Rettet die Wirtschaft … vor sich selbst!: Faszinierende Reise ans Ende des neoklassischen Universums
Von Christian Mayer
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Buchvorschau
Rettet die Wirtschaft … vor sich selbst! - Christian Mayer
Christian Mayer
Rettet die Wirtschaft ... vor sich selbst!
Faszinierende Reise ans Ende des neoklassischen Universums
ISBN (Print) 978-3-96317-101-7
ISBN (ePDF) 978-3-96317-601-2
ISBN (ePub) 978-3-96317-657-9
Copyright © 2018 Büchner-Verlag eG, Marburg
Umschlaggestaltung: DeinSatz Marburg, deinsatz.marburg@gmail.com
Bildnachweise Umschlag: DeinSatz Marburg auf Grundlage von Wojciech Pijecki »Create a Lost Fantasy Micro World«, https://wegraphics.net/blog/tutorials. Wolken: Fotografie von Jessie Eastland, 2010, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sky-2.jpg?uselang=de (CC BY-SA 3.0); Graugänse: Fotografie von Matthias Fichtner, 2013, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/31/Abendflug_der_Graug%C3%A4nse.jpg?uselang=de (CC BY-SA 3.0); Auto: Fotografie von Wikimedia-Uploader Modrak, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ma serati_GranTurismo_at_night.jpg (CC BY-SA 3.0)
Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
www.buechner-verlag.de
Inhalt
Von grauer Wirtschaftstheorie inmitten bunter Vielfalt
Der Mensch und das Wirtschaften
Gefangen im eigenen Weltbild
Leben, um etwas zu werden
Beschränktes Erfolgsverständnis und Elitenkult
Von Bedürfnissen, dem Konsum und warum Souveräne Idioten sind
Konsum: ein tägliches Dilemma und ein Tabu
Vom Konsum und dem Durchtrennen der Fäden
Vom Endzweck aller Produktion
Auf der Suche nach dem besten Gesellschaftsmodell: Rawls und die Utilitaristen
Neoliberale Freiheit und ihre Folgen für die Gesellschaft
Was uns die Spieltheorie über unsere Gesellschaft verrät
Was man vom Elfenbeinturm aus nicht sehen kann
Ein Stück Wirtschaftsgeschichte
Quo errat demonstrator
Der heilige Formalismus
Neoklassische Freiheit und Naturgesetzlichkeit
Warum Modelle problematisch sind und glaubhafte Prophezeiungen den Kurs der Geschichte verändern
Gewohnheiten und die Faszination der Zahlen
Zwischen neoklassischer Theorie, Realität und Fortschritt
Bedenkliche Modell-Logik: einige Beispiele
Internalisierung: wenn es der Markt regeln soll
Wissenschaftlicher Fortschritt: Wenn er nicht so will, wie wir gerne hätten
Immer mehr Nestbeschmutzer – eine neue Generation von Wirtschaftswissenschaftlern
Sprache macht Wirtschaft oder warum Arbeitnehmer eigentlich Arbeitgeber sind
Über die Metapher zum unternehmerischen Selbstbild
Die Verantwortung der Medien
Die Würde des Arbeitgebers
Wie uns das Kürzen als Sparen verkauft wird und andere Märchen
Das religiöse Fundament der herrschenden Lehre
Der große Unbekannte: der Kapitalismus
Das Geldsystem – angeschlagenes Herzstück unserer Wirtschaft
Über Geld, Zinsen und warum wir Wachstum brauchen
Geldfunktionen und Symbolcharakter
Zinsen als Lockmittel, der Zinseszinseffekt und die Zinsschuldner
Historische Entwicklungen und Geldexperimente der Vergangenheit
Das Zinseszinsverbot
Silvio Gesell: Das Geld muss der Ware gleichen
Die Brakteaten
Das Experiment von Wörgl: Eine regionale Wirtschaft floriert in Zeiten der Krise
Und heute?
»Negativzinsen«
Qualitatives Wachstum ist auch keine Lösung
Das Zinsproblem – nach wie vor ein blinder Fleck im gesellschaftlichen wie universitären Diskurs
Macht die Wirtschafts- zur Sozialwissenschaft!
Der Homo oeconomicus – ein Ideologiesklave ohne Erklärungsgehalt
Dem Homo oeconomicus ein Moralempfinden zugestehen
Der neue Homo oeconomicus – ein brauchbarer Modellmensch
Verdeckte Schieflagen: die Sache mit dem Eigentum
Den Eigentumsbegriff neu denken
Für die Entkapitalisierung des Bodens
Eigentum verpflichtet – aber wen und zu was?
Die unselige Allianz von Wirtschaft und Bildung
Bildung und die Suche nach dem Glück
OECD, PISA und der neoliberale Traum eines neuen Bildungswesens
Die plumpe Forderung nach mehr ökonomischer Bildung
Exkurs: Einseitige Lehrbücher und die Kontrolle des Denkens
Unterrichtsmaterialien und der Kampf um die Deutungshoheit
Von gallischen Dörfern oder wo Alternativen existieren
Wie wir unsere eigene Passivität legitimieren
Nachhaltige Nachhaltigkeit und warum Bilanzen nicht die Realität abbilden
Regionalität – eine Lösung?
Bilanzen sind blind für echte soziale und ökologische Vorgänge!
Komplementärwährungen: Im Geldsystem schlummert noch viel Potenzial
Was zu tun ist!
Quellenverzeichnis
Literatur
Online-Artikel
Endnoten
Register
Sachregister
Personenregister
Von grauer Wirtschaftstheorie inmitten bunter Vielfalt
Wir glauben, nur am Arbeitsplatz oder beim Einkaufen würden wir mit der Welt der Wirtschaft in Berührung kommen. Allenfalls noch über die in der Politik getroffenen Entscheidungen, deren Auswirkungen wir dann im Geldbeutel spüren. Zuhause begegnen uns wirtschaftliche Themen nur noch passiv bei der allmorgendlichen Zeitungslektüre. Im Privaten – so nehmen wir an – haben Gewinnmaximierung, Leistung, Angebot und Nachfrage kein Mitspracherecht. Im Kreis der Familie, bei Freunden und beim gemütlichen Plausch mit dem Nachbarn sind wir »wirtschaftsfrei«.
Auch ich war lange dieser Ansicht. Mehr noch: Je intensiver ich mich im Studium der Wirtschaftspädagogik mit ökonomischen Theorien beschäftigte, desto mehr wuchs in mir die Erkenntnis, dass es gerade die ökonomische Fachwelt ist, die in weiten Teilen »wirtschaftsfrei« ist, also sich nicht mit der real existierenden Wirtschaft beschäftigt oder weite Teile ausblendet. Wie kam ich zu dieser Ansicht?
Durch das Wirtschaftsgymnasium zum ersten Mal mit ökonomischen Fragen in Berührung gekommen, wollte ich mehr erfahren über angebots- und nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik. Ich wollte mehr erfahren über die Art und Weise, wie unsere Wirtschaft funktioniert, an welchen Stellschrauben gedreht werden müsste, um die allgemeine Wohlfahrt zu verbessern. Heute weiß ich, dass ich bereits mit diesem Bild der Stellschrauben einem Denken erlegen war, dessen Fundament im Wirtschaftslehreunterricht gegossen wurde und auf das die Studieninhalte ihre mechanischen Wirtschaftsmodelle errichten konnten. Anstatt etwas über den Menschen zu erfahren, der eigentlich den Ausgangspunkt für Wirtschaftsfragen bilden sollte, blieb dieser blass und unnahbar. Lediglich über unbegrenzte Bedürfnisse, rationale Erwartungen und eine egoistische Nutzenmaximierung schimmerte das schwache Bild eines recht komisch gearteten Homo sapiens zwischen den Vorlesungsinhalten hindurch. Anstatt Gesprächen über Menschen, ihre Ängste, Sehnsüchte und die damit verbundenen Einflüsse auf ihr wirtschaftliches Handeln, glichen die meisten Veranstaltungen einem mathematischen Imponiergehabe.
Eine dieser Veranstaltungen ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Über 45 Minuten hinweg konstruierte unser Professor eine Formel, deren triviale Aussage darin bestand, dass Menschen weniger illegal oder ordnungswidrig handelten, je höher die Wahrscheinlichkeit ist, dabei erwischt zu werden, und je höher die zu erwartende Strafe ist. Als Angehörige der akademischen Zunft, so der Dozent, sollten wir nicht nur die Aussage dieser Formel kennen, sondern auch noch den Beweis für ihre Richtigkeit bekommen. Anstatt die Ergebnisse einer empirischen Studie zu erhalten, verwendete der Dozent weitere 45 Minuten darauf, uns die interne Konsistenz dieser Formel mathematisch zu beweisen. Derlei Situationen waren unser Tagesgeschäft. Als einer meiner Kommilitonen das Thema seiner Abschlussarbeit mit seinem Dozenten besprach, war ich kurz davor, den Glauben an die Wissenschaftlichkeit der Ökonomie zu verlieren. Der Kommilitone wollte ein Entscheidungsmodell für das Personalwesen entwickeln, das erklären sollte, wie Unternehmen die für sie besten Mitarbeiter finden können. Motiviert und mit vielen Ideen ging er ins Gespräch. Dessen Quintessenz war ernüchternd. Viele Punkte ließen sich nicht realisieren, da der Dozent verlangte, das Modell müsse mathematisch konstruiert werden. Auf den Einwand des Kommilitonen, er könne dann aber nicht alle wichtigen Facetten ins Modell integrieren, bekam er die Antwort, dass dies dann eben so sei. Er müsse endlich anfangen, wissenschaftlich zu denken und zu arbeiten.
Kein Wunder, dass solche Situationen Fragen über Sinn und Unsinn wissenschaftlicher Methodik aufwerfen. Spätestens seit der Wirtschafts- und Finanzkrise haben viele Teile der Wirtschaftswissenschaften mit öffentlicher Kritik zu kämpfen. Und heute, Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, einer der größten Bankenrettungsaktionen der Geschichte und der heute mehr denn je brodelnden wirtschaftlichen Konflikte in Europa – aber auch im Rest der Welt – scheint sich wenig bewegt zu haben. Nicht nur, dass kaum umfangreiche und ergebnisoffene Kontroversen mit den Studierenden geführt werden, selbst heute herrscht noch Uneinigkeit über ganz grundlegende Fragen. Diese reichen von den Auswirkungen des Mindestlohns bis hin zur Frage, ob wenig regulierte Beschäftigungsverhältnisse zu mehr Produktivität und damit zu mehr Wirtschaftswachstum führen oder nicht.¹
Wie kann es sein, dass sich Ökonomen über ganz grundsätzliche Fragen uneinig sind? Natürlich sind die Wissenschaften heute längst über den anachronistischen Zustand hinaus zu glauben, es gäbe nur eine Wahrheit. Multiperspektivität gehört zu den grundlegenden Eigenschaften von Wissenschaft dazu – zumindest in einem philosophischen Sinne. Uneinigkeiten auf ganz basaler Ebene aber lassen gewisse Zweifel an den Grundfesten dieser wissenschaftlichen Disziplin aufkommen. Das ist so, als würden sich Astrophysiker heute noch darüber streiten, ob das heliozentrische oder das geozentrische Weltbild richtig sei.
Viele meiner Studienkolleginnen und -kollegen betrachteten das Studium als Martyrium, das für eine gut bezahlte und erfüllende Arbeitsstelle durchschritten werden müsse. Nach Berührpunkten zwischen den Theorien der Lehrbücher und den Phänomenen der »Welt da draußen« fragten mit fortschreitendem Studium immer weniger. Vermutlich wäre auch ich recht unzufrieden und kritiklos durchs Studium gegangen, hätten nicht die anderen Zweige meines Studiums – die der Germanistik und der Erziehungswissenschaft – dafür gesorgt, mein Bewusstsein für die Historizität der Gesellschaft zu schärfen, womit unveränderlichen anthropologischen Theorien eine Abfuhr erteilt wurde. Stets verhält sich der Mensch in Reaktion auf seine Umwelt. Und diese ist immer im Wandel. Für die Erziehungswissenschaften lässt sich dieser Wandel verfolgen über die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und ihre Hermeneutik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die durch den Sputnikschock 1957 ausgelösten Veränderung der Erziehungswissenschaft hin zur empirisch-analytischen Pädagogik und in der Folge zur Kritischen Theorie. All diese Selbstverständnisse der Erziehungswissenschaft sind Reaktionen auf gesellschaftliche Veränderungen. Eine solche Spiegelung kultur- und geschichtsbedingter Phänomene vermisste ich Großteils in den wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesungen. Die Unterscheidung in ein neoklassisches und ein keynesianisches Wirtschaftsverständnis, deren theoretische Fundamente selbst nie Gegenstand irgendwelcher Dispute waren, konnte doch nicht alles sein. Auch das äußerst mechanische Verständnis der Wirtschaft und die oberflächliche Besprechung des wirtschaftenden Menschen, wurden für mein Empfinden zu unterkomplex betrieben. Und das blieb nicht ohne Folgen.
Am Ende meines Studiums verließ ich die Hochschule, las die Wirtschaftsnachrichten, hörte und sah, welche ökonomischen Probleme es zu lösen galt – und fühlte mich nicht in der Lage, kompetente Antworten geben zu können. Diese unbefriedigende Situation bereitete den Nährboden für meine Suche. Ich begann zu fragen, welche anderen Sichtweisen es auf die Welt der Ökonomie gibt. Ich begann nach jenen Themen, Theorien, Autoren und Denkschulen zu suchen, die es nicht in die ehrwürdigen Hallen einer universitären Massenveranstaltung geschafft hatten. Dabei sollte ich auch erfahren, dass nicht Erklärungsgehalt, nicht Prognosefähigkeit, nicht wirtschaftspolitische Relevanz die Kriterien des Für und Wider einer Aufnahme in den Lehrkanon bilden, sondern Bequemlichkeit, Unwissenheit und Kritiklosigkeit der (Nachwuchs-)Elite sowie wirtschaftliche Interessen.
Was ich jenseits dessen fand, was wir herrschende Meinung nennen, war überwältigend! Die Zahl kritischer Experten ist enorm. Nur gehen ihre Stimmen meist unter in den Geräuschen des hektischen Alltags. Hier, fernab des Mainstreams, fand ich probate Antworten und Erklärungen auf aktuelle Fragen. Hier erkannte ich, dass Ökonomie mehr ist als graue Einheitstheorie. Hier lernte ich aber auch, dass Ökonomie ein zu wichtiges Thema ist, um es einer elitären Minderheit zu überlassen.
Es ist wichtig, dass wir uns ansehen, wie der Großteil der Mainstreamökonomen die Welt sieht. Gemeint ist die Sichtweise der Neoklassiker. Also jene Denkschule, die uns vorwiegend in Zeitungen, dem Fernsehen und in Talkshows begegnet. Diese Analyse ist wichtig, denn ein ums andere Mal wollen Experten wirtschaftliche Probleme mit den immer gleichen Denkmodellen lösen. Modelle, die viele heutige Probleme erst geschaffen haben und selbst kaum noch durchdacht werden. Modelle, die durch den sakralen Schein universitärer Hallen geheiligt und damit fast unangreifbar werden.
Denn – und das ist das Ermutigende – es gibt sie, die Lösungen für unsere Probleme. Doch um diese zu verstehen, müssen wir uns in einem ersten Schritt klarmachen, warum wir sklavisch einem Wirtschaftswachstum hinterherhecheln, warum die Schuldenberge systembedingt wachsen müssen, warum Geld heute mehr Herrschafts- denn Tauschmittel ist, warum all die hochgepriesenen Lösungsversuche für Länder der sogenannten Dritten Welt scheitern müssen, warum das Geld allen Sparmaßnahmen zum Trotz scheinbar immer weniger wird und warum heute ein fast unbemerkter Kampf um die Deutungshoheit wirtschaftlicher Realität herrscht. Haben wir all das verstanden, können alternative Möglichkeiten keimen und heranreifen.
Wer das versucht, wer seinen Kopf aus der Masse erhebt, dem weht ein eisiger Wind entgegen. Schließlich begleiten uns zwei mahnende Vokabeln Tag für Tag. Der Kabarettist Volker Pispers nennt sie die Götter kapitalistischer Staaten: Wachstum und Produktivität. Sie sind es, denen wir huldigen, denen wir alles unterordnen. Wohlstand und Lebensstandard sind Geschenke dieser Götter. Wer immer sie kritisiert, weiß – so der häufig zu hörende Vorwurf – deren Bedeutung für unsere moderne Wohlstandsgesellschaft nicht zu schätzen. Dabei wollen viele deren Bedeutung für unser Leben gar nicht in Abrede stellen. Wir benötigen eine funktionierende und florierende Wirtschaft. Doch brauchen wir keine unangreifbaren Götter, denen unreflektiert gehuldigt wird. Fragwürdiges und Ineffizientes bleiben ansonsten tabuisiert.
Derzeit beginnt der sakrale Schild, der diese Götter umgibt – bestehend aus Gewohnheiten, Indoktrinationen und gesellschaftlichem Desinteresse an wirtschaftlichen Fragestellungen –, zu bersten. Viele tragen mittlerweile dieses Gefühl in sich, dass irgendetwas Grundlegendens in unserem Wirtschaftsverständnis nicht stimmen kann. Aber noch sind wir nicht in der Lage, diese Götter zu entzaubern. Um sie argumentativ zu säkularisieren, müssen wir bei ganz grundlegenden Dingen beginnen und uns von verkrusteten Denkgewohnheiten befreien. Ludwig Wittgenstein hat dies passend beschrieben:
»Man muß beim Irrtum ansetzen und ihn in die Wahrheit überführen. D. h. man muß die Quelle des Irrtums aufdecken, sonst nützt uns das Hören der Wahrheit nichts. Sie kann nicht eindringen, wenn etwas anderes ihren Platz einnimmt. Einen von der Wahrheit zu überzeugen, genügt es nicht, die Wahrheit zu konstatieren, sondern man muß den Weg vom Irrtum zur Wahrheit finden.«²
Kehren wir also zurück zu ganz grundsätzlichen Annahmen über die Wirtschaft. Nehmen wir Altbekanntes einmal auseinander und schauen nach, was zutage tritt. Machen wir keinen Halt vor Tabus und legen wir sogar unsere Sprache auf den Seziertisch.
Der Mensch und das Wirtschaften
Gefangen im eigenen Weltbild
Leben, um etwas zu werden
Viele Menschen schuften und arbeiten bis über ihre Grenzen hinaus. Viele tun dies aus Angst, in prekäre Verhältnisse abzurutschen. Aber auch gut situierte Menschen und Menschen, denen diese Angst nicht im Nacken sitzt, wirtschaften ohne Unterlass. Es lässt sich kaum bestreiten, dass Menschen – zumindest in den Industrienationen – nicht ausschließlich wirtschaften, um zu überleben. Eigentlich könnten viele weniger arbeiten, einen Gang zurückschalten und würden dennoch ihr tägliches Brot verdienen. So scheint der Mensch in unseren Breitengraden aber nicht gestrickt zu sein. Ein erwünschter Zustand ist nur so lange Ziel, bis er realisiert wurde. Danach meldet sich wieder diese Ruhelosigkeit zu Wort. Das mag nicht zuletzt an den modernen gesellschaftlichen Strukturen liegen, an den Marketingkonzepten der Unternehmen, die uns ständig sagen, was wir zu brauchen haben. Das neueste Smartphone, die aktuelle Designerhose, die angesagteste Sonnenbrille, das trendigste Auto, das coolste Irgendwas. Das ist mittlerweile ein alter Hut. Woher aber kommt das Bedürfnis nach diesem Immer-Mehr? Gibt es Gründe dafür, die unabhängig von konkreten medialen Einflüssen sind?
Der Frage nach dieser Rastlosigkeit ging auch der Wiesbadener Philosoph Helmuth Plessner in den 1930er Jahren nach. Da sein Vater jüdischer Herkunft war, musste er Deutschland 1933 verlassen. Durch sein Exil in den Niederlanden war es Plessner kaum möglich, in Fachkreisen Gehör zu finden. Besonders nicht im nationalsozialistischen Deutschland. Erst in den 1980er Jahren wurde ihm die späte Ehre zuteil, mit seinen Beiträgen zur Philosophie Anerkennung zu finden. Und es sollte nochmals zehn Jahre dauern, bis auch seinen sozialen Studien respektzollend Beachtung geschenkt wurde. Warum erschafft der Mensch Kultur, wollte Plessner wissen. Damit ging sein Blick nicht nur weit über die ökonomische Sphäre hinaus, sondern erfasste auch diejenigen Motive menschlichen Handelns, die nicht oder nur teilweise von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt sind.
Ursprünglich von einem biologischen Verständnis ausgehend, näherte er sich später dem Menschen über einen philosophischen Weg. Seinem früheren naturwissenschaftlichen Metier treu bleibend, startete Plessner seine Überlegungen am Übergang vom Tier zum Menschen. Für ihn ist allein der Mensch in der Lage, sich seines eigenen Erlebens bewusst zu werden. Also über sich nachzudenken und seine Erfahrungen zu interpretieren. Der Mensch hat ein Inneres und wird sich selbst nur über Reflexion bewusst. Für eine Beobachtung seiner selbst muss es dem Menschen möglich sein, außer sich stehen zu können. Der Mensch hat etwas Inneres, etwas Geistiges und etwas Äußeres, einen Körper. In diesem Zwiespalt gefangen, muss sich der Homo sapiens finden. Indem Plessner dem Tier diese Existenzweise nicht zubilligt, wird für ihn das Tier zur reinen Natürlichkeit, das ausschließlich seinen Instinkten folgt. Diese Instinktsicherheit ist dem Menschen durch sein Geistiges und damit durch seine Freiheit verloren gegangen. Da nun dem Menschen aber die Möglichkeit gegeben ist, über sich selbst und sein Leben nachzudenken, wird der Mensch erst durch das Machen zum Mensch, erst hier unterscheidet er sich vom Tier. Der Mensch ist also gezwungen, ein Leben zu führen, sich eines zu erschaffen.
Warum sich aber so etwas wie Kultur schlechthin entwickelt – unabhängig davon, welchen Kulturkreis man sich ansehe –, ist damit noch nicht beantwortet. Weder spirituelle Theorien noch der gerne genommene naturalistische Argumentationsweg über Darwin oder Freud halten für Plessner eine überzeugende Erklärung bereit. So kann ihm niemand eine vernünftige Erklärung für die Entstehung des Geistes präsentieren. Während die eine Seite den Nutzen, das sachlich Objektive aus den Augen verliert, kann die andere das »Überwerkzeughafte« nicht begreiflich machen. Sowohl naturwissenschaftliche als auch geisteswissenschaftliche Vorstellungen verabsolutieren ein bestimmtes menschliches Symptom. Den eigentlichen Grund für diese ständige Unruhe, das fortwährende Streben nach Mehr, sieht Plessner in der menschlichen Existenzform selbst. Es bleibt dem Menschen nichts anderes übrig, als sein Leben, in das er mit der Geburt geworfen wurde, zu gestalten, zu leben. Erst durch das Erschaffen kann der Mensch Einklang finden, eine Harmonie zwischen Natur und Geist. »Der Mensch lebt also nur, wenn er ein Leben führt.«³ Aus dieser Perspektive können wir auch verstehen, warum Menschen beständig Anforderungen an sich stellen. Erst in der Übersteigerung gelingt eine Kompensation dieser Gleichgewichtslosigkeit. Hierin erklärt sich diese Unrast des Menschen, dieses Getriebensein. Fälschlicherweise verstehen viele diesen Drang, die Umwelt zu verändern, als Beweis dafür, dass der Mensch wirtschaftlich etwas erreichen möchte. Wohlgemerkt entlädt sich dieses Drängen aber nicht nur in wirtschaftlichem Tun, sondern eben ganz generell in der kulturellen Entwicklung. Also auch in der Lebensgestaltung, gleich wie diese aussehen mag. Heute aber hat sich ein Credo unseres Denkens bemächtigt, das das Streben nach mehr vorwiegend ökonomisch erklärt. Dies belegt unser gesellschaftliches Selbstverständnis: Etwas ist gut und brauchbar, wenn es sich in bare Münze wandeln lässt oder die persönlichen Karrierechancen verbessert.
Beschränktes Erfolgsverständnis und Elitenkult
Ob wir etwas erreicht haben, messen wir häufig daran, wie hoch das Einkommen oder wie prestigeträchtig die Anstellung ist. Das ökonomische Umfeld ist Lebensraum und Richter in einem. Der amerikanische Ökonom Gary S. Becker ging sogar so weit, ökonomische Theorien auf Bereiche menschlichen Zusammenlebens zu übertragen, die bei oberflächlicher Betrachtung nichts mit wirtschaftlichen Themen zu tun haben. Er begutachtete die Rassendiskriminierung, die Ehe samt deren Scheidung, die Bevölkerungsentwicklung und die Kriminalität ökonomisch. Selbst die Familie musste sich in sein wirtschaftliches Korsett pressen lassen. Becker glaubte, die Menschen würden sich immer und überall rational, nutzenmaximierend, kurz: ökonomisch verhalten. Für solch einen Imperialismus gab es dann 1992 auch den »Preis für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank im Gedenken an Alfred Nobel«; einen Preis, der fälschlicherweise als Wirtschaftsnobelpreis in der Presse firmiert.⁴
Die Wirtschaft ist heute die alles bestimmende Macht. Ökonomisch erfolgreiche Menschen schaffen es auf Titelseiten, in Sondersendungen, in die Tagesschau. Kulturelle Erfolge allenfalls ins Feuilleton. Mütter und Väter, die ihr Leben erfolgreich damit bestreiten, ihre Kinder zu sozialen, empathischen und beziehungsfähigen Menschen zu erziehen, nicht einmal dahin. Die Wirtschaft bestimmt den Menschen, sie ist der neuralgische Punkt, um den sich das Leben dreht. Wir sind in diesem Weltbild gefangen. Nicht weil es das einzig Wahre wäre, sondern weil wir es nicht anders kennen. Dagegen weiß die Pädagogik, dass
»der Mensch durch Arbeit, durch Ausbeutung und Pflege der Natur, seine Lebensgrundlage schaffen und erhalten [muss] (Ökonomie), er muss die Normen und Regeln menschlicher Verständigung problematisieren, weiterentwickeln und anerkennen (Ethik), er muss seine gesellschaftliche Zukunft entwerfen und gestalten (Politik), er transzendiert seine Gegenwart in ästhetischen Darstellungen (Kunst) und ist konfrontiert mit dem Problem der Endlichkeit seiner Mitmenschen und seines eigenen Todes (Religion). Zu Arbeit, Ethik, Politik, Kunst und Religion gehört als sechstes Grundphänomen das der Erziehung. Der Mensch steht in einem Generationenverhältnis, wird von Angehörigen der ihm vorausgehenden Generation erzogen und erzieht Angehörige der ihm nachfolgenden Generation«⁵.
Genau betrachtet müssen wir das herrschende Weltbild als ein sehr verengtes Weltbild entlarven. Wir streben nicht (nur) nach mehr, weil wir wirtschaftlich vorankommen wollen. Wir kommen wirtschaftlich voran, weil wir nach mehr streben. Dieses Mehr rein ökonomisch zu fassen ist Ausdruck eines stark beschnittenen Selbstbilds. Und in dieser begrenzten Sicht steckt die Gefahr, sich nicht mehr vorstellen zu können, dass vieles anders sein könnte. Nicht in einer verklärten und völlig unrealistischen Vorstellung, sondern in einer absolut bodenständigen.
Die Wirtschaft ist die treibende Kraft, der sich alles unterordnen muss. Ökonomen werden zu Allwissenden. Sie geben sogar auf ganz unökonomischen Gebieten Rat. Heute ist kaum noch eine gesellschaftspolitische Debatte möglich, ohne sich die Auskünfte eines Ökonomen einzuholen, weiß der Soziologe Jens Maeße von der Universität Gießen. Werden etwa Bildungsexperten, Soziologen und Sprachwissenschaftler »nur« als Experten für ihre Disziplin interviewt, sprechen wir Ökonomen eine »Generalzuständigkeit« zu, um die großen Fragen unserer Zeit zu diskutieren. Kaum bemerkbar herrscht hier eine Schieflage. Während Ökonomen offiziell als Experten für das Schicksal der Europäischen Union, die Menschen in Griechenland, oder für die deutschen Steuerzahler gehandelt werden, haben die Sozial- und Gesundheitsexperten, die auf die zunehmende Armut hinweisen, einen schlechteren Stand. Sogar Rechtsexperten treffen, wenn sie die Rechtmäßigkeit der geldpolitischen Maßnahmen von Mario Draghi in Zweifel ziehen, bei Politikern auf taube Ohren. So bedeutend die Expertisen dieser anderen Wissenschaftler sind, so wenig entfalten sie eine Universalmacht, wie das bei den Wirtschaftswissenschaftlern der Fall ist. Mit ein Grund hierfür ist das akademische Prestige. Den Wirtschaftswissenschaften