Sind wir Menschen noch zu retten?: Gefahren und Chancen unserer Natur
Von Kurt Kotrschal
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Über dieses E-Book
Menschliches Verhalten treibt unsere Biosphäre in ihr heutiges Multitrauma. Doch was sind die evolutionären Grundlagen menschlichen Verhaltens? Und welcher Handlungsspielraum bleibt uns angesichts von Klimakrise und Artensterben? Auf Basis seiner Erkenntnisse zur menschlichen Natur ist sich Kurt Kotrschal sicher: Nur eine liberale Demokratie mit breiter Partizipation, Gleichstellung der Geschlechter und starker Gemeinwohlorientierung ist in der Lage, das Überleben des Menschen und des Planeten zu gewährleisten. Weder Patriarchat noch gewaltsame autoritäre Herrschaftsformen haben genug Lösungspotential, um die zahlreichen, auch radikalen Verhaltensänderungen auf individueller und auf gesellschaftlicher Ebene zu fördern, die heute notwendig sind. Noch haben wir eine Chance – nutzen wir sie!
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Buchvorschau
Sind wir Menschen noch zu retten? - Kurt Kotrschal
aufzuzeigen.
1
Potentiale und Probleme der Menschen im 21. Jahrhundert
Wie glänzend könnte doch die Zukunft des Menschen sein, wenn ihm dabei nicht »der Mensch« im Wege stünde! Ein hoffnungsloser Optimist könnte meinen, dass heute 7,6 Milliarden Problemlöser auf der Erde leben, zunehmend gebildet und ausreichend ernährt. Dagegen sieht ein realistischer, ökologisch wacher Pessimist heute eher jede Menge Problemverursacher. Misanthropen blockieren sich gegenseitig durch intensives Beschwören des Weltuntergangs. Dazu war ihnen zwar immer schon jeder Anlass recht, doch das ökologische Multitrauma der Erde eignet sich dafür ganz besonders gut.
Menschen verfügen aufgrund ihrer im Vergleich zu allen anderen Lebewesen überragenden Bildungs-, Denk- und Reflexionsfähigkeit potentiell auch über eine einzigartige Fähigkeit, vor allem technische Probleme zu lösen – und dadurch nicht selten neue zu verursachen. Bei den sozialen bzw. sozial bedingten Problemen hingegen bin ich mir bezüglich der menschlichen Problemlösungskompetenz nicht so sicher. Um die komplexe, vor allem soziale und mentale Konstruktion der Menschen wird es in diesem Essay gehen. Zumal die alltägliche emotionale und soziale Blindheit der Menschen ihren eigenen Befindlichkeiten und Handlungsantrieben gegenüber aus dem Blickwinkel der doch recht konkret gewordenen Antworten, welche die evolutionäre Biologie zur menschlichen Natur heute bereithält, ziemlich anachronistisch anmutet.
So brauchte es eine Greta Thunberg, um die bereits seit Jahrzehnten vorliegenden Erkenntnisse des Weltklimarates auch emotional annehmen zu können. Vorher berührten die Warnungen der klugen Wissenschaftler nur wenige Eingeweihte, eine Mehrheit ließ sie nicht an sich heran, spaltete sie in bewährtem Vermeidungsmodus psychologisch ab oder leugnete sie schlicht. Es brauchte ein sechzehnjähriges Mädchen mit Asperger-Syndrom, um das Eis mit Hilfe einer funktionierenden medialen Inszenierung zu brechen. Plötzlich sind sich weltweit Mehrheiten und Politiker von den USA bis China zumindest grundsätzlich einig – Ausnahmen bestätigen die Regel –, dass möglichst sofort Erhebliches getan werden muss. Ob es tatsächlich getan werden wird, steht auf einem anderen Blatt, wie die Ergebnisse des jüngsten Weltklimagipfels im Dezember 2019 in Madrid zeigten. Wollen wir die Katastrophe verhindern, wird unser aller Leben ziemlich anders werden müssen als heute. Nicht unbedingt schlechter, aber anders. Davor haben natürlich viele Angst, und darum versucht die Politik weltweit einen Spagat zwischen »wasch mir den Pelz« und »mach mich nicht nass«. Und viele flüchten in die Fantasien von ausschließlich technologisch-wirtschaftlichen Lösungen oder sogar in die Eskapismen der Silicon-Valley-Boys – einer Übersiedlung auf den Mars beispielsweise …
Die Klimakrise ist in aller Munde. Paradoxerweise wird aber nur wenig über die Vernichtung von Lebensräumen und Arten gesprochen. Es scheint, als wolle man Klima und Artenverlust entkoppeln. Von Seiten der Politik verständlich, will man doch nicht auf zu vielen Baustellen gleichzeitig aktiv werden müssen. Nur wenigen scheint einsichtig, was das veränderte Klima mit dem Verschwinden von Insekten zu tun hat bzw. warum das Klima geschützt wird, wenn Lebensräume so bewirtschaftet und bewahrt werden, dass den Insekten ein Überleben in für die Ökosysteme nötigen Arten und Individuenzahlen möglich ist. Oder dass es in Zeiten der ökologischen Katastrophe einfach nicht mehr angebracht ist, auf Wölfe, Bären und Luchse zu schießen, bloß weil man sie als störend empfindet. Menschen handeln auch im Bereich der Koexistenz mit ihren Mitgeschöpfen auf Basis einer komplexen Gemengelage aus (Un-)Wissen und Überzeugungen, uralten, evolutionär bedingten Antrieben, sozialem Konformismus und Widerständigkeit. Es wäre auch verwunderlich, würden Menschen ausgerechnet in diesem Bereich ihrer Ratio gemäß handeln und nicht vorwiegend nach irgendwelchen Bauchgefühlen und Überzeugungen.
Jedenfalls scheinen viele, darunter zahlreiche Politiker, darauf zu vertrauen, dass die nötigen Entwicklungen die Wirtschaft derart beflügeln werden, dass dadurch der globale Wohlstand nicht sinken, sondern sogar steigen wird. Ich will das optimistische Grundvertrauen in das technologische Potential der Menschen hier nicht vom Tisch wischen, aber dennoch einschränken: Ohne Technologie und Innovation wird es sicherlich nicht gelingen, die ökologische Krise abzufangen und eine zwar verarmte, aber immer noch lebenswerte Biosphäre zu bewahren, mit genügend Tragekapazität für eine Menschheit, der es gelungen ist, ihren Lebensstil auf diese Veränderungen einzustellen. Ausschließlich mit Technologie aber auch nicht. Es ist schon atemberaubend naiv zu glauben, von menschlichem Verhalten verursachte Probleme könnten nur mittels technologischer Innovationen gelöst werden, und das auch noch praktischerweise allein durch die freie Marktwirtschaft. Naiv, aber wesentlich bequemer, als die nötigen Verhaltensanpassungen der Menschen auf der Grundlage gesellschaftlich-demokratischer Einigungsprozesse zu erreichen. In unserem postmodernen, nachideologischen und populistischen Zeitalter scheint die Mehrheit der Politiker nichts mehr zu fürchten, als Leadership zu zeigen und auf Basis gesicherter Erkenntnisse unbequeme Reformen anzugehen. Lieber orientiert man sich an Meinungsumfragen, vermeidet Konflikte mit Wählern und Medien und hält das dann sogar noch für repräsentative Demokratie.
Jedenfalls zieht angesichts des Multitraumas der Biosphäre das Argument nicht mehr, der menschliche Erfindergeist würde schon für Lösungen sorgen, wenn die Probleme auftauchen. Denn die sind schon längst da; mehr noch: noch nie gab es so viele Menschen auf der Welt mit derart vielen gemeinsamen Problemen. Zudem ist noch völlig unklar, ob die digitale Revolution dazu beitragen wird, die ökologische Krise zu bewältigen, oder diese vielmehr verschärft.
Es wird rasch sowohl technologische Innovationen als auch nicht immer populäre gesellschaftliche Veränderungen brauchen, um unseren Kindern und Enkeln noch den Funken einer Überlebenschance zu lassen – und das nicht auf Kosten von natürlichen Lebensräumen und Mitgeschöpfen. Denn Menschen sind »biophil« im Sinne des deutschamerikanischen Psychoanalytikers und Sozialpsychologen Erich Fromm und des US-amerikanischen Biologen Edward O. Wilson. Sie benötigen daher Natur und andere Lebewesen nicht bloß als ökologische Ressourcen, sondern auch zu ihrem mentalen Wohlbefinden – so sind Menschen aufgrund ihrer evolutionären Herkunft nun mal. Kinder brauchen eine minimale Naturumgebung, um optimal aufzuwachsen, um ihre Entwicklung zu selbstbewussten, vertrauensfähigen und emotional balancierten Persönlichkeiten zu fördern, die willens und fähig sind, Herausforderungen im Sinne des Gemeinwohls zu begegnen und sich nicht widerstandslos Demagogen und »starken Männern« auszuliefern. Zudem stärkt ein Aufwachsen in Kontakt mit Tieren und Natur die lebenslange Resilienz gegenüber mentalen Problemen und psychischen Erkrankungen.
Die Anfälligkeit für solch unliebsame Überhitzungen der menschlichen Psyche ist in modernen urbanen Zivilisationsgesellschaften ohnehin enorm hoch geworden, Tendenz offenbar stetig steigend. Ob diese Steigerung einer durch neue Lebens- und Arbeitsbedingungen veränderten Realität geschuldet ist oder vielmehr der gesteigerten Nabelschau einer psychologisierten Gesellschaft entspringt, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Vieles spricht allerdings für eine reale Zunahme der psychischen Probleme.
Nein, früher war nicht alles besser. Die Pracht der Gründerzeit beruht auf einer physisch und soziokulturell hungrigen Landbevölkerung, die im 19. Jahrhundert in die Städte strömte, dort zwar Brot und Arbeit fand, aber zunächst keinen Weg aus dem Elend und oft genug einen frühen Tod. Gesellschaftliche Zustände bewirken offenbar spezifische mentale Probleme. War im Wien um die vorletzte Jahrhundertwende die Neurose en vogue, so dominieren in unseren sich stetig beschleunigenden urbanen Welten Angststörungen, Depressionen und suboptimal ausgebildete exekutive Funktionen, also jene Fähigkeiten, die uns ermöglichen, situationsangepasst, selbstständig und kontrolliert zu handeln. Tatsächlich stehen heute psychische Probleme bereits an erster Stelle bei den Ursachen für Krankenstände, und 40 % der Elite des universitären Nachwuchses, der PhD-Studenten, haben angeblich mentale Probleme. Dies bedeutet, dass soziale Umstände und gesellschaftliche Bedingungen krank machen können, dass sich also Menschen nicht beliebig an von technologischen Neuerungen, Konzernen und Ökonomie diktierte Lebensbedingungen anpassen können; dass sie bestimmte Bedingungen brauchen, um in Balance und gesund zu bleiben, allen voran Geborgenheit, Solidarität und Sicherheit. Menschen mit ihren im Artvergleich einzigartig hoch getunten Gehirnen kommen als Art und bereits als Individuum im Mutterleib mit bestimmten, aus ihrer evolutionären Geschichte erklärbaren Bedürfnissen zur Welt. Werden diese nicht erfüllt, sind suboptimale individuelle Entwicklung, limitierte Anpassungsfähigkeit an die Schöne Neue Welt und geringe Resilienz besonders gegenüber mentalen Problemen die Folgen.
Das weiß man zwar schon seit langem, will es aber immer noch nicht wirklich wahrhaben. Vielleicht braucht es auch für diesen nicht immer angenehmen Prozess menschlicher Selbsterkenntnis eine medienwirksame Greta Thunberg, die uns den Spiegel vorhält. Seit Jahrtausenden – und besonders im letzten Jahrhundert – ist und war es für die Ideologen aller Schattierungen viel einfacher, ein ihnen genehmes Wunschbild vom Menschen zu projizieren, als zu fragen, wie Menschen beschaffen sind und was sie zur optimalen Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer Fähigkeiten brauchen. Um fair zu sein: Es fehlte bislang auch an diesbezüglichem gesichertem Wissen. Viel von dem, was im letzten Jahrhundert als solches angepriesen wurde, war aufgrund der noch sehr bescheiden entwickelten Naturwissenschaften kaum mehr als ein Kratzen an Oberflächen, verbunden mit ideologisch gefärbten Interpretationen. So wurde die Biologie zu einer der Säulen der krausen pseudowissenschaftlichen Doktrin der Nationalsozialisten – und manche Biologen stellten sich nur allzu willig in deren Dienst.
Heute ist die ideologische Vereinnahmung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse deutlich schwieriger geworden. Denn das Kind verbrannte sich an den Nazis und scheut seitdem das Feuer. Zudem wurden die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in den letzten Jahren und Jahrzehnten exponentiell detaillierter, tiefer und belastbarer. Damit verfügen wir heute über die Möglichkeit einer realistischen, empirischen Sicht auf die Conditio humana – sofern es uns gelingt, den Wald vor lauter Bäumen nicht aus den Augen zu verlieren und Muster aus der Fülle des Wissens zu destillieren.
Die ökologischen Probleme hängen ursächlich mit der »Tragik der Allmende« zusammen: Bereits Aristoteles bemerkte: »Was viele gemeinsam nutzen, wird am wenigsten sorgfältig behandelt, weil alle Menschen ihr Eigenes mehr wertschätzen als das, was sie gemeinsam mit anderen haben.« So gehört die Luft allen und es scheint genug davon zu geben. Daher machten sich bis vor kurzem Autofahrer, Flugpassagiere, Industrielle oder Kohlekraftwerkbetreiber wenig Gedanken darüber, dass die von ihnen verursachten Verbrennungsprozesse CO2 freisetzen und damit die Zusammensetzung des Allgemeinguts Luft verändern. Zwar schämen sich manche Leute bereits fürs Autofahren oder Fliegen; wirksamer wäre es freilich, wir würden lieb gewordene, CO2-emittierende Gewohnheiten auch tatsächlich einschränken. Denn solange wir atmen, nehmen wir Sauerstoff auf und geben CO2 ab. Ob man sich bald für das Atmen schämen muss? Oder sich nur noch sehr langsam bewegen sollte, um ein Minimum an CO2 abzugeben? Klingt absurd, wird aber von manchen ebenso ernsthaft diskutiert wie der Reproduktionsverzicht. Natürlich trifft es zu, dass jeder zusätzliche Erdenbürger den ökologischen Fußabdruck der Menschheit vergrößert – nicht bloß durch sein Atmen –, wie bescheiden der individuelle Beitrag auch sein mag. Aber keine Kinder mehr zu gebären, würde auch die Entwicklung jener sozialen und technischen Kreativität, des Optimismus, jener Form von Leadership bremsen, die es zur Bewältigung der Krise dringend brauchen wird.
Der US-Ökologe Garrett Hardin erweiterte 1968 den bereits zuvor existierenden Begriff der »Tragik der Allmende«: würde man nur nach technologischen Lösungen suchen, so wäre diese Tragik das unvermeidliche Schicksal der Menschheit, meint Hardin. Man müsste vielmehr die Perspektive ändern und das Problem mit Blick auf das Gemeinwohl angehen. Der Grundsatz, dass ein Überleben von Mensch und Biosphäre weniger von der Technologie als von einer massiven menschlichen Verhaltensänderung abhängen wird, wurde also bereits vor 50 Jahren formuliert. Jenseits von vielen religiös und ideologisch unterlegten moralischen Appellen in diese Richtung ist im letzten halben Jahrhundert allerdings nicht allzu viel Vernünftiges geschehen, obwohl uns buchstäblich das Wasser bis zum Hals steht. »Vernünftig« bedeutet im Einklang mit der menschlichen Natur, nicht aber, dass man sich ihr bedingungslos andient. Denn dann würde man das Sein für das Sollen nehmen – ein naturalistischer Fehlschluss, der nicht nur aus ethischen, sondern auch aus verhaltensbiologischen Gründen abzulehnen ist.
Ein seltsames Paradoxon: Wir naschen stolz vom Baum der Erkenntnis, solange es nicht um uns selber geht.
Über unsere eigene Natur Bescheid zu wissen ist von höchster Relevanz für die Politik und die Bewältigung der Krisen auf unserer dicht besiedelten Erde. Tatsächlich aber liegt hier einer der seltsamsten blinden Flecke der Politik: Die Regeln des menschlichen Zusammenlebens werden nur ganz selten auf der Basis gesicherten Wissens darüber, wie Menschen eigentlich funktionieren, gemacht. Vielmehr entstanden, seit Menschen sich politisch organisieren – in komplexerem Ausmaß seit der neolithischen Revolution, dem Sesshaft-Werden – die unterschiedlichsten Ideen und Konzepte über das Funktionieren von Gemeinschaft. Sie nutzten als Herrschaft einiger starker Männer entweder nur wenigen, nämlich den Herrschenden und ihren Klans – Frauen spielten dabei nur selten Rollen als Herrscherinnen, und wenn, dann grundsätzlich im Rahmen patriarchaler Systeme – wie in Oligarchien oder absolutistischen Herrschaftssystemen. Solche Herrschaftssysteme stützen sich auf Wissen, Herkunft oder göttlichen Willen, sie bedienen sich pseudodemokratischer Verfahren, beseitigen potentiell mächtige Konkurrenten oder beteiligen sie an der Macht.
Andere Konzepte von Herrschaft sind durchaus von Sendungsbewusstsein und dem Bemühen um Gemeinwohl erfüllt. Solche rational einigermaßen begründbaren, meist idealistisch motivierten Konzepte nennt man gewöhnlich Ideologien.