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Ökonomie und Bildung: Die Transformation unserer Lebensform
Ökonomie und Bildung: Die Transformation unserer Lebensform
Ökonomie und Bildung: Die Transformation unserer Lebensform
eBook1.001 Seiten13 Stunden

Ökonomie und Bildung: Die Transformation unserer Lebensform

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Über dieses E-Book

Zentrales Anliegen dieses Buches ist es zu zeigen, dass wir uns in einem Transformationsprozess unserer gesamten Lebensform befinden. Dieser Transformationsprozess ist nur vergleichbar mit dem der „Neolithischen Revolution“ vor 12.000 Jahren. Damals wurden aus Jägern und Sammlern Ackerbauern und Viehzüchter. Aus der aneignenden Lebensform wurde die produzierende Lebensform. In dieser leben wir noch heute.
Wir sind jedoch dabei, diese produzierende Lebensform in die sich bildende Lebensform zu transformieren. Dabei wird sich herausstellen, dass Bildungsprozesse die Voraussetzung von Produktions- bzw. Herstellungsprozessen sind. Das ist zunächst nichts Neues. Denn wir wissen, dass erst eine gute Bildung die Voraussetzung dafür ist, gute Herstellungsprozesse zu installieren. In diesem Buch geht es jedoch um mehr. Der Bildungsprozess wird Lebensform werden. D.h. in ihm werden die Herstellungsprozesse aufgehoben sein. Heute dominieren die Herstellungsprozesse den Bildungsprozess und blockieren ihn damit. Schlimmer noch, der Bildungsprozess wird wie ein Herstellungsprozess von außen gesteuert.
Bildungsprozesse sind jedoch unverfügbar. Wir können hierzu lediglich das notwendige Umfeld schaffen. Der Autor zeigt, dass sich gerade wegen der Unverfügbarkeit, über Bildungsprozesse die „Liebe zur Menschheit“ bilden kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberEbozon Verlag
Erscheinungsdatum21. Jan. 2020
ISBN9783959636278
Ökonomie und Bildung: Die Transformation unserer Lebensform

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    Buchvorschau

    Ökonomie und Bildung - Georg Dr. Röttger

    Verlag

    1. Vorwort

    Dieses Buch wurde zum ersten Mal 2015 als eBook veröffentlicht. Leider habe ich erst sehr spät erkannt, dass die Schaubilder in der Veröffentlichung kaum lesbar waren. Daher musste ich die veröffentlichte Version wieder aus dem Internet zurücknehmen.

    In der nun neuen Veröffentlichung sind die Schaubilder lesbar. Die in der Erstveröffentlichung vorhandene Kurzfassung habe ich in einer neuen Einleitung integriert. Darüber hinaus wurden einige unwesentliche Korrekturen durchgeführt und vorhandene Rechtschreibfehler beseitigt.

    Insgesamt bildet dieses Buch mit dem 2018 erschienenen Buch „Ökonomie ohne Geld? und dem Buch „Ökonomie und das Ganze, das 2020 veröffentlicht wird, eine Trilogie. Im Zentrum dieser drei Bücher steht das Thema der Transformation unserer Lebensform von der produzierenden in die sich bildende Lebensform.

    2. Einleitung

    Zentrales Anliegen dieses Buches ist es zu zeigen, dass wir uns in einem Transformationsprozess unserer gesamten Lebensform befinden. Dieser Transformationsprozess ist nur vergleichbar mit dem der „Neolithischen Revolution" vor 12.000 Jahren. Damals wurden aus Jägern und Sammlern Ackerbauern und Viehzüchter. Aus der aneignenden Lebensform wurde so die produzierende Lebensform. In dieser leben wir noch heute.

    Wir sind jedoch dabei, diese produzierende Lebensform in die sich bildende Lebensform zu transformieren. Dabei wird sich herausstellen, dass Bildungsprozesse die Voraussetzung von Produktionsprozessen bzw. Herstellungsprozessen sind. Das ist zunächst nichts Neues. Denn wir wissen, dass erst eine gute Bildung die Voraussetzung dafür ist, gute Herstellungsprozesse zu installieren. In diesem Buch geht es jedoch um mehr. Der Bildungsprozess wird Lebensform werden. D. h. in ihm werden die Herstellungsprozesse aufgehoben sein. Heute dominieren die Herstellungsprozesse den Bildungsprozess und blockieren ihn damit. Schlimmer noch, der Bildungsprozess wird wie ein Herstellungsprozess von außen gesteuert.

    Im Gegensatz zu Herstellungsprozessen sind uns Bildungsprozesse jedoch unverfügbar. Bildungsprozesse operieren selbstorganisatorisch. Bildungsprozesse sind die Bedingung der Möglichkeit, das ökonomische System mit seinen Herstellungsprozessen auch zu einem selbstorganisatorischen System zu führen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn es sowohl in der Gesellschaft wie auch in der Natur aufgehoben ist. Aufgehoben ist das ökonomische System jedoch nur in der Gesellschaft, wenn ihre Lebensform eine sich bildende Lebensform sein wird. Zwischen Ökonomie und Bildung gibt es einen dialektischen Zusammenhang.

    Die neue Lebensform bedarf des ökonomischen Systems als selbstorganisatorisches System. Beides bildet sich gleichursprünglich. An diesem Bildungsprozess wirken wir selbst mit, indem wir die ökonomischen Herstellungsprozesse zur künstlichen Autopoiesis führen. Diese künstliche Autopoiesis findet dann ihren Anschluss an die reflexive Autopoiesis der Gesellschaft wie auch an die natürliche Autopoiesis der Natur. Verständlich wird dies nur, wenn man die Ökonomie als den Austausch der menschlichen Gesellschaft mit der Natur begreift.

    Ökonomische Prozesse lassen sich nicht im Medium Geld herstellen. Herstellungsprozesse lassen sich nur in den Medien Zeit und Wert konzipieren und installieren. Im Medium Geld ist dies unmöglich. Den Anschluss an die Gesellschaft wie an die Natur findet die Ökonomie denn auch nur in den Medien Zeit und Wert.

    Da die Gesellschaft aus empfindsamen lebendigen und kulturfähigen Individuen aufgebaut ist, die selbst auch Natur sind, ist es wichtig, die hiermit verbundenen Bildungsprozesse zu kennen. Im Zentrum steht dabei immer die leibliche Gebundenheit menschlicher Bildungsprozesse. Ohne das Leibliche lässt sich das Soziale nicht begreifen. Das Soziale bildet sich aus den leiblichen Rhythmen und Intensitäten des Kindes und seiner Bezugsperson, wenn sie in Resonanz sind. Die Resonanz bildet sich in den Medien Zeit und Wert.

    Es gibt keine grundlegenderen Begriffe als Zeit und Wert. Dies liegt darin begründet, dass diese kategorialen Strukturen zugleich auch operationale Strukturen sind. Sie gibt es im objektiven Modus in der Ökonomie, im sozialen Modus in der Gesellschaft und im Modus des subjektiven Empfindens. Aus dem letzteren Modus bildet sich über die Rhythmen (Zeit) und Intensitäten (Wert) der soziale Modus von Zeit und Wert. Nur über die Medien Zeit und Wert können wir Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft wieder einen.

    Ja, die Ökonomie ist ein ausdifferenziertes Funktionssystem. Aber das bedeutet nicht, dass es keine Einheit mehr geben könnte mit der Gesellschaft und der Ökologie. Der Mainstream der soziologischen Systemtheoretiker will uns dies jedoch glauben machen. Ihm fehlen nicht nur die geeigneten Grundbegriffe. Er hat zudem noch nicht erkannt, dass sich ihre zentrale Größe, die operationale Struktur, nochmals ausdifferenziert hat. Die Autopoiesis kann bei Konstanz ihres Prinzips, alles aufeinander abzustimmen, in unterschiedlichen Modi des Operierens auftreten. Hierin liegt die Kraft ihrer Einheit.

    Dies ist wörtlich zu nehmen. Denn nur durch eine Kraft kann etwas verändert werden. Mit Begriffen geht dies nicht. Daher sind kategoriale Strukturen, also Begriffe, nicht hinreichend, um etwas zu verändern. Zu einer Veränderung bedarf es der Kraft der operationalen Strukturen. In der soziologischen Systemtheorie verbleibt die Autopoiesis aber im Begrifflichen stecken. Dies gilt im Übrigen auch für die kommunikative Handlungstheorie von Habermas.

    In Luhmanns Systemtheorie kommt die Kraft bzw. Energie von außen. Bei Habermas ist das eigentlich Lebendige dem Sozialen vorgelagert in der Lebenswelt. Das Leibliche, aus dem die Kraft = Energie = Wille kommen könnte, gehört nicht selbst zum Sozialen. Damit verbleibt das Soziale kalt und leblos. Es ist lediglich ein Begriff, der das Soziale vergegenständlicht.

    Alle unsere wesentlichen Probleme, an denen wir heute leiden, ob Klimakatastrophe oder das Zerreißen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, ob die Angst vor Migration, Terror und Digitalisierung. Sie alle lassen sich darauf zurückführen, dass wir glauben, sie alleine begrifflich lösen zu können. Erst wenn wir den kategorialen Strukturen Leben verleihen durch die operationalen Strukturen, werden wir unsere Menschheitsprobleme lösen können. Dies geht nur in den Medien Zeit und Wert.

    3. Ökonomie

    Der Austausch der menschlichen Gesellschaft mit der Natur

    3.1 Die „Aneignende Lebensform"

    Die Lebensform, in der wir heute leben, die produzierende Lebensform, gibt es erst seit ca. 12.000 Jahren mit Beginn der Neolithischen Revolution. Zu jener Zeit stellten sich die Menschen von der aneignenden Lebensform der Jäger und Sammler auf die produzierende Lebensform der Ackerbauern und Viehzüchter um. Bisher hatten die Menschen von der Natur gelebt, nun griffen sie in die Natur ein und veränderten sie.

    Vor ca. 2,5 Millionen Jahren traten die ersten Vertreter der Gattung Homo auf, d. h. mehr als 99 % seiner Geschichte verbrachte er in der aneignenden Lebensform. Dies heißt auch, dass mehr als 99 % unserer Geschichte Geschichte der Steinzeit ist. Hier wurden die Grundlagen unserer heutigen Kultur gelegt: Die Beherrschung des Feuers, das Nähen von Kleidern, feste Häuser, Keramikgeschirr, das Rad, Anfänge der Metallverarbeitung, Ackerbau und Viehzucht. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts lebte etwa 80 % der deutschen Bevölkerung von agrarischer Tätigkeit. Nicht nur technische Errungenschaften der Steinzeit wirken bis heute. Auch die für uns typischen Aspekte menschlicher Kultur wie Sprache, Religion und Jenseitsvorstellungen, aber auch Kunst und Musik, sogar Eitelkeit und Empfindungen wie Nächstenliebe und Fürsorge, die über die eigenen Kinder hinausreicht, sind Entwicklungen, die schon in der Steinzeit ihren Ausgang nahmen (Bick. 2006: 7).

    Die für uns im Zentrum stehende Frage ist nun die, wie konnte dies alles aus dem Tierreich heraus entstehen. Wie konnte aus dem Naturwesen ein Wesen mit Geist entstehen, das nun in die Natur, aus der es selbst kam und das es selbst auch weiterhin ist, eingriff und sie, und damit sich selbst, verändert. Die Bedingung dieser Möglichkeit muss in der Natur selbst liegen. Seit Darwin zweifeln wir an diesem Übergang nicht mehr. Wenn dies aber so ist, müssen die basalen Prinzipien, die dies ermöglicht haben, auch noch weiterwirken, ansonsten hätte es keinen Anschluss geben können. Es wäre vollkommen unplausibel, dass Prinzipien, die zu ihrer Entwicklung und Reifung Jahrmillionen benötigt haben, Sprünge machen. Nur ein stabiles Prinzip ist in der Lage, neue Strukturen und Modi zu entwickeln und auszudifferenzieren, in denen es sich selbst noch durchsetzt. Was dies bedeutet, wird uns das ganze Buch hindurch beschäftigen.

    Während der gesamten Geschichte der Hominiden hat es immer mehrere Arten von Vormenschen und Menschen gegeben, die sogar in derselben Landschaft gelebt haben. Heute existiert auf der ganzen Erde nur noch eine Hominidenart, der Homo sapiens. Er ist die einzige überlebende Art ständiger evolutionärer Experimente. Ganz eindeutig ist es nicht das Ergebnis eines zielgerichteten Prozesses (Tattersall. 2008: 143 f.). Die Überlegenheit des Homo sapiens gegenüber allen anderen Hominidenarten hat drei ganz wesentliche Ursachen: der aufrechte Gang, das langsam größer und komplexer werdende Gehirn und eine flexiblere Hand.

    Aufgrund eines Klimawandels wurde der früher zusammenhängende afrikanische Regenwald zurückgedrängt. Es entstanden immer mehr offene Graslandschaften, so dass die Lebensräume der Menschenaffenpopulationen schrumpften. Einige dieser Populationen wichen auf die offenen Waldlandschaften aus. Durch die Veränderung des Lebensraumes wurden sie gezwungen, sich zumindest zeitweise auf dem Erdboden zu bewegen und sich aufzurichten, um sich Nahrung zu beschaffen. Aus diesen Primaten wurden am Ende die ersten Hominiden. Der aufrechte Gang hatte einen evolutionären Vorteil durch Rundblick und Verständigung per Zeichen bei sozial organisierter Jagd. Diese wurde nun in der offenen Graslandschaft notwendig. Der Übergang hat sich über mehrere Millionen Jahre erstreckt (Tattersall. 2008: 146).

    Der zweite evolutionäre Vorteil der Hominiden war das größer und komplexer werdende Gehirn. Hiermit im Zusammenhang steht eine Fähigkeit des Menschen, die ihn grundsätzlich von den Primaten unterscheidet. Dies ist die Fähigkeit zur Kooperation. Die Bedingung der Möglichkeit zur Kooperation ist zum einen Intentionen zu teilen und zum anderen kooperatives Schlussfolgern. Intentionen teilen heißt, eine gemeinsame Absicht zu haben, um so ein Ziel gemeinsam durch wechselseitige Unterstützung realisieren zu können. Kooperatives Schlussfolgern heißt, vor diesem gemeinsam geteilten Hintergrund sich wechselseitig verständlich machen zu können, in der Absicht, auch selbst verstanden zu werden, um überhaupt helfen zu können. „Wenn beispielsweise Affen einen anderen Affen beobachten, der ihnen etwas signalisiert, versuchen sie durch individuelles praktisches Schließen bezüglich seiner Ziele und Wahrnehmungen herauszufinden, was er will. Sie versuchen aber nicht, die Botschaft zu verstehen, weil er will, dass sie sie verstehen, denn weder die noch die andere Seite geht davon aus, dass er versucht, behilflich zu sein. Der Kommunizierende signalisiert oder >gibt< seine Absicht nicht eigens >bekannt<, wie Menschen es beim Signalisieren ihrer kommunikativen Absichten tun" (Tomasello. 2009: 105).

    Die menschlichen kooperativen Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge haben eine rekursive Operationsweise. Die Schaffung eines gemeinsamen Hintergrundes und einer geteilten Aufmerksamkeit zwischen zwei Personen erfordert, dass jede Dinge sieht, weiß oder ihre Aufmerksamkeit auf sie lenkt, von denen sie weiß, dass die andere Person sie ebenfalls sieht, weiß oder ihre Aufmerksamkeit auf sie lenkt und weiß, dass die andere das von ihr ebenfalls weiß und rekursiv immer so weiter. Eine solche Rekursivität ist bei einer kooperativen Kommunikation absolut notwendig, weil jeder von jedem erwartet, ein kooperativer Kommunikationspartner zu sein. Nur so ist eine nicht abbrechende und gelingende, effiziente Kommunikation möglich. Bei gemeinsamer Jagd im offenen Savannengelände, wo sich jeder auf den anderen verlassen musste, war diese Art der Kommunikation jeder anderen überlegen. Zu dieser effizienten, weil verstehenden Abstimmung, waren ihre Konkurrenten, die Primaten, nicht fähig. Es war ein Verstehen auf noch vorsprachlichem Niveau.

    Zum Jagen benötigen Menschen Werkzeuge. Die ältesten Funde sind 2,5 Millionen Jahre alt und waren aus Stein. Die ersten Steinwerkzeuge waren Geröll- und Abschlaggeräte. Vor etwa 1,5 Millionen Jahren tritt der erste nun in seiner Form klar erkennbare Faustkeil auf. „Er ist ein geradezu geniales Universalgerät: an einem Ende als handlicher Griff abgerundet und am anderen Ende mehr oder weniger spitz verjüngt, dreidimensional gestaltet, so dass Funktion und Stabilität eindeutig konstruktiv gewollt und vereinigt sind. Das kombinatorische Denken hat funktional neue Dimensionen erreicht" (Müller-Beck. 2004: 44). Das Grundprinzip des Faustkeils bleibt für fast 1,4 Millionen Jahre praktisch völlig stabil. Die Faustkeile werden jedoch allmählich flacher und funktional effektiver. Aus der Endphase dieser stetigen Verbesserungen der Faustkeilformen sind die ersten aus organischem Material hergestellten Produkte hölzerner Jagdwaffen überliefert (2004: 46).

    Für die Zeit um ca. 130.000 v. Chr. lässt sich das Feuer nicht nur zum Rösten und Wärmen, sondern auch für Beleuchtungszwecke erkennen. Damit sind durch künstlich erhellte Räume sozial wichtige Kontaktbereich direkt nachweisbar (2004: 51). Nach Domestikation des Feuers, die ca. 1 Million Jahre in Anspruch nahm, verbrauchten die Menschen zehnmal mehr Energie als die Primaten (Weniger. 2008: 221 f.). Die Verbesserung und Artenvielfalt der Werkzeuge nahm nun rascher zu. Es wurden nun auch Werkzeuge zur Erzeugung von Werkzeugen erstellt. Für die Erzeugung der Werkzeuge, die Werkzeuge herstellen konnten, wurden ebenfalls Werkzeuge hergestellt und so weiter – rekursiv.

    Engere und komplexere Sozialbeziehungen lassen Symbolsysteme wachsen, die wiederum die einmal entstandenen verbesserten Werkzeugtechniken tradieren. Aber die technischen Fertigkeiten gehen über die Werkzeugherstellung hinaus. Mit Aufkommen symbolischer Verhaltensweisen vor ca. 100.000 Jahren (Tattersall. 2008: 153) wird auch das Sozialverhalten komplexer. Die Art der Bestattung weist auf eine Auseinandersetzung mit dem Tod der Menschen hin (Müller-Beck. 2004: 61). In einem nordirakischen Grab fand man zwei 30 bis 40 Jahre alte Männer bestattet, die zahlreiche Verletzungen überlebt haben. Eine Vielzahl von Knochenbrüchen an Kopf, Halswirbelsäule, Rippen, Becken, Armen und Beinen hatte sie im Leben immer wieder pflegebedürftig gemacht. Ein Gefühl für Fürsorge zeigt sich, da einer der beiden aufgrund seiner Verletzungen dauerhaft auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen war. „Ein Wangenbruch führte zur Erblindung des linken Auges. Zusätzlich scheint sein rechter Unterarm amputiert worden zu sein. Der nicht mehr benutzte Armstumpf ist verkümmert. Seine Gruppe hat ihn nicht nur gepflegt, bis die Brüche geheilt waren. Auch als er danach behindert blieb, hat sie ihn weiter unterstützt und bis zu seinem Tod einschließlich eines standesgemäßen Begräbnisses versorgt (Bick. 2006: 23).

    Im Jungpaläolithikum, das ist die Zeit von 40.000 bis 10.000 Jahren vor heute, tritt in Europa der anatomisch moderne Mensch auf. Neben verfeinertem Schmuck werden nun die Anfänge von Kunst, Musik und Begräbnisritualen greifbar. Während Menschen abstrakt dargestellt werden, werden Tiere realistisch und oft sehr „einfühlend" dargestellt. Die Höhlenmalereien in Lascaux und Altamira sind Zeugnisse ersten symbolischen Denkens. Sie stammen aus einer Zeit vor ca. 35.000 Jahren. Auch die ersten Musikinstrumente, Flöten aus Flügelknochen, stammen aus dieser Zeit. Die Akkumulation von Erfahrung im technischen Bereich insbesondere der Werkzeuge, aber auch im sozialen Bereich veränderte nicht nur die natürliche und technische Umwelt, sondern auch die soziale Umwelt und wirkte zugleich nach innen ins psychische- und biologische System. „Die Herstellung und Handhabung von Artefakten stimulierte durch Rückkoppelungen im motorischen System kognitive Prozesse und beschleunigte die biologische Gehirnentwicklung. Diese Selbstbezüglichkeit des Systems war für die Evolution des Menschen von zentraler Bedeutung. Impulse gingen nicht mehr ausschließlich von der natürlichen Umgebung aus, sondern wurden zunehmend im System selber produziert. Die manipulatorische Macht des Artefaktes veränderte die strukturellen Bedingungen der Evolution. Das Objekt der Evolution versuchte sich zunehmend in der Rolle des Subjekts" (Weniger. 2008: 216).

    Durch den aufrechten Gang wurde die Hand als natürliches Werkzeug freigesetzt. Verstärkt wurde dieser Tatbestand durch eine weitere folgenreiche Umgestaltung, die Oppositionsstellung des Daumens. Primaten haben die sich dadurch ergebende Schließfähigkeit nicht. Zudem hat die Hand neben der Zunge die höchste taktile Sensibilität. Die motorische Steuerung der Hand durch das Gehirn ist beim Menschen hochkomplex. Es war insbesondere Popitz, der darauf hingewiesen hat, dass frühe Technik, wesentlich Hand-Verstärkungstechnik ist (Popitz. 1995: 56). Unser Gehirn nimmt einen Hammer nach kurzer Zeit als Teil des menschlichen Körpers wahr. In der menschlichen Hand ist ein Bezug zur Welt gleichsam vorgeformt. Das Prinzip des Werkzeuges ist in der Hand schon angelegt.

    Im Prozess der Werkzeugherstellung wird nun neben Hand und Gehirn vor allem das Auge mit hineingezogen, so dass dieses auch lernt, feinste Unterschiede zu erkennen. Hand, Gehirn und Auge wirken so im Sinne eines lernenden Regelkreises zusammen. Das Gehirn spielt dabei die Rolle des Reglers. Auge und Hand sind in diesem Regelkreis die Sensoren, die Hand noch gleichzeitig das nach außen handelnde Organ. Dieses Prinzip finden wir schon in der Natur. Wir finden es in unserem Organismus wie auch in der Tierwelt, z. B. im Blutkreislauf und in der Regulierung des Blutdrucks. Dieses Prinzip finden wir aber auch in computergesteuerten Werkzeugmaschinen. D. h. aus Naturprozessen wurden Handlungsprozesse, die wiederum materielle technische Prozesse konzipieren und herstellen, die selbst wiederum in immaterielle Prozesse transformiert werden können. Zugrunde liegt immer das gleiche (nicht dasselbe!) Prinzip der selbstorganisatorischen Operationsweise. Dieses Prinzip werden wir bis zum Ende des Buches verfolgen und feststellen, dass es im Gegensatz zum Dogmatismus der soziologischen Systemtheorie selbst noch in seinem Modus wandlungsfähig ist. Die drei sich ausdifferenzierenden Modi operieren vollkommen verschieden und sind, nachdem sie sich ausdifferenziert haben, nicht mehr aufeinander reduzierbar, und dennoch bilden sie eine Einheit und ein Prinzip, da sie aus einem basalen Prinzip der Natur hervorgegangen sind. Wir Menschen haben jedoch die Fähigkeit, durch Transduktion diese Modi als Einheit zu erleben. Kleinkinder beherrschen diese Kunst schon in den ersten Lebenswochen. Sie müssen diese Kunst beherrschen, sonst könnten sie sich gar nicht entwickeln. Wir werden im zweiten Hauptteil hierauf ausführlich eingehen.

    3.2 Die „Produzierende Lebensform"

    3.2.1 Die Neolithische Revolution

    Seit Gordon Childe (1892–1957) nennen wir den Übergang von der aneignenden Lebensform der Jäger und Sammler zur produzierenden Lebensform der Ackerbauern und Viehzüchter Neolithische Revolution. Damit erhält das Neolithikum eine ökonomische Definition. Gordon Childe war Archäologe, der weit über sein Fach hinausschauen konnte und immer wieder darauf hingewiesen hat, dass die Urgeschichtsforschung nur dann Erfolg haben kann, wenn sie die Naturgeschichte und die Kulturgeschichte als Einheit begreift. „Mit Hilfe der Archäologie wird die Geschichte zusammen mit ihrem Vorspiel, der Vorgeschichte, zu einer Fortsetzung der Naturgeschichte" (Childe. 1952: 9). Im Neolithikum hat sich die Ökonomie aus der Natur (Ökologie) ausdifferenziert. Wenn man die Ökonomie als den Austausch der menschlichen Gesellschaft mit der Natur versteht, ist dies kein Mysterium. Die ständigen rekursiven Operationen in der Triangulation Auge, Hand und Gehirn haben nicht nur die zum Ackerbau und Viehzucht notwendige Techno- und Sozialstruktur entstehen lassen, sondern auch die hierzu notwendigen Denkstrukturen. „Übungsgewinne im Umgang mit Werkzeugen müssen zu Differenzierungen der Leistungen von Hand, Auge und Gehirn geführt haben. Werkzeugtechnik war auch ein Agens der menschlichen Phylogenese" (Popitz. 1952: 10). D. h. aber auch, dass es Entsprechungen geben muss zwischen Naturstrukturen, Handlungsstrukturen und Denkstrukturen, sonst hätte diese Entwicklung in dieser Form nicht in Gang kommen und der Ausdifferenzierungsprozess nicht stattfinden können.

    Am Vorabend der Neolithischen Revolution muss es schon aufgrund der – zur absoluten Nulllage der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung hin gesehen – relativ hoch entwickelten Werkzeugtechnik eine erste rudimentäre Arbeitsteilung gegeben haben, die nicht ohne Auswirkungen auf das soziale Geschehen der Gemeinschaft geblieben sein kann. Alleine die Großwildjagd erforderte eine soziale Koordination, die nach dem Muster der Kooperation am effizientesten war. Diese ersten Differenzierungen führten jedoch nicht zur Hierarchisierung. Im Wesentlichen konnte jeder den anderen ersetzen. Die Gesellschaften blieben egalitär. Ein individuelles Eigentum, das über die eigenen Werkzeuge und Waffen hinausgegangen wäre, gab es nicht. Ein Ausscheiden aus der Gemeinschaft war kein Problem für die Gemeinschaft. Ganz anders nun beim Einsatz von Ackerbau und Viehzucht.

    Erstmals erscheinen nun am Horizont die Zeit und der Wert, ohne dass den Menschen des Neolithikums diese Begriffe bekannt gewesen wären. Der Bauer investierte in die Zeit, indem er in den Boden als Wert investierte. Die Zeit ist der Transporteur seiner Anstrengungen. Im Vergleich zur jagenden und sammelnden Gemeinschaft sind Aufwand und Ertrag zeitlich auseinander gezogen. Dies muss eine fundamental neue Erfahrung gewesen sein, die mit Risiken, die es abzuwägen galt (Werte) verbunden waren und Planungen (Zeit) erforderlich machten, die in beiden Dimensionen weit über die bisherigen Erfahrungen hinausgingen. Es entstand Eigentum. Der Bauer war an seine Scholle gebunden, er konnte nicht einfach weggehen. Er hatte in den Boden investiert. Eigentum wurde vererbt, man übernahm es von den Vorfahren. So entstanden mit der neuen Lebensform ganz neue, zuvor nicht gekannte Abhängigkeiten und Verpflichtungen seinen eigenen Nachkommen gegenüber. Zukunft und Vergangenheit traten in Relation zur Gegenwart ins handelnde Bewusstsein, noch nicht ins reflexive Bewusstsein. Dies ereignete sich erst ca. 10.000 Jahre später während der Achsenzeit. Wir kommen hierauf ausführlich zurück.

    Die neue Technostruktur erzwingt in seiner Wechselwirkung eine Sozialstruktur, die auf intergenerative Kontinuität ausgelegt ist. Es entsteht ein langfristiges Verhältnis an der Erhaltung der Produktionsanlagen. Was die Erde hervorbringt, ist nun nicht nur die Leistung der Natur, sondern die Leistung der Kultivierung, ist angesammelte Arbeit, die durch aktuelle Arbeit langfristig genutzt werden kann. Wichtig ist diese Differenz. Die gegenwärtige Generation zieht Nutzen aus der Arbeit der vorangegangenen Generationen. Nicht dass das den Menschen im Neolithikum reflexiv bewusst gewesen wäre, sie haben jedoch entsprechend gehandelt. Noch heute ist uns dies nicht hinreichend bewusst. Dies ist im Übrigen eines unserer zentralsten Probleme überhaupt ebenso wie die Differenz von Handeln können und seiner reflexiven Bewusstheit. Wir kommen hierauf zurück.

    Angesammelte Arbeit kannten die Jäger und Sammler nicht. Hieraus entwickelt sich der moderne Begriff Kapitalakkumulation: eine Vorleistung oder ein Wert für die kommende Generation. Es entsteht jedoch nicht nur ein intergeneratives Abhängigkeitsverhältnis, sondern auch ein Abhängigkeitsverhältnis innerhalb des bestehenden Kollektivs. Mit Einführung des Ackerbaus entsteht der Zwang zur Vorratswirtschaft, geerntet wird nicht das ganze Jahr über. Der Interessenhorizont erhält eine höhere Bedeutung. Das Kollektiv muss nun vital daran interessiert sein, seine personelle Zusammensetzung zu kontrollieren. Hierzu gehören Regeln der Zugehörigkeit, vor allem auch für Neugeborene. Dies leisten Abstammungsregeln. „Was wir Abstammung und Verwandtschaft nennen, war geschichtlich die Konsequenz eines Produktionsverhältnisses, auf das sich Menschen eingelassen haben, als sie sesshaft wurden, Land kultivierten, Samen aussäten und Vorräte anlegten" (Popitz. 1995: 90). Sozialbindung und Objektbindung beeinflussen sich wechselseitig. Der Begriff Objektbindung wird uns in der Form des „Übergangsobjektes" bzw. „Übergangsphänomens" ausgiebig beschäftigen. Mit Hilfe dieser Begriffe lässt sich Vieles von dem, was sich heute in unserer Gesellschaft vollzieht verständlich machen. Im Übrigen werden wir Vieles von dem, was sich hier im ersten Hauptteil auf der menschheitsgeschichtlichen Ebene vollzieht, im zweiten Hauptteil, in dem der lebensgeschichtliche Prozess im Vordergrund steht, wiederfinden. Phylogenese und Ontogenese sind aufs Engste miteinander verschränkt, und damit auch Ökonomie und Bildung. Vor allem ist darunter aber nicht Bildungsökonomie zu verstehen. Zeit und Wert sind hier die verbindenden Kategorien nicht Geld. Bildung lässt sich nicht mit Geld verständlich machen oder steuern, ebenso wenig geht dies heute mit dem Gegenstand (Objekt) der Ökonomie, wie wir später sehen werden.

    Was noch zu klären ist, ist die Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass aus Jägern und Sammlern, die von der Natur lebten, Ackerbauern und Viehzüchter wurden, die nun in die Natur eingriffen und sie veränderten und damit ihre ganze Lebensform. Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass es die Natur war, die die Menschen dazu gebracht hat, diesen Übergang zu vollziehen. Dies ist sicherlich richtig, wenn es in dem Sinne verstanden wird, wie wir den Übergang vom Tier zum Menschen beschrieben haben. Hier waren es klimatische Änderungen, die zusammen mit der neuen Lauftechnik aus Naturprozessen Handlungsprozesse werden ließen. Falsch ist jedoch die ebenfalls verbreitete Annahme, dass eine bedrückende Umweltsituation die Menschen zu dieser gewaltigen Transformation ihrer Lebensform gezwungen habe. Das Gegenteil ist der Fall. Die Entdeckung von Ackerbau und Viehzucht fand in einer Zeit des Überflusses statt, und es waren geistige Antriebskräfte, die dabei die entscheidende Rolle spielten. Die Denkstrukturen hatten sich, wie oben beschrieben, aus den Naturstrukturen über hunderttausende von Jahren immer stärker ausdifferenziert und ein Niveau erreicht, so dass nun auch komplexere Sozialstrukturen entstehen konnte, die die neue Technostruktur steuern konnte. Hinzu kamen vor ca. 12.000 Jahren klimatische Verhältnisse in der Region, wo die Neolithische Revolution in Gang gesetzt wurde, die optimal waren.

    Auf den Hochebenen Südostanatoliens war das Klima nach der letzten Eiszeit ähnlich wie heute. Der Hauptunterschied war die Vegetationsdecke. Berge und Hügel waren viel stärker bewaldet als heute. Die Wurzelsysteme der Wälder hielten die im Boden befindliche Feuchtigkeit. Dies alles lässt sich heute gut rekonstruieren. „So weiß man beispielsweise, dass dort, wo offener Eichenwald mit (Terpentin-)Pistazien und wilden Mandelbäumen nachweisbar ist, auch zahlreiche Grasarten einschließlich wilder Getreidearten wie Weizen, Gerste und Roggen wachsen, außerdem Hülsenfrüchte wie Linsen, Erbsen, Bohnen und Wicken" (Watkins. 2007: 38 f.). In dieser Region waren zugleich auch die Wildformen unserer heutigen Haustiere Schafe, Ziegen, Rinder und Schweine heimisch. Alles traf in dieser Region zusammen. In Europa waren Ziege und Schaf nicht heimisch. Nur dort war das, was wir heute unter Ackerbau und Viehzucht verstehen, überhaupt möglich. Nicht nur die domestizierten Tiere wurden gejagt, sondern vor allem Gazellen, Antilopen und Hirsche waren im Überfluss vorhanden.

    Die Menschen waren in dieser Region als Jäger und Sammler schon lange sesshaft und hatten seit Jahrtausenden pflegerischen Umgang mit Wildgetreide (Müller-Beck. 2004: 97). Wo aber lag der Ursprung der großen Transformation vor 12.000 Jahren. Sie lag nicht in den fruchtbaren Flusstälern, wie wir gerade gelernt haben, sie lag auch nicht im Dorf. Das sesshafte, dörfliche Leben ist zwar notwendig, wie auch die oben beschriebene natürliche Umwelt, jedoch ist dies nicht hinreichend. Für die gewaltigen logistischen (Zeit) und produktiven (Wert) Herausforderungen bedurfte es eines bestimmten kognitiven Entwicklungsniveaus und damit geistiger Anschübe. Es bedurfte eines technologischen und sozialen Ethos. Die sind zunächst gewachsen im Tempelbau und Tempelbetrieb als sozialer Ort der Kommunikation und Festigung der Gemeinschaft. Erst seit wenigen Jahren wissen wir, dass es einen Tempelbau jagender und sammelnder Gemeinschaften gab, Jahrtausende bevor sie zu Ackerbauern und Viehzüchtern wurden (Badisches Landesmuseum Karlsruhe. 2007; Schmidt. 2008).

    Mitte der 90-er Jahre des letzten Jahrhunderts, also vor etwa 20 Jahren, wurde in Südostanatolien ein steinzeitlicher Ort mit monumentaler, megalithischer Architektur freigelegt. Der sogenannte Göbekli Tepe datiert ins 10. und 9. Jt. v. Chr. Es handelt sich nicht um eine Siedlung, sondern um einen zentralen rituellen Ort für eine ganze Region mit einem Radius von 200 km. Dieser steinzeitliche Tempel, von seiner Wucht her vergleichbar mit dem sechstausend Jahre später erbauten südenglischen Stonehenge, besteht aus Steinkreisen aus monolithischen T-förmigen Pfeilern, die bis zu 5 m Höhe erreichen. Diese Pfeiler stellen in stilisierter Form menschengestaltige Wesen dar. Interessant ist, dass im Gegensatz zu der abstrakten Darstellung des Menschen auf diesen Pfeilern Tiere realistisch dargestellt sind. Diese steinzeitliche Tierwelt gibt aber keinen Hinweis auf Haustiere. Es handelt sich offensichtlich noch um eine schamanistische Welt von Jägern und Sammler, die Geschichten und Begebenheiten in Stein meißelten. „Der Göbekli Tepe gehört noch der Welt der Jäger und Sammler an – er war noch nicht wirklich >neolithisch<, er markiert die fulminante Schlussphase einer jägerischen Kultur, die kurz vor dem entscheidenden Umbruch der Menschheitsgeschichte steht: der Neolithischen Revolution, der grundlegenden Änderung der Nahrungsbeschaffung und bewusst betriebener Produktion, der Erfindung bäuerlichen Lebens" (Schmidt. 2007: 75).

    Für diesen monumentalen steinzeitlichen Kultort muss über Jahre eine Vielzahl von handwerklich arbeitenden Menschen versorgt worden sein, die für ihre Ernährung selbst nicht haben eintreten können. Dies ist nur möglich, wenn Nahrung im Überfluss vorhanden war. Zu dem, was sich an diesem Heiligtum rituell abgespielt haben mag, wollen wir wieder den leitenden Archäologen zu Wort kommen lassen. „Was sich dort im Einzelnen zugetragen hat, welche Kulte dort im Einzelnen gepflegt und welche Riten vollzogen wurden, wissen wir nicht. Aber ganz ohne Performance machen die monumentalen Anlagen keinen Sinn – ein schieres, schon in der Steinzeit >stummes< Denkmal sind sie nicht gewesen. Ob wir uns die dort vollzogenen Handlungen laut und farbenfroh vorstellen dürfen oder gedeckt feierlich, bleibt freilich zumindest bisher der Phantasie überlassen. Ohne begleitende Festivitäten, ohne Choreographie und musikalische Untermalung wird das Geschehen kaum vonstatten gegangen sein, wenn sich der Kultmechanismus am Göbekli Tepe in Bewegung setzte. Und ganz sicher hat das, was sich dort vollzog, auch eine Funktion als Machtdemonstration, wobei wir auch in diesem Zusammenhang nicht wissen, ob es um die Macht eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft ging. In jedem Fall aber müssen Ort und Geschehen für die Gemeinschaft wie auch für den Einzelnen so hochbedeutend gewesen sein, dass das Individuum jenen enormen Arbeitseinsatz (Hervorhebung G. R.) im Kollektiv zeigte, ohne den diese Anlage nicht denkbar wäre. Diese geistigen Antriebskräfte dürfen daher in ihrer Bedeutung für den Kulturprozess, den die Menschen dieser Epoche durchliefen, nicht unterschätzt werden [. . .] Es bedeutet nicht zuletzt ein Versorgungsproblem (Hervorhebung G. R.), da sie nicht ihrer gewohnten jägerischen Tätigkeit – und ganz sicher nicht in dem üblicherweise erforderlichen Ausmaß – haben nachkommen können. Verfolgen wir diese Überlegungen noch einen Schritt weiter und stellen in Rechnung, dass damals auch die Kenntnis der Pflanzenkultivation schwerlich über erste Anfänge hinaus gediehen war, so drängt sich in Modifikation bestehender Hypothesen die Frage auf, ob nicht die >Erfindung< des Ackerbaus ein Epiphänomen dieser vielköpfigen Versammlung der Jäger und der sie begleitenden Arbeitseinsätze war. Beobachten wir nicht gerade am Göbekli Tepe die Anfänge der arbeitsteiligen Gesellschaft?" (Schmidt. 2008: 246 f.).

    Am Göbekli Tepe hat sich offensichtlich die notwendige geistige Transformation vorbereitet, vom schamanistischen Denken, bei dem die Tierwelt noch im Zentrum steht, zum religiösen Denken, bei dem die Menschenwelt Bedeutsamkeit erlangt. Dies zeigt sich daran, dass die Tierwelt schon realistisch dargestellt werden kann, während die menschenähnlichen Pfeiler stilisiert dargestellt sind. Und dennoch dominieren die T-förmigen Pfeiler das Ganze. Nach Stabilisierung der neuen produzierenden Lebensform waren die Menschen in der Lage, die auf dem nun entstandenen Ahnenkult basierenden Idolfiguren qualitätsvoll und realitätsnah herzustellen. „Die stolze aufrechte Haltung und die eingestemmten Arme der menschengestaltigen Idole strahlten Selbstbewusstsein, Herrschaftsanspruch und Macht aus" (Lüning. 2007: 187 f.). Am Horizont erschien schon während des Neolithikums die Differenz der drei Welten, die uns bis zum Ende des Buches begleiten wird. Was ursprünglich eine Welt war, kann heute auf unvergleichlich höherem Niveau in ihrer reflexiv bewussten Differenz wieder eine Welt werden: die Welt der subjektiven Empfindungen, die soziale Welt und die objektive Welt. Obwohl die Menschen dies alles durch ihr Handeln zum Ausdruck bringen konnten, war ihnen diese Differenz nicht bewusst. Auch war ihnen nicht bewusst, dass sie sich damit in Opposition zur Tierwelt und Natur insgesamt stellten. Die exzessive Jagdtechnik, die es ihnen ermöglichte, den Tempel zu bauen, machte es am Ende notwendig, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Was gleichsam natürlich und in anderer Absicht begann, wurde zu Beginn des 8. Jt. v. Chr. notwendig.

    „Die Machtelite des Göbekli Tepe [bereitete] offenbar selbst den Boden, neue Lebensformen zu entwickeln. Deren Entstehen erscheint, wie gezeigt, zwanglos aus den Bedürfnissen einer für bestimmte Zeit auf engem Raum konzentrierten Menschenmenge ohne weiteres erklärbar. Nicht die neuen, von der Natur aufgezwungenen Überlebensstrategien, sondern die durch religiöse Verhaltensweisen hervorgerufenen gesellschaftlichen Zwänge führten offenbar zur Entwicklung neuer Subsistenzstrategien" (Schmidt. 2008: 255, Hervorhebungen G. R.). Heute, 12.000 Jahre später, ereignet sich auf unvergleichlich höherem materiellem und geistigem Niveau Vergleichbares. Wie im Neolithikum die neue Lebensform sich schon in der alten noch jagenden und sammelnden d. h. „Aneignenden Lebensform" vorbereitet hat, so hat sich die auf uns zukommende neue „Sich bildende Lebensform" schon längst vorbereitet, wie wir im Folgenden sehen werden. Heute sind es jedoch nicht religiöse Ideen, sondern wissenschaftliche Ideen und die von ihnen geprägte Verhaltensweisen, und die Machteliten sind auch keine Jäger mehr – es sei denn man denkt an Geldjäger –, sondern es sind die Manager des ökonomischen Systems, die der Ablösung harren, die sie aber wie die Jäger, also die Erbauer der Tempel, selbst eingeleitet haben. Heute sind es allerdings keine religiösen Tempel, sondern monetäre Tempel, die als solche überholt sind.

    „Wir wissen heute, dass zu Beginn des 8. Jahrtausends v. Chr. die Bautätigkeit – und offenbar auch die Nutzung der Bauten – am Göbekli Tepe endete. Die Jägergesellschaft war der bäuerlichen Gesellschaft gewichen, und die Menschen waren sesshaft geworden. Die Siedlungen der Bauern lagen fortan in den Tälern im Bereich der fruchtbaren Böden, die den Ackerbau erlaubten [. . .] Der Göbekli Tepe bildete dazu den Antipoden: eine Berganlage ohne nahes Ackerland und Wasser. Damals verließen die Menschen den alten Kultort, gaben ihn endgültig auf, hatten die Monumente mit Geröll und Gestein bedeckt und so ihre Vergangenheit bestattet, ehe sie zu den verheißungsvollen Siedlungsanlagen in der näheren Umgebung zogen und sich als Bauern niederließen. Die Feuer der Jäger, die so lange um das Heiligtum gebrannt hatten, waren für immer erloschen" (Schmidt. 2008: 255).

    3.2.1.1 Exkurs I – Die Entstehung der objektiven (messbaren) Zeit

    Am Ende des Buches werden wir ein wesentlich differenzierteres Zeitverständnis haben, als es heute vorherrscht. Wenn wir heute von Zeit sprechen, meinen wir immer die objektive, messbare Zeit, die Zeit, die uns die Uhren anzeigen. Diese objektive Zeit ist jedoch erst eine späte Errungenschaft der Menschheitsgeschichte und entwickelt sich auch in jeder Lebensgeschichte erst in der operationalen Phase. Bis zu diesem kognitiven Entwicklungsniveau ist die Organisation des Handlungsfeldes noch an die konkrete Handlung gebunden. In der präoperationalen Phase (ca. 2. bis 7. Jahr) liegt zwar die Sprache schon vor, jedoch ist sie noch an die Verlaufsform des konkreten Handelns gebunden. Dies soll nun am Begriff der objektiven Zeit verdeutlicht werden. Dabei zeigt sich, (1) dass die Denkstrukturen und damit die Urteilsfähigkeit über die Handlungsstrukturen aufgebaut werden. Zugleich erfahren wir, (2) dass jede individuelle Lebensgeschichte durch unsere gesamte kollektive Menschheitsgeschichte hindurchgeht. Und (3) wird deutlich, dass sich unsere kategorialen Strukturen (Begriffe) aus unseren operationalen Strukturen (Autopoiesis, hierzu später mehr) ausdifferenzieren und zugleich abhängig bleiben. Die kategorialen Strukturen und die operationalen Strukturen bilden eine Einheit. Dies bleibt Gegenstand unseres gesamten Buches. Die nun folgenden Ausführungen haben wir mit geringen Änderungen unserem Buch „Ein neues Paradigma der Ökonomie" (Röttger 2009: 129 ff.) entnommen. Dabei beziehen wir uns im Wesentlichen auf Dux (1989):

    In der präoperationalen Phase, also wenn das Kind noch handlungszentriert urteilt, wird es von zwei Bewegungsabläufen, wie in Abb. 1 dargestellt, die gleichzeitig beginnen und gleichzeitig enden, jedoch unterschiedliche Strecken beinhalten, behaupten, dass der mit der längeren Strecke, mehr Zeit gebraucht habe und die Gleichzeitigkeit der Anfangs- und Endpunkte in Abrede stellen.

    Diese Urteilsfindung entspricht dem Niveau einer Logik des Handelns, die Dux zentrierte Handlungslogik nennt, da die Urteilsfindung einer erst rudimentär entwickelten Handlungskompetenz entspricht. Diese reicht noch nicht über das Niveau der Organisation einer konkreten Handlung hinaus. Die Urteilskompetenz bleibt auf eine Handlung zentriert, die an den Aktor gebunden ist. Daher hat für Heranwachsende auf diesem Niveau der kognitiven Entwicklung jedes Geschehen seine eigene Zeit. Von hier verzweigen sich die subjektive Zeit und die objektive Zeit, der wir im Folgenden nachgehen werden.

    Auf dem Niveau der noch subjektivistischen Zeit braucht man für einen weiteren Weg eben auch mehr Zeit. Diese Zeit wird noch leiblich empfunden. Für eine längere Strecke benötigt man mehr Kraft und daher auch mehr Zeit. Kognitive Konstrukte und damit auch die Zeit werden aus der konkreten Erfahrung entwickelt. Sie werden dann in wiederkehrenden Strukturen handlungsbestimmend. Sie haften damit in ihrer elementaren Form an dem einzelnen Geschehen. Noch ist es unmöglich, sich gleichzeitig in zwei Handlungsverläufe zu versetzen und sie gleichzeitig als selbstständige Handlungen wahrzunehmen. Erst recht ist es unmöglich, sich in den Handlungsverlauf eines anderen zu versetzen. Der Aufbau der objektiven Zeit ist an die Entwicklung dieser sozialen Kompetenz gebunden und insofern eine sozial entstehende Kategorie. Dieser Perspektivenwechsel ist dem Kind auf dem präoperationalen Niveau nicht möglich. Dies macht deutlich, wodurch einzig die Entwicklung vorangetrieben werden kann: „durch den Ausbau der Handlungskompetenz als Interaktionskompetenz. Um Zeit zu entwickeln, muss vom eigenen wie vom Standpunkt des anderen gedacht werden können [. . .]. Um in der Entwicklung der Zeit über die an die zentrierte Handlungslogik gebundene Zeit hinauszugehen, muss die Handlungskompetenz deshalb von der eigenen konkreten Handlung gelöst werden. Handlungen müssen in einer abstrakten Zeit konzipiert und miteinander koordiniert werden können. Mit der Entwicklung dieser von der eigenen Handlung abgelösten Kompetenz stoßen wir an eine Grenze der ontogenetischen Entwicklung in der Geschichte. Diese Kompetenz ist nämlich, wie wir sehen werden, für die Lebensführung unter einfachen sozialen Verhältnissen nicht notwendig. Interaktionen in face to face Beziehungen lassen sich unter den konkreten, übersichtlichen Bedingungen eines Handlungsfeldes ohne sie führen. Erst wenn Handlungen in abstrakto geplant werden müssen, muss auch diese Kompetenz entwickelt werden. Dann wird sie auch entwickelt. Es hat Jahrtausende gedauert, bis diese Organisation erreicht war; nachdem es erreicht ist, nimmt sich die ontogenetische Entwicklung aus, als strebe sie ebenso naturwüchsig wie zielstrebig dieses Entwicklungsstadium an. In Wahrheit bilden sich die späten ontogenetischen Stufen nicht anders als die frühen auch: unter den Anforderungen einer Außenwelt, nur dass diese Außenwelt selbst fortentwickelter ist" (Dux. 1989: 86).

    Dux zeigt nun anhand seiner vergleichenden Untersuchungen bei Kindern und Erwachsenen in archaischen Gesellschaften auf der Stufe von Jägern und Sammlern, wie auch Ackerbauern und Probanden in westlichen Industriegesellschaften, dass die operationale Struktur der Zeit sich in der kulturellen Nulllage von Phylogenese und Ontogenese entsprechen (1989). Die Erwachsenen der Jäger- und Sammler-Gesellschaften haben das operationale Niveau von Kindern der westlichen Industriegesellschaften. Jedoch ist die Welt der Erwachsenen der Jäger und Sammler keine Welt von Kindern. Es ist eine vollständige Welt auch kategorialer Strukturen. Ihre Begriffswelt ist jedoch nicht die unserer wissenschaftlichen Welt, sondern eine Welt der Mythen. Entsprechend eingeschränkt ist auch ihre Handlungskompetenz, und damit ihre Eingriffsmöglichkeiten in die äußere Welt. Dabei meint äußere Welt sowohl die physische wie auch die soziale Welt.

    Dux hat seine Untersuchungen in Jäger- und Sammler-Gesellschaften im Amazonasgebiet und bei einfachen Ackerbauern in Indien durchgeführt und mit den Ergebnissen aus Untersuchungen westlicher Gesellschaften verglichen. Seine Ergebnisse sind eindeutig. Zeitkonzepte wie Gleichzeitigkeit, Geschwindigkeit und Dauer benötigen ein spezifisches Niveau operativer Kompetenz. Aus diesen Ergebnissen zieht Dux zwei wesentliche Folgerungen: „1. Die Urteilskompetenz der Erwachsenen ist die nicht weiter entwickelte Urteilskompetenz der Kinder resp. Jugendlichen. 2. Die unterschiedlichen Urteilsniveaus der Erwachsenen in sozialstrukturell unterschiedlich entwickelten Gesellschaften folgen der Strukturlogik, die wir aus der fortgeschrittenen ontogenetischen Entwicklung kennen" (1989: 111). Den Macu am Amazonas fehlt der Begriff der Zeit, so wie wir ihn kennen, wenn wir sagen „es kostet viel Zeit". Die Macu kennen weder einen Begriff für Geschwindigkeit noch für Dauer. In ihrer Gesellschaft ist Zeit gebunden an das konkrete Geschehen, es ist eine qualitative Zeit der Handlung. Vor dem Hintergrund unseres Wissens über die kognitive Entwicklung in der Ontogenese kommt Dux zu folgender Aussage: „Wenn die Organisationskompetenz über die Welt weiterentwickelt werden soll, dann ist das nur möglich, wenn ein abstrakter Begriff von Zeit ausgebildet wird [. . .]. Denn der Fortschritt der Erkenntnis ist strukturlogisch an den Fortschritt der Organisationskompetenz gebunden. Und der muss kein Fortschritt guten Lebens sein. Allein, nicht der Fortschritt guten Lebens steht zur Diskussion, sondern einzig der der Erkenntnis" (1989: 112). Der Fortschritt der Erkenntnis und der Fortschritt der Handlungskompetenz bringen sich wechselseitig voran.

    In Abb. 2 ist ein Experiment abgebildet, das Dux mit seinen Mitarbeitern sowohl in Brasilien wie auch in Indien durchgeführt hat und das Problem der Gleichzeitigkeit veranschaulicht.

    In dieser Versuchsanordnung beginnen und enden beide Bewegungsabläufe gleichzeitig. Zwei Kinder der westlichen Industriegesellschaft antworten auf die Frage der Gleichzeitigkeit wie folgt (Dux. 1989: 113 f.):

    In der gleichen Weise antworten auch die Macu und auch noch einige Inder, so auch ein 35-jähriger Macu. Seine Begründung ist, er habe es so gesehen. Es kann jedoch nicht seine Wahrnehmung sein (so Dux), die ihn dazu veranlasst, dies zu sagen, sondern seine Urteilskompetenz, die aufgrund der unterschiedlich langen Wege einen operanten Mechanismus ins Spiel bringt, der jedoch an einen Erfahrungsschatz gebunden ist, der unterschiedlich formuliert wird, je nach Zentrierung der Aufmerksamkeit auf die eine oder andere Bewegung. So können folgende Antworten gegeben werden:

    Wer den weiteren Weg hat, geht bei gleicher Ankunft früher los.

    Wer früher losgeht, kommt früher an.

    Wer früher losgeht, kann früher stehen bleiben.

    Die Zentrierung auf eine Bewegung kommt hier in allen drei Aussagen deutlich zum Ausdruck. Es ist auch nicht die Wahrnehmung, die den kognitiven Mechanismus bestimmt wie alle drei Antworten zeigen. Das Gegenteil ist der Fall, die Kognition setzt die Wahrnehmung außer Kraft. Dux macht deutlich, dass die Macu eifrig bemüht waren, was sie sahen gegen das, wozu das Urteil sie zwang, aufrecht zu erhalten, indem sie versicherten, dass es jeweils nur ein kleiner Unterschied gewesen sei, der der eine früher als der andere losgegangen sei. Es ist auch nicht das Urteilsvermögen, das relevant ist für die Lebenspraxis der Macu. Denn „es wäre schwer vorstellbar, wenn die Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit defizient wäre. Diese Art der Defizienz nämlich würde voll in die Praxis durchschlagen. Ganz anders, wenn wir annehmen müssen, dass das Defizit nicht in der Wahrnehmung sondern in der Urteilsbildung liegt. Die nämlich bereitet in allen praktischen Geschehen keine Schwierigkeiten. In den interaktiven Koordinationen alltäglichen Tuns werden nämlich explizite Urteile, wie sie von uns erfragt wurden, nicht benötigt" (Dux. 1989: 114).

    Die falsche Einschätzung der Gleichzeitigkeit führt auch zu falschen Urteilen bezüglich Geschwindigkeit und Dauer. Dabei ist es für uns interessant, dass ontogenetisch die Geschwindigkeit, als Relationsbegriff von Zeit und Weg, früher verstanden wird als der zunächst einfacher erscheinende Begriff der Dauer. Das liegt daran, dass die Dauer tief in den Strukturen des Leiblichen eingraviert ist, wie wir später zeigen werden. Damit – und dies ist entscheidend für unsere Arbeit – liegt der genetische Ursprung der abstrakten Zeit in der konkret empfundenen Zeit.

    Das Unvermögen der richtigen Einschätzung der Geschwindigkeit und Dauer mit seiner eindeutigen Fehlertypik zeigt sich in dem in Abb. 3 abgebildeten Experiment (Dux. 1989: 116):

    Die Antworten sind alle ähnlich: „Der Gerade ist schneller; er hat den kürzeren Weg". Eine Frau vom Stamme der Caboclo, fügt, nachdem sie erkannt hat, dass der äußere den weiteren Weg hat, hinzu: „Wenn das äußere ein Kanu mit Motor wäre, wäre er schneller". Dann bleibt sie jedoch dabei, dass der innere in jedem Fall schneller war. Im Vergleich hierzu waren die indischen Probanden –aus der Ackerbaugesellschaft – bis auf wenige Ausnahmen in der Lage, die Geschwindigkeit richtig einzuschätzen und auch zu begründen. Dux kann abschließend auch bei allen Experimenten nachweisen, dass die Dauer, wie in der Ontogenese, später als die Geschwindigkeit verstanden wird. Dies führt er auf die tiefsitzende Pragmatik der Erfahrung der Dauer zurück. Die Dauer ist eng verbunden mit leiblichen Befindlichkeiten wie Hunger und Schmerz. Zahnschmerzen zu haben ist eine Dauer zu eigen. Jedoch ist lediglich das Bewusstsein des Andauerns gegenwärtig, kein Maß jedoch für Anfang und Ende und damit eine quantitative Bestimmung. Nur die Qualität des Schmerzes ist bewusst. Diese Entsprechung der Entwicklungslogistik der Ontogenese mit der kognitiven Kompetenz auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungsstufen kommentiert Dux wie folgt: „Die Differenz in der Entwicklung zwischen beiden (Geschwindigkeit und Dauer, G. R.) bestätigt nämlich die aus der Ontogenese heraufgeführte Entwicklungslogik in ihrem innersten Kern: der Pragmatik, über die sie sich bildet. Denn wir haben ja bereits gesehen, dass der Grund für die frühzeitige Entwicklung des intuitiven Verständnisses der Geschwindigkeit sich einer elementaren Erfahrung verdankt: der größten Kraft bei gleichem Weg. Diese Erfahrung gewinnt auf der Erwachsenenebene aber noch größere Bedeutung. Denn hier sind komparative Bestimmungen der Geschwindigkeit täglich gefordert. Dabei wird der intuitive Parameter der Leistung durch die Anschauung des schneller zurückgelegten Weges unterstützt. Letzten Endes ist es also der Umstand, dass die Zeit im Kontext der Handlung und d. h. mit fortschreitender Ontogenese auch der Arbeit (Hervorhebung G. R.) ausgebildet werden muss, der das intuitive Verständnis der Geschwindigkeit sich entwickeln lässt" (Dux. 1989: 116 f.).

    Bei den Macu waren 90 % aller Probanden nicht in der Lage, die Geschwindigkeit richtig zu begründen. Bei zwei anderen Jäger- und Sammler-Gesellschaften im Amazonasgebiet mit stärkerem Kontakt zur westlichen Zivilisation, den Caboclos und Tucanos, lag der Prozentsatz nur noch bei 57 %. Hingegen konnten die Probanden aus der Ackerbaugesellschaft in Indien nur noch zu 6 % keine zutreffende Begründung zur Geschwindigkeit abgeben. Jedoch konnten auch hier 40 % keine Begründung zur Dauer abgeben. Die Macu waren hierzu gar nicht in der Lage. „Die Untersuchungen zeigen in jeder einzelnen Antwort die gleiche Logik, die wir aus der Ontogenese kennen; und sie zeigen intra- wie intergesellschaftlich die gleiche Logik in der Entwicklung [. . .]. Der Befund ist unumstößlich: in soziostrukturell wenig entwickelten Gesellschaften, wie den von uns untersuchten, ist mit einem präoperationalen Zeitverständnis auszukommen, [. . .]" und „Das ist nun der zweite Befund, den unsere Untersuchungen erbracht haben: Es gibt eine aus der Ontogenese herausgeführte Entwicklungslogik der geistigen Operationalität. Auf dieser Entwicklungslogik liegt, was an gesellschaftlichen Zeitvorstellungen jeweils (Hervorhebung G. R.) ausgebildet ist" (Dux. 1989: 118).

    Wir haben uns bisher mit der Entwicklung der operationalen Zeitstrukturen beschäftigt. Und dabei gesehen, dass sie sich zum einen aus der Leiblichkeit der Wahrnehmung heraus entwickeln und dass andererseits diese Entwicklung an die Handlungsstruktur gebunden ist. Von der Entwicklung der operationalen Strukturen ist jedoch die Entwicklung der kategorialen Strukturen zu unterscheiden. Erst über die Fassung von Begriffen entstehen Sinnstrukturen und Weltbilder (Dux. 1982). Auch die Entwicklung der kategorialen Strukturen ist an die Handlungsstruktur gebunden. Dux fasst die Handlung daher als ein interpretatives Paradigma auch für die Kategorie Zeit auf (1989: 121 ff.). Die Handlungslogik ist von daher eine explikative Logik, sie klärt sowohl warum etwas ist, als auch wie etwas ist. Dies liegt in der Dynamik der Welt, die in der Struktur der Handlung ihren Aufbau nimmt. Die Welt muss daher in ihr auch ihre Erklärung finden. Daher ist die zentrierte Handlungslogik zugleich eine Ursprungs-, Substanz- und Identitätslogik. „Auf dem Grund der Handlungslogik wird etwas dadurch erklärt, dass das Denken vom Vorfindlichen ausgeht, es auf seinen Ursprung zurückführt, um es aus ihr heraus entstehen zu lassen. Die Handlungslogik ist mit einem Wort eine Ursprungslogik. Doch das ist nicht alles [. . .].

    Die Ursprungslogik ist eine Substanzlogik. Und damit zugleich eine Identitätslogik: Nichts in der Welt, das nicht mit dem, woraus es hervorgegangen ist, identisch wäre, – die Zeit mit der Zeit. Es ist exakt diese Form der Begründungsstruktur, die wir in aller Zeit durch die Geschichte hin wiederfinden" (Dux. 1989: 128).

    Durch die Bindung der Zeit an die konkrete einzelne Handlung sind die operationale und die kategoriale Struktur noch nicht getrennt. Dies führt dazu, dass jedes Geschehen seine eigene Zeit hat. Die Zeit ist damit auf diesem Niveau der kognitiven Entwicklung noch eins mit der Wahrnehmungswelt und hierdurch eine jedem Leben eigene Zeit. Und sie ist wegen der Bindung an das konkrete Geschehen unlöslich mit dem Raum verbunden. Raum und Zeit sind daher noch keine getrennten Kategorien. Außenwelt und Innenwelt sind noch nicht getrennt. Es handelt sich um eine subjektivistische Logik, in der Natur, Gesellschaft und Individuum kategorial noch nicht getrennt sind. Wichtig für diese Arbeit ist die von Dux herausgearbeitete Erkenntnis, dass es zwei differente Strukturen gibt, die operationale und die kategoriale, die jedoch in der Leiblichkeit ihren gemeinsamen Ursprung haben. Hierzu weiter unten mehr.

    Die kategorialen Strukturen zeigen sich in der Begrifflichkeit der Weltbilder. Diese sind in ihren basalen Strukturen an die zentrierte Handlungslogik gebunden. Diese Strukturen ändern sich je nach Entwicklungsstand und damit auch die Welten.

    3.2.2 Die Achsenzeit

    3.2.2.1 Vorbemerkungen

    Im 1. Jt. v. Chr. fand im Bereich der Ideen und ihrer institutionellen Basis eine Revolution statt, die auf die menschheitsgeschichtliche Entwicklung unauslöschliche Auswirkungen hatte (Eisenstadt. 1987 a: 10). Fast 10.000 Jahre nach den Anfängen der Neolithischen Revolution, in der Zeit zwischen 800 und 200 v. Chr. drängte sich zugleich in Indien, China und Griechenland Außerordentliches zusammen. Karl Jaspers hat diese Zeit als Achsenzeit bezeichnet. „Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, dass der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewusst wird [. . .] Das geschah in Reflexion. Die Bewusstheit macht noch einmal das Bewusstsein bewusst, das Denken richtete sich auf das Denken. Es erwuchsen geistige Kämpfe mit Versuchen, den Anderen zu überzeugen durch Mitteilung von Gedanken, Gründen, Erfahrungen [. . .] In diesem Zeitalter wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. In diesem Sinne wurde der Schritt ins Universale getan" (Jaspers. 1952: 20 f., Hervorhebungen G. R.).

    Doch bevor wir auf die geistige Transformation, die sich Mitte des 1. Jt. v. Chr. ereignet hat, eingehen, wollen wir uns die materiellen Strukturen anschauen, die sich nach der Neolithischen Revolution durchgesetzt hatten. Dabei ist zu beachten, dass Ackerbau und Viehzucht in vielen Teilen der Welt noch heute die prägende Lebensform ist, ja selbst ihre steinzeitlichen Ursprünge sind noch heute zu finden, z. B. im Amazonasgebiet. Es ist nicht so, dass das Alte mit dem Neuen vollkommen verschwinden würde. Es existiert fort, ist jedoch nicht mehr dominierend. Wir kommen hierauf bei der lebensgeschichtlichen Entwicklung im zweiten Hauptteil zurück.

    Die Landwirtschaft war bis zur Mitte des 19 Jahrhunderts weltweit die vorherrschende Wirtschaftsform. Sie konnte sich jedoch bis zum 16. Jahrhundert nur über begrenzte Teile der Erdoberfläche durchsetzen. Bis zu dieser Zeit existierte sie nur in Europa, Indien und an der Ostküste Chinas sowie – mit eigenständigen Ursprüngen – an der Westküste Amerikas von Mexiko über Mittelamerika bis zu den Anden. Dies ist weniger als 10 % der Erdoberfläche. Die bei weitem größten Bereiche waren auch weiterhin von Jägern und Sammlern besetzt. Allerdings stellten die Agrargesellschaften 80 % der Weltbevölkerung, da sich hier die Bevölkerung wesentlich schneller vermehrte (Malanima. 2008: 21).

    Ein wesentliches Charakteristikum der neuen Agrargesellschaften war dieser demographische Druck und das bei relativem Stillstand der technologischen Entwicklung (Malanima. 2008: 32). Dennoch gab es keinen absoluten Stillstand. Die grundlegende Ausprägung des technischen Systems der Agrarökonomie fiel in die Zeit zwischen 6.000 und 3.000 v. Chr. Dies ist zugleich die Zeit der ersten Hochkulturen und der Entstehung der Schrift. Gordon Childe bezeichnet diesen Zeitraum als „vielleicht reicher an fruchtbaren Erfindungen und Entdeckungen als irgendein anderer Abschnitt menschlicher Geschichte bis zum sechzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung (Childe. 1952: 86).

    Diese Zeit ist vor allem geprägt durch ihre effizientere Energienutzung. Die zwei wesentlichen Neuerungen sind die Nutzung der Energie des Pferdes sowie die Energie des Feuers in der Metalltechnologie, zunächst beim Kupfer und dann bei der wesentlich härteren Bronze. Erst etwa 1000 Jahre später kam dann auch das Eisen dazu, das dann wiederum etwa 1000 Jahre später die Grundlage der Industriellen Revolution darstellen sollte. Die Effizienz der Landwirtschaft und des Transportes steigerte sich um ca. 100 %. Ermöglicht wurde dies durch die Erfindung des Rades, das noch vor der Metallurgie also in der Steinzeit erfunden wurde, und des Pfluges sowie des Segelbootes. Man schätzt, dass alleine in der Zeit von 4.000 bis 3.000 v. Chr. die Bevölkerung von 15 Millionen auf 150 Millionen zugenommen hat (Malanima. 2008: 31).

    In dieser Zeit der Technologieentwicklung entstand endgültig eine neue Profession, das Handwerk. Dies führte zur gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die starke Bevölkerungszunahme führte zugleich zur Entwicklung von Städten, die wiederum eine weitere Profession ausdifferenzierte, den Händler, denn die Städte mussten versorgt werden. Auf diesem Niveau der Arbeitsteilung wurden die speziellen Arbeitsleistungen zu Lebenstätigkeiten. Mit der Stadtbildung entstand in weiterer Folge die Bildung von Reichen, die zentral organisiert sind und nochmals eine neue Profession ausdifferenzierte, den Verwaltungsbeamten, der im Wesentlichen nur noch mittels Schrift agierte. Dies führte letztlich zu den Tätigkeiten von Schriftgelehrten und Weisen, die sich nur noch geistig beschäftigten. In den Städten und Reichen entstehen Hierarchien und Machtzentren mit wenig Bindung zur einfachen Bevölkerung. Eine vollkommen neue Lebenssituation. Aber auch in den Dörfern zerbricht mit der Präsenz des Handwerkers die Gemeinsamkeit des dörflichen Lebens. Die Menschen erleben nun erstmals die Welt als zerrissen. Die Verbindungen werden nun über Warentausch, den Markt und das Geld organisiert. In der Stadt trennen sich körperliche und geistige Tätigkeit. Schrifttum und geistige Tätigkeit wurden vor allem Beschäftigungsfelder von Eliten, die ihre Macht in zunehmendem Maße auch verteidigten.

    In den Jahrtausenden nach der zweiten Welle technologischer Neuerungen war die Welt eine ganz neue geworden. Die alte bäuerliche Ordnung hatte keinen Bestand mehr und war in Auflösung begriffen. Es musste eine neue Ordnung geschaffen werden. Hierüber musste man sich Gedanken machen. Wer anderes als die neuen Eliten waren hierfür zuständig. Die Welt war aus den Fugen geraten. Die Menschen waren nicht mehr Teil der Natur, sie waren von anderen Menschen abhängig. Sie spürten in immer stärkerem Maße – vor allem die Eliten –, dass sie es selbst waren, die etwas veränderten. Am Anfang war es nur der Samen gewesen, den sie in den Boden legten und so selbst Natur produzieren konnten. Jetzt stellten sie fest, dass sie auch die Gesellschaft verändern und damit auch sie „produzieren" konnten. Damit erkannten sie sich also selbst als Wesen außerhalb der Natur. Letztlich stellten sie fest, dass sie ihre Gedanken und damit nicht nur die äußere Welt zum Gegenstand ihres Denkens machen konnten. Sie konnten das Denken denken. Damit wurde das Denken reflexiv.

    Indem das Denken sich rekursiv und selbstbezüglich auf sich selbst wendete, eben in unserer schon bekannten selbstorganisatorischen Operationsweise, nun aber auf einem neuen Niveau, entstand ein fundamental neues Denken, das sich seiner selbst bewusste Denken. Es entstand Selbstbewusstsein. Der Einzelne erkannte nicht nur sich als Mensch und damit als von der Natur verschieden, sondern auch als von dem Anderen verschieden und getrennt. Ein beängstigender Vorgang, der nach neuer Orientierung verlangte. Ein Vorgang, der aber auch Verlassenheit, Unvollkommenheit und Leid empfinden ließ und nach Erlösung strebte.

    Das Entdecken des Geistes ist ein fundamental anderer Vorgang als das Entdecken Amerikas. Aber auch verschieden zu der Entdeckung der Menschen im Neolithikum, dass ein im Herbst von Menschen in den Boden gelegtes Samenkorn im Frühjahr zu neuem Leben führt, von dem der Mensch selbstproduziert leben kann. Im Gegensatz dazu ist der Geist erst Geist geworden durch seine Entdeckung. Amerika hat schon vor seiner Entdeckung existiert, der Geist existierte in der neuen Form aber vor seiner Entdeckung gar nicht. Er hat sich selbst erst hervorgebracht und damit eine neue Operationsweise geschaffen auf der Grundlage der alten Operationsweise. Es ist die Transformation des Modus der Operationsweise. Dieser neue Modus des Operierens ist ein künstlicher, er ist aus dem alten nichtreflexiven natürlichen Modus der Natur hervorgegangen. Diesen alten Modus des Denkens besitzen schon rudimentär die Tiere. Das, was wir hier mit Modus bezeichnen und damit dynamisch, bezeichnet Snell mit Form. „Das bedeutet, dass die Bezeichnung >Geist< die Interpretation (und zwar die treffende Interpretation, sonst könnten wir nicht von >Entdeckung< sprechen) von etwas ist, das vorher in anderer Form interpretiert wurde und deshalb auch in anderer Form existierte" (Snell. 1980: 9, Hervorhebung G. R.). Das, was sich in diesem neuen Modus des Denkens in seinen höchsten Möglichkeiten im Einzelnen ausprägte, wurde nicht Gemeingut, weil die Menschen in ihrer Mehrzahl nicht folgen konnten (Jaspers. 1952: 25).

    Durch diese neue Art des Denkens in diesem neuen Modus ist zugleich ein neues bisher nicht vorhandenes und damit selbst erzeugtes Problem entstanden. Das Problem von Sein und Sollen. Es entstand das Problem zwischen der weltlichen und einer transzendentalen Ordnung als einer gedachten neuen Ordnung, die geschlossen werden musste. Diese Schließung konnte innerweltlich möglich sein oder auch nur jenseits jeder irdischen Wirklichkeit (Eisenstadt. 1987: 10 ff.). Vor diesem zentralen Hintergrund einer nicht nur rational gedachten, sondern auch zutiefst subjektiv empfundenen Spannung entwickelten sich in den drei Weltregionen Indien, China und Griechenland unterschiedliche Ansätze, jedoch mit dem selben Ziel, mit dieser Spannung fertig zu werden. Indien versuchte sich in der Weltperspektive Subjekt–subjektive Welt, der chinesische Ansatz lag in der Weltperspektive Subjekt–soziale Welt und der griechische Ansatz führte schließlich in die Weltperspektive Subjekt–objektive Welt.

    Damit wurden genau die drei Weltperspektiven systematisch reflektiert, deren Wertsphären schon während der Neolithischen Revolution am Horizont – damals jedoch nur handelnd und unreflektiert – auftauchten, die objektive Welt, die soziale Welt und die Welt der subjektiven Empfindung. Was aber während der Achsenzeit noch nicht möglich war, war diese neue Differenz als Einheit zu sehen. Für die damaligen Menschen war dies auch kein Problem. Die Eliten der Achsenzeit glaubten jeweils mit ihrem Ansatz die damals empfundene und gedanklich reflektierte Spannung für sich lösen zu können. Für uns heutige Menschen ist dies das Problem, das die Menschen der Achsenzeit nicht sehen konnten: Die Zerrissenheit der drei ausdifferenzierten Welten. Wir können heute das Kognitive, Emotionale und Soziale in ihrer Differenz nicht mehr als Einheit erleben und gedanklich fassen. Hierzu bedarf es eines nochmaligen Reflexionsschrittes, den wir mit diesem Buch aufzeigen wollen.

    3.2.2.2 Indien – Hinduismus / Buddhismus

    Etwa Mitte des 2. Jt. v. Chr. wanderten aus Nordeuropa kommend die vedischen Arier über Ostiran nach Indien ein. Arier (Ārya) bedeutet „edel" und war eine Selbstbezeichnung. Es war kein Name für eine Ethnie, sondern das Bekenntnis zu bestimmten moralischen Werten, vor allem zur Vertragstreue, zur Gastfreundschaft, zur Wahrhaftigkeit und zur von den Göttern etablierten Ordnung. Die Opferpraxis war für die eingewanderten Arier von zentraler Bedeutung (Stietencron, von. 2006: 15).

    Die älteste Urkunde des philosophischen Denkens der Indo-Arier ist der Veda. Entstanden ist er in der Zeit zwischen 1.000–2.000 v. Chr. Der eigentliche Durchbruch zur Philosophie erfolgte allerdings erst mit den Upanishaden („Geheimlehren"), die zwischen 750–550 v. Chr. verfasst wurden. Sie sind erläuternde Anhänge zum Veda, wie auch die zeitlich früher von Priestern verfassten Brâhmanas. Die Priester waren ritualistisch orientiert. Sie waren die Herren des Rituals und daher mächtig geworden, nur sie beherrschten mit den Brâhmanas die Ausdeutung der einzelnen Opferhandlungen. Diese Spezialisierung führte zur Verselbständigung der Opferwissenschaften, so dass die Götter als Akteure gar nicht mehr so wichtig waren. Nur mit einem qualitativ fehlerfreien Opfer, das nun einen eigenen Mikrokosmos schafft, konnte man Kraft ausgeklügelter ritueller Identifikation auf den Makrokosmos selbst eine Wirkung ausgeübt werden. Die Monopolstellung der Priester wurde noch dadurch gesichert, dass der Priesterstand erblich wurde. Nicht mehr die Götter standen im Mittelpunkt, sondern die Priester.

    Hier liegt zugleich aber auch der Übergang vom Mythos zum Logos und damit zur Philosophie. Die zunehmende Bedeutungslosigkeit der Götter tut sich auch in den ersten Spekulationen um den letzten Weltengrund kund. Den Philosophen gelang es, in den Upanishaden die Zwänge des Rituals zu reflektieren und sich gegen sie aufzulehnen (Glasenapp, von. 1974: 24 ff.). Die Denker der Upanishaden suchten das unbekannte Etwas, aus dem das All hervorgegangen ist und das die in allem wirksame Kraft darstellt, näher zu bestimmen. Ihnen ging es um Erkenntnis, die zugleich zu Erlösung führt. Das wesentliche Element ist der Ātman. Etymologisch ist dieses Wort verwandt mit Atem und damit Kern der Persönlichkeit, also das, was übrigbleibt, wenn man alles Akzidentielle abzieht, ihr „wahres Selbst". Der Ātman ist aber zugleich das höchste Weltprinzip Brahma, der Urgrund allen Seins.

    Die höchste Wirklichkeit liegt nun – und dies ist neu – im Ātman, als Erkennen, als reiner Geist und erst als solcher ist er Brahma und Ātman zugleich. „Als innerster und feinster Kern alles Existierenden ist der Ātman nicht nur der Wert aller Werte, sondern auch der Ursprung von allem, er manifestiert sich als die Elemente, als die Sinnesorgane, als Denken, der Lebensodem, als Lust, Zorn, Recht und ihr Gegenteil, kurz als das All mit seinen vielfältigen Daseinsmächten, denn all diese sind nichts als verdichtete Erscheinungsformen von ihm. Das Einzelwesen, die empirische Persönlichkeit ist deshalb durch und durch nichts anderes als der all-eine Ātman, also nur das, was Erkennen an ihm ist, stellt ihn in seiner reinen feinsten Form dar [. . .] Frei von allem aus der Beschränkung und aus der Mannigfaltigkeit entstandenen Leid genießt er die höchste Wonne. Dann ist für ihn alle Zweiheit aufgehoben, er nimmt nichts von ihm Verschiedenes mehr wahr, ihm ist alles zum eigenen Selbst geworden" (Glasenapp, von. 1974: 151 f. Hervorhebungen G. R.). Nur der Einzelne selbst konnte über Erkenntnis zur Erlösung finden. Das Innerste seines Selbst galt es zu erkunden, um zum All-Einen zu finden. War das Denken einmal in Gang gesetzt, setzt es sich durch das widersprüchliche soziale Sein, rekursiv und selbstreferentiell durch und wurde reflexiv. Der Mythos, der schon das Denken erforderte wurde zum Logos. Der Wert des Denkens ist nun der Wert aller Werte, da nur er zur Erkenntnis führt, die alleine Erlösung verspricht.

    Der Buddhismus ist eine Reformbewegung, die sich aus dem, was wir gerade als Hinduismus vorgestellt haben, im 5. Jh. v. Chr. heraus entwickelt hat. Sie wendet sich kritisch gegen die priesterliche Orthodoxie und suchte vor allem in der Askese nach Möglichkeiten, dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten zu entkommen. Die Ablehnung des Buddhismus lag vor allem in den geburtsständigen Privilegien. Von dem Lehren der Upanishaden übernahm auch diese monastische Bewegung die Wiedergeburts- und Karmalehre (Schmidt-Glintzer. 2007: 15 f.). D. h. die Macht der Taten (Karma) hat auch im Buddhismus Wirkung auf die Zukunft. Doch der Modus der Wiedergeburt basiert auf grundsätzlich anderen Vorstellungen der Daseinsfaktoren. Damit bekommt die Seelenwanderungslehre der Buddhisten eine radikal andere Bedeutung. Bei ihnen gibt es keine unsterbliche Seelensubstanz, die von einem Körper in den anderen wandert. Nur ein ununterbrochener Bewusstseinsstrom erhält sich über alle Stadien hinweg (2007: 16).

    Hier taucht eine vollkommen neue Idee auf. Nicht irgendwelche Elemente bzw. Substanzen sind das Entscheidende, sondern ihre Relationen und Beziehungen zueinander. Im Buddhismus gibt es keine Unterscheidung von Lebendigen und leblosen Substanzen. Es gibt nur leblose Substanzen, die erst durch ihre funktionale Beziehung zueinander Leben entstehen lassen. Bei dieser Betrachtungsweise gibt es auch kein beharrendes Sein, sondern nur ein unaufhörliches Werden. Dieses Werden aber geschieht streng gesetzmäßig. In der Philosophie des Buddhismus gibt es nichts ewig Beharrendes und kein eigenständiges Sein, alles steht in Beziehung zueinander und ist hierdurch zugleich im Fluss, in einem ununterbrochenen Werden. Es gibt kein beharrendes Ich. Das Ich gibt es nur in und durch die Beziehung zu anderen. Insofern gibt es eine sittliche Weltordnung, die ohne

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