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Die Grenzen meines Denkens sind die Grenzen meiner Welt: Wie wir vorhandene Potenziale für einen gesellschaftlichen Wandel mobilisieren können
Die Grenzen meines Denkens sind die Grenzen meiner Welt: Wie wir vorhandene Potenziale für einen gesellschaftlichen Wandel mobilisieren können
Die Grenzen meines Denkens sind die Grenzen meiner Welt: Wie wir vorhandene Potenziale für einen gesellschaftlichen Wandel mobilisieren können
eBook310 Seiten3 Stunden

Die Grenzen meines Denkens sind die Grenzen meiner Welt: Wie wir vorhandene Potenziale für einen gesellschaftlichen Wandel mobilisieren können

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Über dieses E-Book

Die Klage über die neoliberalen Zwänge, die unser Leben bis in die privatesten Bereiche zu einer Angelegenheit von Effizienz, Rendite und Wachstum machen, ist berechtigt und reicht doch nicht aus. Wer unbefriedigende Lebens- und Gesellschaftsumstände tatsächlich verändern möchte, muss bei sich selbst beginnen. Christian Mayers neues Buch versammelt Ansätze, die in der Lage sind, unsere eingefahrenen Denkmuster in Bewegung zu bringen und damit Räume und Perspektiven zu öffnen für produktive Gespräche. Denn: Wirklich Neues entsteht im noch nicht Bekannten.
Als passionierter Viel- und Allesleser findet Mayer Inspiration für sein Projekt auf den Gebieten von Literatur, Psychologie und Philosophie ebenso wie in der Quantenphysik oder in alternativen Bildungstheorien. Vom bedingungslosen Grundeinkommen bis zur Digitalisierung, den Problembezirken der Umweltverschmutzung bis hin zu den neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung: Mayer führt seine Leserschaft an die Grenzen unseres Alltagsdenkens. Jenseits davon entdeckt er einen reichhaltigen Ideenschatz, der das Potenzial in sich trägt, die Gesellschaft voranzubringen – hin zu einem solidarischen und nachhaltigen Miteinander.
SpracheDeutsch
HerausgeberBüchner-Verlag
Erscheinungsdatum4. Sept. 2019
ISBN9783963177125
Die Grenzen meines Denkens sind die Grenzen meiner Welt: Wie wir vorhandene Potenziale für einen gesellschaftlichen Wandel mobilisieren können

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    Buchvorschau

    Die Grenzen meines Denkens sind die Grenzen meiner Welt - Christian Mayer

    Christian Mayer

    Die Grenzen meines Denkens sind die Grenzen meiner Welt

    Wie wir vorhandene Potenziale für einen gesellschaftlichen Wandel mobilisieren können

    ISBN (Print) 978-3-96317-171-0

    ISBN (ePDF) 978-3-96317-686-9

    ISBN (ePUB) 978-3-96317-712-5

    Copyright © 2019 Büchner-Verlag eG, Marburg

    Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

    www.buechner-verlag.de

    Inhalt

    1  Das beste aller Leben – eine Suche

    1.1  Zwischen Individualität und …

    1.2  … den Ansprüchen der Gesellschaft

    1.3  Veränderungen beginnen mit einer Horizonterweiterung

    2  Gesellschaft – von blinden Flecken

    2.1  Aufklärung light

    2.2  Die große Erzählung – in den Fängen einer Ideologie

    2.3  Jenseits von Konsum und Happiness

    3  Ökonomie – was und warum sich etwas ändern muss

    3.1  Zeit, sich Gedanken zu machen

    3.2  Das Bedingungslose Grundeinkommen, eine komplexe Angelegenheit

    3.3  Substanzlose Kritik

    3.4  Der Wandel geschieht – werden wir »traditionslos«

    4  Forschung – Wissenschaft im Fokus

    4.1  Der Fall Galilei und das Bild der Wissenschaft

    4.2  Abhängige Forschung – zwischen Stiftungsprofessur, Publikationsdruck und ungestellten Forschungsfragen

    4.3  Forschung auf Abwegen – Schattenseiten des Wissenschaftsbetriebs

    4.4  Methodisch inkorrekt ins Glück

    4.5  Was sich eine Gesellschaft leisten will

    5  Sprache und Denken – warum wir beidem mehr Aufmerksamkeit schenken sollten

    5.1  Sprache war und ist niemals neutral

    5.2  Einmal von der Sprache zur Welt und zurück

    5.3  Exkurs: das Denken denken

    5.4  Praktisches Denken

    6  Natur – faszinierend, unbegreiflich, schützenswert

    6.1  Der Versuch, die Natur zu verstehen

    6.2  Die Quantenphysik – Bildersturm in den Naturwissenschaften

    6.3  Skizze einer heutigen Umweltsituation

    6.4  Ohne sinnliche Wahrnehmung kein Bewusstsein

    7  Schule – zwischen Bildung, Kompetenzen, Digitalisierung und Wissen

    7.1  Bildung im Spannungsfeld zwischen Digitalisierung und Kompetenzen

    7.2  Weil Wissen nicht nur bei Aufgaben und Problemen hilft

    8  Würde – über den Umgang miteinander und die Verschiebung von Werten

    8.1  Auf der Suche nach einem festen Ausgangspunkt

    8.2  Was die Würde mit Herausforderung und Biologie zu tun hat

    8.3  Zusammenleben in Zeiten der Ökonomisierung

    9  Zum Schluss – und jetzt?!

    9.1  Denkendes Empfinden und Neugier

    9.2  Horizonterweiterungen

    10  Quellenverzeichnis

    10.1  Literatur

    10.2  Online

    11  Endnoten

    11.1  Das beste aller Leben

    11.2  Gesellschaft – von blinden Flecken

    11.3  Ökonomie – was und warum sich etwas ändern muss

    11.4  Forschung – Wissenschaft im Fokus

    11.5  Sprache und Denken – warum wir beidem mehr Aufmerksamkeit schenken sollten

    11.6  Natur – faszinierend, unbegreiflich, schützenswert

    11.7  Schule – zwischen Bildung, Kompetenzen, Digitalisierung und Wissen

    11.8  Würde – über den Umgang miteinander und die Verschiebung von Werten

    11.9  Zum Schluss – und jetzt?!

    Das beste aller Leben – eine Suche

    Zwischen Individualität und …

    Wir leben das beste aller Leben.

    Gefühlt kann, darf, soll und muss sich heute jeder ganz individuell entfalten und seinem persönlichen Lebensglück nacheifern. Gleichzeitig suggerieren uns die Medien, dass diese Fokussierung auf das eigene Ich nicht nur einen selbst, sondern in Summe sogar die gesamte Gesellschaft glücklicher macht. Aber: Stimmt das?

    Dass man die Richtung seines Lebensweges selbst in der Hand hat, war nicht immer so. Früher wurde man in einen Stand hineingeboren und hatte sein Leben innerhalb desselben zu meistern. Das wurde auch kaum infrage gestellt. Um 1800 begannen die Menschen, sich im Zuge der Industrialisierung und der Aufklärung mehr und mehr aus quasi schicksalshaft festgelegten gesellschaftlichen Beziehungen zu lösen. Und dennoch sollte es bis Mitte des 20. Jahrhunderts dauern, bis sich der einzelne Mensch aus eigenen Kräften individuell entfalten konnte. Eine wirklich begrüßenswerte Entwicklung.

    Und doch bietet die moderne Form der Individualisierung – ohne dass wir dies wirklich wahrnehmen – ein sehr enges Korsett. Denn dem heutigen Individualitätsstreben wurde die Forderung nach persönlicher Optimierung an die Seite gestellt. Das Streben nach Individualität wird zum unsichtbaren Käfig, wenn sie aus den falschen Motiven angegangen und durch die falschen Rahmenbedingungen ermöglicht wird. Dies illustriert uns auf wunderbare Weise Richard Kraft, der titelgebende Protagonist in Jonas Lüschers Roman. Kraft ist Rhetorikprofessor aus Tübingen, der sich aufgemacht hat ins Silicon Valley, um in einem 18-minütigen Vortrag zu begründen, weshalb alles was ist, gut ist und wir es dennoch verbessern können. Eines Nachmittags sitzt der Professor bei einer Pause im Freien und schnappt das Gespräch zweier junger Entrepreneurs auf. Der eine schwärmt dem anderen vor, dass er seine Produktivität dank des sich in der Tasse vor ihm befindlichen Nahrungsmittels deutlich erhöht habe. Soylent – so der Name des Mittels – enthalte alle lebenswichtigen Stoffe und könne getrunken werden, womit keine Zeit für langwieriges Einkaufen, Kochen und Essen vergeudet werde. Kraft wird klar:

    »Das also ist die Zukunft. Nein, viel schlimmer noch, die Gegenwart: Man nehme eine menschliche Tätigkeit – in diesem Fall das Essen –, befreie sie von allen kulturellen Bedeutungen, von allen historischen Bezügen, von allem emotionalen Ballast, bis man den nackten, vermessbaren Kern vor sich hat. Diese Brühe in der Schnabeltasse ist der quantifizierbare Überrest einer über Jahrtausende gewachsenen, reichhaltigen, prägenden kulturellen Tätigkeit, aufgelöst in eine Reihe von Messwerten: Soundso viel Gramm Proteine, soundso viel Gramm Fett, nullkommadrei Gramm von diesem Vitamin, eineinhalb Jota von jenem Spurenelement, etceteraetcetra … Am meisten beunruhigt ihn aber die Einsicht, dass hinter diesem Prozess der Quantifizierung der Wunsch nach einer Ökonomisierung durch Rationalisierung steckt.«¹

    Kraft beschreibt nichts anderes als uns in unserer Gesellschaft. Hinfort mit allem, was nicht zur Optimierung von Abläufen beiträgt – nicht nur in der Arbeitswelt. Soziale Beziehungen, kulturelle Eigenheiten, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen werden mehr und mehr zu Faktoren zweiter Klasse. Wie soll man effizienter mit seinen Ängsten umgehen, wie optimaler hoffen?

    … den Ansprüchen der Gesellschaft

    Es braucht nicht viel und schon bekommt das vermeintlich paradiesische Szenario, das Namen trägt wie Moderne, Zivilisation oder Fortschritt, erste Kratzer. Je mehr ich selbst im Zentrum meiner Überlegungen stehe, je mehr ich selbst der neuralgische Punkt bin, um den sich meine Gedanken drehen, desto weniger bleibt Raum für die Idee des Citoyen, jenen Staatsbürger, der im Zuge der Französischen Revolution das Licht der Welt erblickte. Heute verblasst das Interesse am Gemeinwesen Generation für Generation, Jahr für Jahr. Das Solidaritätsprinzip habe sich überlebt, hören wir immer wieder, und was das bedeutet, spüren die Menschen immer mehr. Es ist eben nicht so, dass die Menschen in unseren Graden in diesem glücklichen Zustand leben, den uns die modernen Möglichkeiten eröffnen sollten. Das hat nichts mit Lamentieren auf hohem Niveau zu tun. Natürlich ist der Lebensstandard in Deutschland für viele so hoch wie in kaum einem anderen Land. Und dennoch bleiben immer mehr Menschen verdutzt stehen, weil sie spüren, dass sich irgendetwas in die falsche Richtung bewegt. Nicht umsonst nehmen im wohlsituierten Deutschland psychische Erkrankungen zu, während das Arbeitsklima – scheinbar als Gegentrend zur Erderwärmung – beständig kälter wird. Der Begriff der Solidarität ist vielerorts zu einer Worthülse verkommen. Und auch im hoch gelobten vereinten Europa sieht es nicht anders aus. Angela Merkel muss sich in Griechenland einen Vergleich mit Adolf Hitler gefallen lassen, in Italien gewinnen Populisten und Rechte an Macht, in Spanien sorgt die Jugendarbeitslosigkeit für eine Perspektivlosigkeit ohnegleichen und Großbritannien will gleich ganz aus der Europäischen Union aussteigen. Eine harmonische Gemeinschaft sieht anders aus. Im Blick auf die Welt als Ganzes sind wir vor allem mit unangenehmen Phänomenen konfrontiert: Welthunger, Kindersterblichkeit, (Kinder-)Sklaverei, Naturzerstörung und Meeresverschmutzung. Auch die Erkenntnis, dass unser Wohlstand von jenen Schultern getragen wird, die nichts von diesem Wohlstand haben, die beständige Forderung nach immer mehr Wachstum, die Heiligsprechung der Kaufen-Kaufen-Kaufen-Mentalität, das mittlerweile offiziell bestätigte finanzielle Auseinanderdriften zwischen Armen und Reichen, die Antwortlosigkeit der Politik auf all diese Probleme und nicht zuletzt die Beobachtung, dass die sozialen Spannungen immer weiter zunehmen – dies alles ruft in immer mehr Menschen ungute Gefühle hervor.

    Der Mensch der Industrienationen ist in zwei Welten gefangen. Auf der einen Seite steht das individuelle Ich, um das sich alles dreht, weil es das gesellschaftliche Narrativ so will. Auf der anderen das gemeinschaftliche Wir, zu dem wir zwangsläufig gehören, um das wir uns aber immer weniger bemühen. Vermutlich sind sich nicht viele dieser Polarität konkret bewusst. Das mag an der beständigen Beschallung liegen, die da dröhnt, dass die Konzentration auf das Ich für alle positive Folgen habe, also auch für unser Zusammenleben. Wenn wir ehrlich sind, scheint sich dieses Versprechen nicht zu bewahrheiten. Im Gegenteil! Mehr und mehr Menschen haben Probleme mit diesem Gegensatz. Besonders dann, wenn sie diese (Welt-)Probleme einmal ernsthaft an sich heranlassen. Dann mag so manchen die Frage umtreiben, wo er sich selbst in dieser Welt sieht. Er wird sein Leben reflektieren und überlegen müssen, wie er sein bisheriges Leben bewertet. Und dann wird es kompliziert. Immerhin verlangt dieser Gedanke, tief in sich hineinzuhören, die eigenen Werte auszuloten und sich selbst als Teil einer Gesellschaft kennenzulernen, die mehr und mehr einen Gemeinschaftssinn negiert.

    Gerade weil dies unangenehme Überlegungen und Erkenntnisse provozieren kann, scheuen sich die meisten davor, sich auf eine solche Selbstbetrachtung einzulassen. Sie wählen den bequemeren Weg, die Augen zu verschließen, um sich weiterhin auf die Schultern klopfen und den gewohnten Gang beibehalten zu können. Dabei haben wir als (freie) Menschen die Wahl. Wir können auch stehen bleiben und uns der Hektik entreißen, die ein Immer-schneller-immer-höher-immer-Weiter von uns verlangt. Im Stillstand, in der Kontemplation, können wir uns auf das Bild konzentrieren, das sich uns von der Gesellschaft und dem Weg, den sie beschreitet, zeigt. Veränderungen beginnen immer aus einem Selbst heraus. Also aus dem Individuum. Deshalb müssen Bedingungen geschaffen werden, in denen sich die Individualität eines jeden möglichst breit entfalten kann. Also gerade nicht innerhalb des heute beengten Denkmusters.

    Veränderungen beginnen mit einer Horizonterweiterung

    »Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen«, lautet ein viel zitierter Aphorismus. Wir sind gesellschaftlich und wissenschaftlich heute so weit, weil andere vor uns uns mit ihren Gedanken, Ideen und Entwicklungen den Boden dafür bereitet haben. Eigentlich müssten wir auf diesen Schultern viel weiter blicken können. Anstatt auf diesen aber den gesamten Horizont im Auge zu haben, um zu überlegen, wohin die Reise gehen soll, fokussieren wir nur einen einzigen Punkt am Horizont und steuern gedankenlos auf diesen zu. Ein Punkt, dessen Koordinaten von einer rein instrumentell verstandenen Rationalität und den Regeln des Wettbewerbs vorgegeben werden. Ein Punkt, der dermaßen zum Fetisch geworden ist, dass wir es nicht wagen, auch nur kurz zu blinzeln, geschweige denn diesen infrage zu stellen.

    Besonders augenscheinlich wird dies, wenn wir uns Menschen widmen, die aktiv etwas in der Gesellschaft ändern wollen. Gerne beschimpft man sie als »Gutmenschen«, nimmt ihre Stimmen nur am Rande wahr und widmet sich dann wieder seinem Tagesgeschäft. Doch damit tut man diesen Menschen Unrecht. Lässt man sich nämlich einmal auf ihre Überlegungen ein, erkennt man, dass sie von einer anderen Warte auf Welt und Gesellschaft blicken. Technisch gesprochen, machen sie sich und die Gesellschaft zum Objekt ihrer Beobachtungen. Sie nehmen eine Perspektive ein, von der aus sie sich den Zwängen des Alltags mit all seinen Routinen und Traditionen entledigen und »von oben« auf das blicken, was sich ihnen darbietet. Was sich hier so einfach schreibt, beschreibt in Wirklichkeit eine unglaublich schwierige gedankliche Leistung. Gewohnheiten, Bequemlichkeit und Unwissenheit belassen uns im wohlbekannten Alltag. Nur wer all das überwinden kann, hat die Möglichkeit, sich der Gesellschaft nebenan zu stellen, um einen Blick »von außen« zu wagen.

    Besonders gelungen ist dies Albert T. Lieberg und Fabian Scheidler in ihren Büchern Systemwechsel und Chaos. Die von ihnen darin eingenommene Vogelperspektive ist die Voraussetzung für ein systemisches Denken. Immerhin hängt alles miteinander zusammen. Eine kleine Änderung hier, kann große Auswirkungen dort zur Folge haben. Lieberg und Scheidler ermöglicht der Blick von außen, notwendige Transformationen zu identifizieren, weil sie dank ihrer neuen Perspektive in der Lage sind, Fehlentwicklungen besser wahrzunehmen. Deshalb streiten beide Autoren auch für einen Umbau institutioneller Strukturen. Sie fordern unter anderem einen radikalen Umbau des Systems Wirtschaft.

    Damit sind sie nicht alleine. Solche Forderungen gibt es in unterschiedlicher Couleur – von seichten Anpassungsversuchen bis hin zu radikalen Veränderungen. Dabei scheint die Wirtschaft das Spielfeld schlechthin zu sein, wenn es darum geht, gesellschaftliche Probleme in Angriff zu nehmen. Bedenkt man die heutige Präsenz, die heutige Macht des Wirtschaftlichen, das sich längst auch im Privatleben breitgemacht hat, kann man dem nur zustimmen. Dennoch ist es wohl zu unterkomplex gedacht, dass allein die Veränderung unseres Wirtschaftssystems – wie immer diese auch aussehen mag – eine Gesellschaft in Gänze voranzubringen vermag. Dieser Gedanke unterschlägt nämlich, dass es für bewusste Änderungen Menschen braucht. Und Menschen sind eben nicht nur durch das Wirtschaftliche bestimmt, das sie umgibt. Menschen haben ethische Fragen, organisieren ihre Gemeinschaft über Politik, versuchen mittels Kunst und Religion gänzlich unökonomische Fragen zu beantworten und sind damit beschäftigt, ihre Nachkommen zu empathischen und sozialen Menschen zu erziehen.

    Möchte man gesellschaftlichen Wandel voranbringen, muss man zweigleisig vorgehen. Neben institutionellen Veränderungen muss der Mensch selbst in die Lage versetzt werden, an den herrschenden Problemen arbeiten zu können. Bildlich gesprochen, bedarf es einer Horizonterweiterung, weil nur ein breiterer Blick neue, bisher ungesehene Dinge erkennen lässt. Er böte die Möglichkeit, über den Weg nachzudenken, den eine Gesellschaft gehen möchte. Darüber, wie eine Gesellschaft aussieht, der wir zutrauen, die Anforderungen der Zukunft zu meistern. Und nicht zuletzt dürften wir von einer solchen Gesellschaft behaupten, dass sie tatsächlich frei wäre.

    Die Absicht meines Buches ist es, einmal jene Themen in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, die uns – obwohl sie unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben fundieren – nicht täglich in privaten wie beruflichen Gesprächen oder den Medien begegnen. Ich beschränke mich dabei auf einige wichtige Felder, in denen Potenziale für nachhaltige Veränderungen schlummern. Jedes dieser Felder beschreibt einen unterschiedlichen Winkel, aus dem ein bewusster gesellschaftlicher Wandel in Angriff genommen werden kann. Dabei geht es nicht einsinnig darum, klar umrissene Lösungsvorschläge für gesellschaftliche Probleme zu präsentieren. Vielmehr soll in diesem Prozess deutlich werden, was es heißt, die Grundlagen und Begrenzungen des eigenen Denkens zu durchleuchten, sie infrage zu stellen und – im besten Fall – zu verändern. Denn eines ist klar: Wer mitreden möchte in der Gesellschaft und nicht nur mitschwimmen, der braucht viele – teils ungewöhnliche und neue – Blickmöglichkeiten. Immerhin schützt Perspektivenvielfalt vor Perspektivlosigkeit.

    Die Fragen, die mich im Folgenden interessieren, sind:

    •  Welche Aspekte werden im gesellschaftlichen Selbstverständnis gerne ausgeblendet?

    •  Ist ein Bedingungsloses Grundeinkommen mehr als sozialromantische Spinnerei?

    •  Welche gesellschaftliche Rolle spielen Wissenschaft und Forschung und was bedeutet das für unser Gemeinschaftswesen?

    •  Welche Möglichkeiten der Veränderung schlummern in unserer Sprache und was heißt es, frei zu denken?

    •  Wie lässt sich unser Naturverständnis beschreiben und welche Probleme liegen darin geborgen?

    •  Welche Folgen haben die Priorisierung von Digitalisierung und sogenannten »Kompetenzen« in der Schule?

    •  Was hat es mit dem Begriff der Würde auf sich und welche Werte spielen heute eine Rolle?

    Gesellschaft – von blinden Flecken

    Damit sich eine Gesellschaft selbstbestimmt entwickeln kann, … muss sie sich ihres verkürzten Selbstverständnisses bewusst werden. Die Konzentration auf Effizienz, Effektivität und Rationalität führt zu einer verengten Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit.

    Aufklärung light

    Aus dem Jahr 1784 stammt Immanuel Kants berühmte Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei. Zwei Punkte waren ihm zentral: Mut und Verstand – und zwar im Zusammenspiel. Es brauche Mut, damit der Mensch sich seines eigenen Verstandes bediene, um sich loszusagen von falschen Autoritäten. Gleichzeitig solle der Mensch Ergebnisse nur dann als gültig anerkennen, wenn er sie durch eigenes Nachdenken als gut und richtig verstehe. Seit der Essay im 18. Jahrhundert erschienen ist, hat er nichts von seiner Bedeutung verloren. Auch heute noch dürfen sich Schülerinnen und Schüler zumindest durch Auszüge dieses Schriftstücks arbeiten. Er gehört zum Bildungskanon einer modernen Gesellschaft und das ist auch sinnvoll. Immerhin leben wir in einer aufgeklärten Gesellschaft.

    Heute spricht man eher von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, doch gehen beide Termini aus der Aufklärung hervor. Dabei scheint die Phrase des »Aufgeklärt-Seins« in den vergangenen Jahrhunderten einen inflationären Gebrauch erfahren zu haben. Bereits im beginnenden 19. Jahrhundert schrieb August Wilhelm Schlegel, dass die Aufklärung versuche, auch sprachlich in den gesellschaftlichen Verhältnissen Fuß zu fassen und so höre man von aufgeklärten Regierungen reden, von aufgeklärter Erziehung und Theologie, einer aufgeklärten Geschichte sowie einer aufgeklärten Physik und selbst einer aufgeklärten Mathematik.¹ Heute sei alles »aufgeklärt«. Doch, so zweifelte Schlegel: »Wenn die Aufklärung also wirklich leistet, was sie verspricht, so wäre es unstreitig eine herrliche Bequemlichkeit, etwas zu haben, womit man alle möglichen Dinge beleuchten könnte, und sicher wäre immer das Rechte an ihnen zu sehen.«² – Wohl mit Bedacht wählt Schlegel hier den Konjunktiv, verwendet die Begriffe »wenn«, »wäre« und »könnte«. Und verschiedene Befunde der Gegenwart unterstützen seine Skepsis beziehungsweise vertiefen sie zum Fragezeichen: Weltweit gewinnen Populisten an Einfluss, der Kampf gegen alte Missstände wie Krankheiten und Hunger bleibt akut und neue Herausforderungen wie beispielsweise die Plastikvermüllung der Ozeane oder die Klimaerwärmung kommen hinzu. Natürlich gelingt es den Menschen – global gesehen – bestimmte Themen in den Griff zu bekommen. Ernährungsprogramme hier, Atomabkommen dort. Und gerade die für Deutschland geltenden Wirtschaftsindikatoren wie Wachstum, Arbeitslosigkeit, Verschuldung und Beschäftigung deuten alle auf eine glorreiche Zukunft hin – zumindest auf dem Papier. Unterm Strich brauchen wir uns aber dieser Erfolge nicht zu rühmen. Für Menschen des 21. Jahrhunderts, die sich vernünftig schimpfen, sind die zu lösenden Aufgaben brennend aktuell und beängstigend groß. Die unwiederbringliche Zerstörung natürlicher Ressourcen, immer noch knapp eine Milliarde hungernder Menschen weltweit, über drei Milliarden Menschen, die in extremer beziehungsweise relativer Armut leben, die Existenz von Waffen in einem bisher nie dagewesenen Ausmaß, Menschen, denen nach wie vor der Zugang zu sauberem Trinkwasser, medizinischer Versorgung, Pflege und Bildung fehlt.³ Aber auch im vergleichsweise reichen Deutschland nehmen die sozialen Spannungen zu, hervorgerufen durch eine zunehmende Segmentierung in Oben und Unten.

    Trotzdem: Kaum jemand würde bestreiten, dass wir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben. Diese Phrase schmeichelt unserem Bedürfnis nach Unabhängigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung. Aufklärung gleicht einem Heilsbegriff, etwas das wir »haben« und »sind«. Vorschnell rückt die Aufklärung selbst damit aus der Wahrnehmung, was einen kritischen Blick auf sie erschwert. Wo Aufklärung zum nicht mehr hinterfragbaren Begriff wird, unterläuft sie allerdings ihre eigenen Vorgaben. Und gerade die unzähligen ökologischen, ökonomischen und sozialen Baustellen, die uns täglich in der Presse vor Augen geführt werden, sollten uns doch über die Bedeutung dieser Vokabel nachdenken lassen.

    In einem groß angelegten Entwurf haben das Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zwischen den Jahren 1939 und 1944 in ihrer Dialektik der Aufklärung getan. Ihre Erkenntnisse haben eine bis heute unangenehme Aktualität. Adorno und Horkheimer wollten wissen, ob die Aufklärung dazu beigetragen habe, den Menschen unabhängiger, freier zu machen, und ihre Antwort ist ein klares Nein. Die beiden Philosophen wenden bei ihren Überlegungen die ursprüngliche Kritik der Aufklärung auf die Aufklärung selbst an. Diese sehen sie im Scheitern begriffen, da die Aufklärung ihre kritische Haltung verloren habe und damit wieder einen vorkritischen Zustand begünstige. Ein Indiz unter vielen ist für Adorno und Horkheimer die Beobachtung, dass der Mensch die Vernunft nur noch dafür zu nutzen wisse, sich die Welt untertan zu machen, indem

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