimeter breiter Zwischenraum trennt mich von meinen Nachbarn, die jetzt – o wie wohltuend! – nicht da sind.

    Die Zelle ist leer. Die anderen sind beim Arbeiten oder in einem der beiden Gefängnishöfe. Heute habe ich mich krankgemeldet, das genügt, um für einen Vormittag Ruhe zu haben. Endlich wieder einmal einen ganzen Morgen lang allein sein können, um ungestört in den eigenen Erinnerungen zu reisen.

    Judy, du kannst dir nicht vorstellen, was es bedeutet, immer so eng mit seinen Mitmenschen zusammenleben zu müssen; jeder muss da unweigerlich krank werden.

    Aber jetzt ist die Zelle leer – außer den Völkerschaften strammer Kleiderläuse, die versteckt und satt in Decken und Kleidern hängen. Schräge Streifen Sonnenlicht fallen zu den drei kleinen Gitterfenstern herein, die oben an der gegenüberliegenden Wand angebracht sind. 36 Schlafstellen liegen ruhig, ja fast idyllisch da, wenn man den Höllenlärm kennt, der sonst über ihnen tobt.

    Die ganze Zelle ist ausgelegt mit braunen Decken, die fürchterlich nach Desinfektionsmittel stinken. In Reih und Glied liegen sie da, in zwei langen und – an den kurzen Seiten des Rechtecks – zwei kurzen Reihen, ausgerichtet auf die freie Mitte, einen breiten Gang, auf dem die Gefangenen an ihre Plätze gehen. Es ist erstaunlich, wie viele Gefangene auf diese Weise in jedem Raum untergebracht werden können. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich in Gedanken Räume mit diesen Decken auslege – mein Zimmer bei den Eltern, in der Wohngemeinschaft …

    In der Zelle geht es besser, obwohl ich der einzige Europäer im ganzen Gefängnis bin. Hamid und seine Clique sorgen dafür. Hamid, das enfant terrible der Zelle, der Freigeist, das schwarze Schaf unter den vielen Gesetzestreuen. Ich liege zwischen Hassan, einem jungen Studenten und überzeugten Westler, der auch zu Hamids Gruppe zählt, und Mustapha, einem gutmütigen, schon etwas älteren Familienvater und königstreuen Muslim.

    Der Blick schweift über die vielen Decken und beißt sich an den Matratzen fest. Insassen, die länger als zehn Jahre hier sind, haben besondere Plätze inne, meist in einer Ecke der Zelle und durch die Matratzen gegenüber den anderen Plätzen erhöht; auch eine Ausgestaltung des Privatbereichs ist ihnen gestattet, sie besitzen eigene Decken und eigenes Geschirr.

    In der anderen Ecke befindet sich die Toilette. In den großen Zellen ist sie von einer Mauer umgeben und mit einer Türe versehen ist, ein »Sportlerklo« – wie Judy und ich es nannten – für 36 Männer! Ein Loch im Boden, aus dem es grundsätzlich stinkt, zwei Fußbretter, die manchmal überflutet sind, Seife und Blechbüchse mit Wasser davor, zur Reinigung der linken Hand.

    An den Wänden des Klos hängte einmal jemand pornographische Bilder auf, die natürlich schnell wieder verschwanden; und der Jemand konnte nicht ermittelt werden. Frauen mit hochtoupierten Haaren, in rosa Tüllschleier gehüllt, Frauen, die ihre Brüste mit den Händen griffen und sie feilbietend hervorstreckten, Frauen, die den Kopf zum Betrachter verdrehten, mit der Zunge lustvoll die Lippen leckten und ihren straffen Po aus dem Bild reckten, hin zu den unten auf dem Klo in akrobatischer Hockstellung sich befindlichen Männer.

    Ja, Judy, nichts mehr übrig vom Ewig-Weiblichen, nichts als ein altmodischer Kitschporno, verpufft der Kampf gegen das morsche Männersystem mithilfe der spirituellen Kräfte der Natur. Eine Zeitlang eifernd großer Kerl gespielt, aber bald ist er aufs Kreuz gelegt, der gute; Bakterien, Viren, Läuse marschieren auf, fixer als er, dringen unerwartet ein, ringen ihn nieder, ohne viel Gezappel …

    Auch sein aufgeplustertes Spieler-Ich, sein cosmic ego, Nadel rein, Luft raus – Heinz Groß-Ego der Elfte, Hendrik der Große: er platzte wie ein Bovist, fatalen Gestank verströmend. Darunter kroch Nacktes, Weiches hervor, voller Ängste, kleiner als die kleinste Kleiderlaus, und dazu noch die doppelte Mittelohrentzündung.

    Ich war nicht nur das Opfer. Wer kann ihn ertragen, den tout le temps dépressif², wenn man zehn, zwanzig Jahre hier abzusitzen hat? Wie Mansur, der neue Zellenleiter, der mit siebzehn Jahren einen anderen Jungen erschlagen und dreißig Jahre dafür bekommen hatte. In zwei Jahren soll er frühzeitig entlassen werden, dann wird er fünfundvierzig Jahre alt sein.

    Eine Zeitlang habe ich Stimmen gehört. Ich war sehr erschrocken über diese fremde Welt, die da in mir sprach. Sie haben in den Ohren gegellt, waren ständig am Einheizen: Machen dich alle, Junge, wirst sehen! Ist eh alles aus! Wie individual so global! Stereo, verstehst du? Und als Läuse getarnt: Saugen dich aus! Bis auf den letzten Tropf! Wirst sehen! Und so weiter, und so weiter …

    In der vorherigen Zelle sagten sie, ich hätte einen bösen Dschinn, und sie drangsalierten mich deshalb umso mehr. Aber in der Zeit auf der Krankenstation sind die Stimmen – Gott sei Dank – verschwunden.

    Am Anfang der Gefängniszeit konnte ich noch nicht trauern über Alis Tod, am Anfang gab es nur diese ungeheure Wut. Erst mit der Zeit habe ich mich dem Abschiednehmen gestellt – von Ali und auch von vielen Illusionen über uns und unsere Zukunft. Und immer wieder, dieser Stachel: Wir müssen verraten worden sein. Wer aber hatte uns verpfiffen? Hamid stellt Nachforschungen an, in den informierten Kreisen des Gefängnisses. Vielleicht kann er etwas herausfinden. Schließlich war mit Ali ein wohlhabender Sohn der marokkanischen Oberschicht ums Leben gekommen.

    Judy, auch der Verlust von dir treibt mich immer wieder um. Endgültig verlassen hast du mich auf unserer letzten großen Reise, dazu noch mit diesem fast dreißig Jahre älteren Mervin. Aber daran ist unsere Beziehung nicht gescheitert. Warum unsere Beziehung gescheitert ist, habe ich schmerzhaft erkennen müssen.

    Die Zustände sind normaler geworden. Normaler im Sinne von Hornhaut, Schutzschicht gegenüber dem Negativen, so dass es dich nicht aussaugen oder mit Haut und Haaren auffressen kann. Kann sogar wieder lachen. Mit Hamid Witze reißen über die vermaledeiten Zustände hier im Knast. Hamid nennt mich Henri, und so nennen sie mich auch in der neuen Zelle. Kann auch wieder lesen. Auf meinen Beinen liegt eine deutsche Zeitung. Mein Freund Rainer aus Deutschland hat Bücher und Zeitungen geschickt, von denen ich – nach der sonderbaren Logik der Gefängnisordnung – pro Woche nur jeweils »ein Stück« ausgehändigt bekomme.

    Es ist anheimelnd und befremdlich zugleich, in einem marokkanischen Knast über deutschen Politikkrampf zu lesen. Am meisten ergreift mich die deutsche Sprache: Heimwehfäden ziehend und lächerlich vertraut.

    In sachlich-objektiver Tonlage vorgetragene, detailgenaue Nachrichten über die Welt da draußen, von Anfang November 1983, eine handfeste Realität vorspiegelnd – von einem orientalischen Knast aus, unweit des Meeres, dessen salzige Gerüche und sehnsüchtigen Möwenschreie noch bis in unsere Mauern dringen, wirken diese Nachrichten unwirklich wie das Leben auf einem anderen Planeten.

    Der Kommentar der deutschen Zeitung kritisiert den westlichen Fortschrittswahn: Was ist nicht alles schon eingekracht an Glitzerpalästen, hehrem Idealbeton, schwindelnden Wolkenkratzern? Ausgeträumt der Traum vom ewigen Immermehr, Schlaraffia kommt nicht, und die Meere verrotten! Mythisch verbrämt wie in einem griechischen Schauspiel: Die Läufer tragen Masken und wechseln sie während des Laufs. Hochtrabend rätselnd: Wie ist’s möglich? Die individuellen und zugleich universellen Geschichten in der Gefahr eines so häufigen Scheiterns? Ideale brutzeln auf dem Scheiterhaufen. Werte brüten Monster aus. Revolutionen münden in Terrorherrschaft. Als Karikatur: Im rasenden Trans World Express jagen Fortschritt, Sicherheit & Co statt ins Wonneparadies zum atomaren Knall und Fall.

    Was ist los mit den Menschlein? Wollen immer so hoch hinaus, kriegen immer eins auf den Deckel! Nur einer grinst: Kohl, der neue dicke deutsche Kanzler.

    »Ab in die Zellen!«, knallen die Wärter mit den Peitschen, oder sie öffnen nur wortlos die schweren Eisentüren, und die Zebras traben gehorsam in ihre Ställe.

    Am schlimmsten sind die Zeiten in der Zelle, die Abende, die Nächte und auch die arbeitsfreien Tage: zäh kriechende Ewigkeiten. Wenn es regnet, dürfen die Gefangenen nur zweimal am Tag im Großen oder im Kleinen Hof ein paar Runden drehen, unter einem spuckenden grauen Himmel, ansonsten hocken sie in den Zellen.

    Man wird verrückt mit der Zeit. Draußen bemerkt man sie nicht, oder sie scheint zu fliegen. Hier drinnen, in den ewigen Wiederholungen des Gefängnisses, schleicht sie wie eine Schnecke. Wir haben sie im Überfluss, aber können nichts damit anfangen, wir warten, wir erhoffen hartnäckig das Beste von der Zukunft, obwohl sie an unseren Gitterfenstern vorbeizieht.

    Was fangen sechsunddreißig Männer an, in einer Zwangsgemeinschaft auf engsten Raum zusammengepfercht, an einem Zellenabend oder einem freien Zellentag, mit sich, und miteinander?

    Allein, auf ihren Plätzen, stieren und dösen sie vor sich hin. In Grüppchen gebündelt, vertreiben sie sich die Zeit mit Spielen Reden Quasseln Erzählen – Gebrabbel, das sich wie eine Glocke über die Köpfe legt, bis um halb elf und am Wochenende um halb zwölf das Licht ausgedreht wird, was die meisten nur zähneknirschend akzeptieren.

    Die Gefängnisfrage: Ça va?³

    Die Gefängnisantwort: Ça va pas du tout!

    Tausendfach schon wurde ich gefragt, und tausendfach schon habe ich gefragt: Woher kommst du? Was hast du vorher gemacht? Was willst du nachher tun, wenn du raus bist?

    Die Frage nach dem Grund des Einsitzens versucht man höflich zu vermeiden. Die meisten von uns halten sich sowieso für unschuldig. Immer wieder bestärken wir uns darin, dass die Haftbedingungen unerträglich sind – der Knast in Deutschland ein Hotel dagegen – und das Essen eine Zumutung, grässlich, dégoûtant!

    Brett- und Würfelspiele sind bei vielen beliebt. Andere bevorzugen Singen und Musizieren. Und ab und zu reißt dann ein Drumsolo, auf umgedrehten Blechnäpfen geklopft, die halbe Zelle auf die Beine, und wir tanzen und grölen mit Vorsänger und einfallender Gemeinde bis zur rotglühenden Ekstase. Dann scheint die Zeit endlich ausgelöscht zu sein.

    Aber das geschieht selten. Die Umstände sind zu penetrant. Immer wieder kommt es zu Prügeleien, die die sorgsam gehüteten Plätze im Umkreis verwüsten und nur mit roher Gewalt gestoppt werden können. Hören die Streithähne immer noch nicht auf, muss man die Wärter holen. Manchmal dreht einer durch, springt auf, rennt durch die Zelle, redet, schreit in einem Fort – schnell fangen ihn die anderen wieder ein, halten ihn fest, bringen ihn zurück an seinen Platz. Wenn die Wärter kommen müssen, wird er manchmal auf die Krankenstation des Gefängnisses gebracht.

    Die beliebteste Stillbeschäftigung ist das Absuchen der Kleider nach Läusen. Erfolgserlebnisse garantiert. Ich drehe das Kleidungsstück um, stülpe das Innere nach außen. Dort unter den Nähten halten sie sich verborgen, die dreckig-weißlichen Biester mit ihren prallen schwarz-roten Bäuchen, vollgesogen mit frischem Blut. Nichts ist befriedigender, als einen der Peiniger zwischen den Daumennägeln platzen zu lassen! Doch der Kampf ist aussichtslos, denn ihre Fruchtbarkeit ist so ungeheuerlich, dass sie niemand in ihrem Siegeslauf aufhalten kann. Einige steigern sich angesichts dieser Aussichtslosigkeit in ein Fieber hinein, sie verbringen Stunden am Tag damit, die nachgeschlüpften Läuse um die Ecke zu bringen, ohne aber den entscheidenden Sieg erringen zu können. Manchmal artet die Vergeblichkeit ihres Tuns aus, dann lassen sie die Kleidungsstücke sinken, entziehen sich jeder Unterhaltung und dämmern nur noch zurückgezogen auf ihren Plätzen, apathisch ins Leere starrend.

    Manche Gefangene schreien in der Nacht, fahren hoch im Traumgespinst, rollen mit den Augen oder fuchteln wie wild mit den Armen, als ließe sich der Alb dadurch verscheuchen. Auch ich habe nachts immer wieder geschrien. Vor allem ein Traum war es, der mich peinigte, mein Traum vom Riesenhaus:

    Ich finde mich in einem dunklen Aufzugsschacht

    stehend auf den Fußbrettern eines Klos

    die Eisenkette einer Spülung in der Hand

    fahr ich hinauf und hinunter in dem langen schwarzen Schacht …

    An den Stockwerken fällt spärlich Licht ein

    lässt dämmernd Umrisse des Raumes ahnen

    Höhen und Tiefen gähnen

    wie schwarze Mäuler!

    Ich habe Angst, dass ich fallen könnte, den Schacht hinab, ins Bodenlose. Andererseits ist die Situation vertraut, ich drehe am Griff der Eisenkette, und der Aufzug hält an. Die Tür öffnet sich automatisch.

    Die unteren und mittleren Stockwerke des Hauses bestehen nur aus jeweils einem einzigen Raum, er ist riesig und droht all die Menschen zu verschlucken, die dort zahllos wie Ameisen wuseln. Unterhalb der Decke finde ich unsere vergitterten Fenster wieder. Die Räume sind Zellen, mit braunen Decken ausgelegt, gleichzeitig aber auch: Märkte Krankenhäuser Fabriken.

    In den untersten Stockwerken liegen die Kranken. Es wimmelt von Menschen, die umhergehen, Karten spielen, mit glasigen Augen daliegen, ihre Stümpfe auf ein Gestell gelegt, dazwischen Weißkittel, die Operationen durchführen, Trauben von Schaulustigen um sie herum.

    Ganz unten die Halbtoten, die nur noch dahinsiechen oder vor Schmerzen brüllen, dass es in dem hallenden Riesenraum in den Ohren gellt. Wenn es notwendig wird, werden sie umgewendet und von einem Weißkittel gespritzt. In der Mitte der einen Wand: ein Holztor, als Verriegelung ein Querbalken. Ich weiß genau, ich verstehe sofort …

    In den mittleren Stockwerken die Gesunden, auch hier ein Gewimmel und Gewusel; zwischen Verkaufsständen wälzt sich ein Strom von Menschen dahin, Transistorradios plärren, Feilschen um irgendwelche Preise, am Boden hockende Araber, die Tee brauen, ich befinde mich auf einem orientalischen Basar! Hinter den Ständen fluten die braunen Decken an, verstreut sitzende verstreut stehende Gruppen beim Würfelspiel, im lautstarken Streit. Ich bewege mich ängstlich an ihnen vorbei. Ich habe Angst, erkannt und von der brodelnden Masse ergriffen zu werden. Manchmal ist es wie bei einem Spießrutenlaufen, ich spüre ihre feindlichen Blicke im Rücken. Ich fliehe zum Aufzug, der, obwohl ich verzweifelt auf den Knopf einhämmere, nicht kommt.

    Manchmal werde ich freundlich angesprochen. Dann setzen wir uns und reden und erzählen.

    In diesen Träumen treffe ich Ali wieder, und dich, Judy, und all unsere Freunde. Wir fallen uns in die Arme und stellen einander viele Fragen. Judy, wenn ich dich treffe, verziehen wir uns manchmal in einen der Vororte der Zelle und schlafen unter einer der braunen Decke miteinander … dein Stöhnen, wenn du in Fahrt kommst, trotz der grinsenden Gesichter um uns her.

    Es folgen Stockwerke, die voller Maschinen stehen. Die Automatisierung ist weit fortgeschritten in diesem Haus. Die Arbeiterkolonnen, die an den Maschinen stehen, schlafen hier auch, an den Rändern der Riesenzellen haben sie ihre Decken ausgebreitet, wie in einem maurischen Haus mit Blick auf den Patio, den in der Mitte gelegenen Maschinenpark.

    Je weiter man nach oben kommt, umso kleiner, wohnlicher, ja luxuriöser werden die Zellen. Manchmal erinnern sie an Ausstellungsräume eines Möbelhauses. Man liegt in exklusiven Betten, sitzt modisch gekleidet auf Lederfauteuils, telefoniert oder sieht fern. Die Fernseher sind immer an, wenn ich durch diese Räume komme. Es werden nur Naturfilme gesendet, man ist hier verrückt nach Natur, und die Bilder, die in den Räumen aufgehängt sind, huldigen nostalgisch den vergangenen Jahrhunderten, fast ausschließlich zeigen sie kitschige Landschaftsmotive, weite grüne Ebenen, Wiesen mit blühenden Bäumen, den Strand eines endlosen Meeres …

    Von Weitem sehe ich meine Eltern, wie sie im Fernseher versinken, und stehle mich, plötzlich nahe herangerückt, seitwärts an ihnen vorbei.

    Hier oben finden laufend Konferenzen statt, die endlos dauern. Und erst nach stundenlangem Warten – ich grüble im Traum: warum warte ich überhaupt? – werde ich von den Vorzimmerdamen auf einen der nächsten Tage vertröstet. Ganz oben, im letzten Stock, wo die Konferenzen nie enden, wo es auch keine Vorzimmerdamen mehr gibt, sondern nur noch Schilder wie »Für Unbefugte verboten« oder »Streng geheim« oder »Vorsicht Hochspannung!«, habe ich eine kleine Treppe entdeckt, die noch weiter als der Fahrstuhl nach oben reicht. Auf Zehenspitzen schleiche ich hinauf. Die Treppe hört auf, aber ich entdecke eine Dachluke. Da sie zu hoch liegt, muss ich erst aus einem der oberen Räume einen Stuhl holen, was nicht leicht ist bei all den Wärtern. Und immer, wenn ich dann auf dem Stuhl stehe und versuche, die Luke aufzustemmen, weisen meine Träume unterschiedliche Fortsetzungen

    auf.

    Die eine Version verläuft folgendermaßen: Es gelingt mir, die Luke zu öffnen, ich hieve mich auf das Dach hinauf, ein Flachdach, das am Rand ruinenartige Umrisse zeigt. Der Blick fällt auf andere Dächer, andere Hochhäuser rings herum. Leben wir in einer Stadt voller solcher Häuser? Warum haben wir sie nie von den Zellenfenstern aus gesehen? Wenn ich versuche, auf das Gemäuer am Rand des Daches zuzueilen, weil es mich drängt hinunterzuschauen, erwarte ich wie in einer Großstadt emsige Spielzeugautos unten auf den Straßen. Dann spüre ich, dass ich nicht mehr allein auf dem Dach bin. Ich reiße den Blick herum, sehe Wärter in ihren Uniformen aus der Luke strömen, mit gezogenen Strahlenpistolen schwärmen sie aus, und während ich versuche, in eine andere Ecke des riesigen Daches zu fliehen, fühle ich schon einen hellen siedenden Schmerz im Rücken und schreie –

    Die andere Version: Es gelingt mir nicht, die Dachluke zu öffnen. Enttäuscht vom Stuhl heruntersteigend, entdecke ich plötzlich eine Milchglasscheibe an der Seitenwand, ein Fenster, das sich aufklappen lässt, wenigstens einen Spaltbreit. Hastig klemme ich den Kopf dazwischen und erhasche einen Blick: schrief ragt aus einem Meer ein Hochhaus heraus, weißschäumende Wellen peitschen den Beton – da dröhnen Schritte auf der Treppe. Den Kopf zurückgerissen, sehe ich sie schon, die langen Vogelhälse und Vogelköpfe, sie kommen die Treppe herauf. Ich bin in Todesangst, wuchte neben meinem Kopf auch Arme und Oberkörper aus dem Fensterspalt hinaus, die Schnäbel der Vögel prasseln gegen die Scheibe, Schmerz siedet auf, es quetscht mir – wie bei einem Insekt – den Unterleib ab, und der obere Teil stürzt, sein Nein! Nein! Nein! schreiend, das lange Betonhaus hinunter und taucht ein in das salzige brennende Meer –

    Regelmäßig wurde ich, die Angst noch auf der Zunge, von einem ärgerlich brummelnden Nachbarn wachgerüttelt. Und jedes Mal spürte ich nach diesen Träumen noch lange Zeit das Verlorensein, wie einen Hauch aus dem Abgrund.

    Damals, in der alten Zelle, fragte ich mich, ob ich jemals wieder herauskommen würde aus dieser Krankheit. Vor der Krankenstation haben sie es nicht mehr ausgehalten mit mir. Andauernd in der Nacht das Geschrei. Dazu noch die doppelte Mittelohrentzündung, für die Monsieur Le Pharmacien, der Herr Apotheker, zwei Schmerztabletten pro Tag ausgab. Da ich ein Indianer nur auf dem Papier war, nahm das Lamentieren kein Ende.

    »Comme une femme!«⁶, schrien sie mir ins Ohr, »comme une femme!«

    Einen Monat lang war ich das schwarze Schaf in der alten Zelle. Vorher war es Boussouf, ein beleibter, schwerfälliger Jugendlicher, der keinerlei Schlagfertigkeit besaß, also hänselten sie ihn von früh bis spät, stellten ihm ein Bein, wenn er an ihnen vorbeikam, versteckten seine Sachen und amüsierten sich, wenn er unbeholfen und kleinlaut vor sich hin schimpfte, aber eben nichts ausrichten konnte, weil die Übermacht zu groß war und sie über ausgezeichnete Beziehungen zu den Wärtern verfügten. Und dann kam ich an die Reihe: Sie hauten auch mir die Beine weg, plötzlich fing jemand auf Arabisch zu schimpfen an, wedelte wild mit den Händen und nahm mich dann in den Schwitzkasten. Wie demütigend war es, unter dem höhnischen Gejohle der anderen zurückweichen zu müssen.

    Im ersten Winter hatte ich keinerlei Geld und war, was Luxusartikel wie Zigaretten, Obst und anderes betrifft, auf die anderen angewiesen. Eine Zeitlang verhängten sie eine Luxussperre über mich. Sie spielten es aus, Besitzende zu sein – auch mithilfe ihrer Sprache, die ich nicht verstand. Noch heute verstehe ich nur wenige Brocken Arabisch oder Berber, die ich von den Gefangenen oder in der Koranschule des Kleinen Hofes aufgeschnappt habe, und der Schnelligkeit ihrer Gespräche kann ich ohnehin nicht folgen. Und auch des Französischen bin ich nur leidlich mächtig – trotz mehrjähriger Aufenthalte in französischsprachigen Ländern. Aber immerhin kann ich mich in dieser Sprache mit den meisten von ihnen verständigen.

    Damals, vor der Krankenstation, wusste ich nie, welches Komplott sie ringsum wieder mit ihren kehlig-rauen Stimmen gegen den Sündenbock schmiedeten. Einmal, der Ohrwurm war gerade am Werk, kamen einige auf mich zu und – so schnell konnte man es kaum denken – hatten sie mich schon in den Händen, zerrten mich auf den Gang hinaus, um mich dort, grölend vor Ausgelassenheit, in die Zellenlüfte zu befördern. Ich versuchte zu entkommen, ein Bein durch das Geflecht unzähliger Arme zu stoßen, aber es gelang mir nicht – und noch einmal, Abflug und Hochflug, vor Begeisterung schäumende Gesichter, wie glühende feiste Masken, und der Kopf, er berstet beim Aufprall – da hat einer ein Messer in der Hand, hält es hoch, brüllt unter allgemeinem Johlen etwas, was wohl »Abschneiden!«, »Abschneiden!« bedeutet.

    Erst jetzt schritt Abdelmalik ein, mein Zellenleiter in der alten Zelle, von dem ich einst so viel gehalten hatte.

    Aber – wie gesagt – ich war nicht nur das Opfer. Vielen anderen geht es viel schlechter. Der kleine Idris, mit dem ich zwei Wochen in Untersuchungshaft zusammen war, ein Politischer, der an Aktionen gegen den König beteiligt gewesen war. Der wusste, was den Politischen bevorstand, nämlich Isolationszellen, Folter und bis zu zwanzig Jahre in Kerkern, von denen die übelsten Gerüchte umherliefen.

    Idris: »Als Politischen wollen die dich körperlich und seelisch kleinkriegen, auf deinen Selbstwert, deine menschliche Würde haben sie es abgesehen. Du brauchst eine innere Kraft, um zu widerstehen, und die muss immens sein – ich weiß nicht, ob ich diese Kraft aufbringen kann.«

    Hassan, mein linker Zellennachbar, ein Gewerkschaftler, der bei einer verbotenen Demonstration gegen massive Preiserhöhungen von Grundnahrungsmitteln festgenommen wurde, hatte wegen seiner sozialen Aktivitäten »nur« 5 Jahre bekommen. Glück gehabt!

    Wie lächerlich dagegen mein Fall gegenüber all den Jahrhunderten, die sich auf den Eingesperrten, Gefolterten, Gemeuchelten dieses Gefängnisses türmten!

    Habe schon vorher die Waffen strecken müssen, weil krank und ohne Abwehrkräfte … Aber: nach der Krankenstation, nachdem die Stimmen verschwunden waren, nach der Trauer um Ali, hat der Mann wieder Substanz gewonnen, nach und nach, hat sich verteidigen gelernt gegen die Flunkerei der Gefühle und des Albs. La Femme hat Hilfe gefunden – allein hätte sie es nicht geschafft, allein hätte ich es nicht geschafft, allein schafft es keiner.

    Kann wieder

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