Explizites Denken in Zeiten der Krise: Anregungen zur Stärkung der geistigen Selbstverteidigung
Von Urs Hinnen
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Über dieses E-Book
Urs Hinnen
Dr.med. Urs Hinnen, MPH, Facharzt Arbeitsmedizin und Prävention / Gesundheitswesen, geboren 1956. Langjährige Erfahrung als Arbeitsarzt und Präventivmediziner, insbesondere bei der Beratung von Personen mit psychosozialen Problemen am Arbeitsplatz. Engagement in verschiedenen Fachgremien zum Thema Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt. Fachvorträge und Publikationen in Fachzeitschriften für Personalverantwortliche, Gesundheitsschutzbeauftragte und Psychologen zu Themen wie Suchtprävention, Gesundheitsförderung sowie Früherkennung und Prävention von Burn-out.
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Explizites Denken in Zeiten der Krise - Urs Hinnen
Dr.med. Urs Hinnen, MPH, Facharzt Arbeitsmedizin und Prävention / Gesundheitswesen. Langjährige Erfahrung als Arbeitsarzt und Präventivmediziner, insbesondere bei der Beratung von Personen mit psychosozialen Problemen am Arbeitsplatz. Engagement in verschiedenen Fachgremien zum Thema Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt. Fachvorträge und Publikationen in Fachzeitschriften für Personalverantwortliche, Gesundheitsschutzbeauftragte und Psychologen zu Themen wie Suchtprävention, Gesundheitsförderung sowie Früherkennung und Prävention von Burn-out.
Inhalt
Einleitung
Konzeptionelle Grundlagen
2.1 Der Begriff des expliziten Denkens
2.2 Das Salutogenese-Konzept
Gedanken zu einer möglichen Stärkung der geistigen Selbstverteidigung
3.1 Verstehbarkeit
3.1.1 Erster Weg zur Gegenwart (als das Leben begann)
3.1.2 Die Gegenwart explizit vor Augen führen
3.1.3 Massstab für eine ‚vernünftige’ Bewertung seiner selbst
3.2 Sinnhaftigkeit
3.2.1 Zweiter Weg zur Gegenwart (die wahren Dimensionen)
3.2.2 Sinnhaftigkeit und Spiritualität
3.3 Handhabbarkeit
3.3.1 Dritter Weg zur Gegenwart (die grosse Dynamik)
3.3.2 Funktionelle Grundlagen
- Freiraum für reflektierendes Denken dank hoher Leistungsfähigkeit des Gehirns
- Der Genuss-Mensch
- Gegenspieler des Genusses
- Eine menschliche Spezialität: Der Blick von aussen auf sich selbst
3.3.3 Alles im Fluss
3.3.4 Im Bedarfsfall: Entspannung bewirken
- Das Mittel der Distanzierung nutzen
- Frustration abbauen dank Hinwendung
3.3.5 Beispiele zur Anwendung des expliziten Denkens im Alltag
Persönliche Voraussetzungen berücksichtigen
Versuch einer Synthese
Mit Blick auf unsere gemeinsame Geschichte trotz Krise Trost finden……
Anhänge: Vertiefung des expliziten Denkens
Anhang 1. Als das Leben begann
Anhang 2. Entwicklung des Lebens bis heute
Anhang 3. Aufbau und Funktion des Gehirns
Anhang 4. Kurze Reise durch Raum und Zeit
Anhang 5. Die Grundregeln des Lebens
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Eine weltumspannende Krise, wie sie eine Pandemie darstellt, lässt wegen der Ansteckungsgefahr um die eigene Gesundheit fürchten, hat darüber hinaus aber auch bedrohliche wirtschaftliche und soziale Auswirkungen. Für die einen spitzt sich die berufliche Belastung zu, was zu Stress führt. Die anderen verlieren ihre Arbeit oder sind zumindest stark unterbeschäftigt; das Überleben des eigenen Geschäfts ist womöglich gefährdet. Eine geregelte Tagesstruktur kann zuweilen entfallen. Die mit der Arbeit verbundene Daseinsberechtigung ist in Frage gestellt, der Boden droht unter den Füssen wegzubrechen. Langeweile, soziale Isolation und ein Gefühl von Nutzlosigkeit können die Folge sein. Das Selbstwert-Gefühl nimmt womöglich Schaden. Zudem können liebgewonnene Gewohnheiten wie weltweites Reisen, Besuch von ausgelassenen Partys, Musikfestivals oder Sportanlässen nicht ausgelebt werden. All dies wirkt sich nicht selten negativ auf die psychische Gesundheit aus.
Eine Review-Studie (Erfahrungen von SARS und Ebola-Epidemien), bei der von 3166 durchgesehenen Internet-Publikationen 24 methodisch befriedigende Arbeiten einbezogen wurden, ergab interessante Ergebnisse zur Frage, was die psychischen Folgen einer längerdauernden Quarantäne sind, bei der die Betroffenen alleine zuhause ‚eingesperrt‘ sind. Viele leiden an Ängsten, gedrückter Stimmung und Reizbarkeit. Die soziale Isolation zeigt auch langfristige Folgen. So fanden sich teilweise noch bis zu drei Jahren später Zeichen von posttraumatischem Stress, depressive Symptome und Alkoholprobleme (Brendler 2020).
In solch schwierigen Zeiten ist es von Vorteil, das eigene Leben sicher zu verankern, um die Hoffnung nicht zu verlieren und für sich neue Perspektiven zu erschliessen. Der westlich geprägte Mensch definiert sich bekanntlich über den Vergleich mit anderen. Zentrale Aspekte sind beruflicher Erfolg sowie materieller und sozialer Wohlstand. Wer diese Voraussetzungen erfüllt hat alle Möglichkeiten, um ein an positiven Erlebnissen und Erfahrungen reiches Leben zu führen. Problematisch wird es demzufolge dann, wenn die entsprechenden Voraussetzungen in Frage gestellt sind, wie dies in Krisenzeiten der Fall sein kann. Ein Leben in Saus und Braus: Dies galt bisher für weite Kreise als Selbstverständlichkeit. Das Selbstverständliche im bisherigen Rahmen ist nun bis zu einem gewissen Grad in Frage gestellt.
Allerdings: Krise gleich Chance! Das Selbstverständliche hinterfragen zu müssen kann auch ein Anreiz dafür sein, sich vertiefte Gedanken zum eigenen Dasein zu machen. In diesem Sinne sollen im Rahmen des in der Gesundheitsförderung weit verbreiteten Salutogenese-Konzepts nach Antonowsky Überlegungen in Hinblick auf geeignete Bewältigungsstrategien angestellt werden. Vorgeschlagen wird ein ‚Fakten-Check’, der es erlaubt, die Wahrnehmung einer erlebten Gegenwart bei Bedarf positiv zu beeinflussen. Dazu soll auf den immensen Fundus der bisher für diesen Zweck zu wenig gewürdigten Naturwissenschaften zugegriffen werden‚ über den wir aufgeklärten Menschen mittlerweile verfügen. Der vorgeschlagene Ansatz basiert auf dem philosophischen Begriff des expliziten Denkens, dessen praktische Anwendung gegebenenfalls dazu verhelfen vermag, bei Bedarf eine alternative Sichtweise auf das eigene Leben zu entwickeln und somit seelische Abwehrmechanismen zu stärken.
2. Konzeptionelle Grundlagen
2.1 Der Begriff des expliziten Denkens
Wir Menschen, die wir in hoch entwickelten Ländern leben dürfen, haben mittlerweile einen hohen Bildungsstand erreicht, und profitieren vom Umstand, dass die Menschheit seit Jahrtausenden bestrebt ist, den Verstand zu schärfen, um sich mit den so gewonnenen Erkenntnissen weiterzubringen. Zudem stehen uns mit den diversen Mitteln der Kommunikation enorme Möglichkeiten zur Verfügung, das stetig wachsende Wissen jederzeit und überall ‚anzuzapfen’. Das Problem dabei ist, dass ein überaus grosser Teil des angeeigneten Wissens oberflächlich bleibt, weil wir es bloss zur Kenntnis nehmen, ohne uns damit vertieft auseinanderzusetzen und es in Bezug zu uns selbst und unserem Dasein zu setzen. Wir nehmen uns in der Regel nicht die Mühe wirklich zu verstehen, sondern lassen Vieles als selbstverständlich, also implizit, in unseren Gedanken mitlaufen. Explizites Denken bedeutet, ‚nur dunkel Mitgewusstes’ in ausdrücklich Gewusstes umzuwandeln und uns somit die Tatsache zunutze zu machen, dass wir uns auf einem viel umfassenderen Wissensstand befinden als noch vor wenigen Jahrzehnten, und als Folge davon sich das Verständnis der Umstände unserer Existenz rasant verbessert hat (Sloterdijk 2009).
Der Gedanke, dass wir mittels eines Fakten-Checks den Wert des eigenen Lebens womöglich besser erfassen können, indem wir es realitätsgerecht würdigen und uns somit einen Weg aus einer emotionalen Abwärtsspirale zugänglich machen, lässt sich also auch so formulieren: Wir versuchen, das Fundament unseres Denkens und Handels insofern zu erweitern, als wir uns nicht ausschliesslich an gesellschaftlich-ökonomischen Aspekten orientieren, sondern den Wert unseres Daseins auf eine Weise begreifen, die alles umfasst, was uns ausmacht. Oder mit den Worten von Slotderdijk: Wir begehen die Brücke zwischen Kultur – gemeint ist damit alles, was das gesellschaftliche Leben ausmacht - und Natur (will heissen, wir aktivieren unser umfassendes Wissen über die Natur, deren Teil wir sind).
Man mag einwenden, dass ein solches – die Naturwissenschaften einbeziehendes – Denken eine Entzauberung bewirken bzw. zu einem ‚Befreien von der Magie’ führen kann. Allerdings lässt sich auch das Gegenteil behaupten: Dadurch, dass sich die Forschung den Geheimnissen der Natur annähert, zeigt sie dem Menschen, wie viel Zauber eigentlich im Wirklichen steckt. Es ist ja nicht so, dass die Wissenschaft leicht verständliche Lösungen liefert. Viel mehr nähert sie sich den Phänomenen der Natur und versucht zu beschreiben, was sich abspielt. Es gibt keine abschliessende ‚Erklärung für alles’. So weiss man z.B. von Licht immer noch nicht, was es eigentlich ist. Es kann sowohl als Teilchen wie auch als Welle in Erscheinung treten. Diese Einsicht sollte in uns durchaus ein Gefühl für das Geheimnisvolle auslösen. Wissenschaft fasziniert gerade dadurch, dass sie den Kenner zu immer neuen und tieferen Geheimnissen führt. Das Eigentliche kann man nicht wissen, weder beim Licht noch bei der Elektrizität. Wir können bloss staunen über ein Wissen, das stimmt, und zum Zweiten über