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Raus aus dem Ego-Kapitalismus: Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen
Raus aus dem Ego-Kapitalismus: Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen
Raus aus dem Ego-Kapitalismus: Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen
eBook324 Seiten3 Stunden

Raus aus dem Ego-Kapitalismus: Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen

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Über dieses E-Book

Ob Krisen, Armut oder die zunehmende Verrohung und Spaltung der Gesellschaft: Die beängstigenden Entwicklungen der letzten Jahre sind in erster Linie das Ergebnis verfehlter wie fehlender wirtschaftspolitischer Ideen und Leitbilder. Das sagt der Politökonom Patrick Kaczmarczyk. Seine Suche nach möglichen Auswegen aus dem drohenden sozio-ökonomischen wie ökologischen Desaster führt Kaczmarczyk bis in die Soziallehre der Kirche. Diese weist einen überraschenden Reichtum an Prinzipien und Leitbildern auf, die den auf radikalen Egoismus setzenden Dogmen des Neoliberalismus in fundamentaler Weise entgegenstehen. Denn eines steht fest: Ohne mehr Gemeinsinn sind die aktuellen Krisen ein bloßer ein Vorgeschmack auf all das, was noch auf uns zukommt.
SpracheDeutsch
HerausgeberWestend Verlag
Erscheinungsdatum18. Sept. 2023
ISBN9783987910203
Raus aus dem Ego-Kapitalismus: Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen
Autor

Patrick Kaczmarczyk

Dr. Patrick Kaczmarczyk ist Entwicklungsökonom. Zuletzt arbeitete er als Berater für die Vereinten Nationen zur Finanzmarktstabilität im globalen Süden sowie zur wirtschaftlichen Entwicklung in Ostafrika. Derzeit ist er als wirtschaftspolitischer Referent in Berlin tätig. Er promovierte als Stipendiat des Economic and Social Research Council (ESRC) am Institut für politische Ökonomie der Universität Sheffield. Im Westend Verlag erschien zuletzt "Kampf der Nationen" (2022). Das Buch landete auf der Shortlist des renommierten Hans-Matthöfer-Preises für Wirtschaftspublizistik 2023.

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    Buchvorschau

    Raus aus dem Ego-Kapitalismus - Patrick Kaczmarczyk

    Vorwort von Fabio De Masi

    Liebe Leserinnen und Leser,

    immer deutlicher werden die Spuren der Verwüstung, die der entfesselte Kapitalismus hinterlässt: Soziale Ungleichheit, Vermögenskonzentration, eine verlotterte Infrastruktur, die Spaltung der Gesellschaft und ein ökologisches Desaster. Jeder gegen jeden. Alle gegen alle.

    Sowohl innerhalb von Gesellschaften sowie zwischen Staaten war und ist die »Ökonomie des Ellenbogens« bis heute an der Tagesordnung – gerechtfertigt durch den Glauben, dass man auf Kosten der anderen zu mehr Wohlstand gelangen könne. Ein Blick auf den Zustand der Welt zeigt, dass diese Ideologie verrückt und gefährlich ist. Sie gefährdet unseren Wohlstand.

    In diesem Buch legt Patrick Kaczmarczyk mit seiner Kritik des »Ego-Kapitalismus« den Finger ganz tief in die Wunde. Er führt uns vor Augen, wie irrsinnig es ist, in einer Wirtschaft, in der gegenseitige Abhängigkeiten bestehen, auf den Ellenbogen zu setzen – und räumt nebenbei mit gängigen, wirtschaftsliberalen Mythen auf.

    Patrick schreibt in diesem Buch von Ideen, die die Welt ruinieren, und tut dies mit einer erstaunlichen Mischung aus Tiefe und Leichtigkeit. Was mich persönlich freut, ist die Tatsache, dass er in seiner Analyse nicht im Abstrakten bleibt, sondern anschaulich auf die Ideen und Interessen eingeht, die unsere Wirtschaft beherrschen. Während meiner Zeit als Abgeordneter des Europaparlaments und des Deutschen Bundestages wurde ich immer wieder mit dieser Realität konfrontiert, die auch im Buch in aller Deutlichkeit klargestellt wird: Den »freien Markt«, von dem einige Wirtschaftswissenschaftler so gerne sprechen, den gibt es schlicht und einfach nicht. Und es hat ihn auch nie gegeben. Die beiden Quellen der Macht – Kapital und Information –, wie Patrick mit Verweis auf Stephen Hymer schreibt, bestimmen in einer jeden Phase der Entwicklung den Gang der Politik und Wirtschaft.

    Krisen können ein Zeitfenster bieten, in denen sich die Interessen der Mehrheit gegen die Interessen des Kapitals durchsetzen. Doch ob es genutzt wird, steht auf einem anderen Blatt. Die Finanzkrise 2008/2009 war dafür ein klassisches Beispiel: Die exzessive Bereicherung einiger Weniger auf Kosten der Vielen hatte die Ungerechtigkeiten des Systems in einer Art und Weise exponiert, wie kaum ein Ereignis zuvor. Doch das Zeitfenster öffnete und schloss sich wieder. Die Finanzlobby hatte ganze Arbeit geleistet.

    Zwar haben wir eine Menge neuer Regeln eingeführt, allerdings hat sich strukturell kaum etwas verändert. Auf den Finanzmärkten dieser Welt geht es weiterhin zu wie im Kasino. Die Kurzfristigkeit ist so dominant wie eh und je. Die Schattenbanken schalten und walten weiterhin, wie sie wollen. Und wenn im globalen Süden die Finanzmärkte die Regierungen ins Chaos stürzen, kommen westliche Institutionen mit denselben Rezepten wie in den 1980er Jahren vorbei und ziehen die Daumenschrauben noch eine Spur fester.

    Neben der Macht des Kapitals, über alle möglichen Kanäle die Politik und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, spielen Ideen eine zentrale Rolle bei der Verteidigung einer Wirtschaftsordnung im Interesse einer Minderheit. Der Ego-Kapitalismus ist eine Kapitulation vor politischer und wirtschaftlicher Macht. Die Herrschaft von Aristokratie und Kirche erschien den Menschen im Mittelalter als natürliche Ordnung – im Rückspiegel der Geschichte erscheint sie naiv. Was werden wohl unsere Nachkommen einmal über den Ego-Kapitalismus und seine Glaubenssätze denken? Diesen Glaubenssätzen zufolge ist der Milliardär schlichtweg ein kluger und produktiver Mensch, der Arbeitslose hingegen faul. Das Land in einer Dauerkrise hätte lediglich anders wirtschaften sollen. Und wenn wir einen Export-Überschuss erwirtschaften, sollen andere doch dasselbe tun, auch wenn es eigentlich gar nicht geht!

    Dabei vergessen wir, dass Märkte ohne öffentliche Gemeinschaftsgüter gar nicht funktionieren können: Auch den Klimawandel bewältigt man laut Ego-Kapitalismus am besten, indem wir den Markt und den Preis alles regeln lassen. Der Professor oder Abgeordnete mit der teuren Wohnung in der Innenstadt kann dann zwar entspannt mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Auch höhere Benzinpreise sind mit einem hohen Einkommen leicht zu verkraften. Der Berufspendler auf dem Land, ohne Anbindung an einen guten öffentlichen Nahverkehr, muss trotzdem weiter die Luft verpesten und jeden Cent zweimal umdrehen. Der Umwelt ist damit nicht gedient, aber – in Anlehnung an Heinrich Böll – dem dichten Wald erhobener Zeigefinger.

    Im Ergebnis dieser perversen Ideologie rasen wir heute nicht nur auf ökologische, sondern auch auf gesellschaftliche Kipppunkte zu, wenn wir nicht schnell die Kurve kriegen. Doch anstatt der falschen Theorie mit einer anderen Theorie zu begegnen, wie es bereits zahlreiche Publikationen tun, wählt Patrick einen anderen Weg: Er stellt der Ego-Ideologie die christliche Soziallehre entgegen, um uns zum Nachdenken anzuregen.

    Dies ist eine überraschende und mutige Wahl. Denn ist die Kirche nicht durch Macht, Korruption, Missbrauchsskandale und zuweilen auch Absicherung der Interessen des Ego-Kapitalismus aufgefallen? Unterstützen nicht etliche Evangelikale in den USA oder im globalen Süden Ego-Tyrannen wie den einstigen US-Präsidenten Donald Trump?

    Es ist aus meiner Sicht dennoch ein spannender Ansatz, den ich in mindestens zweierlei Hinsicht für relevant halte. Einerseits verlagert ein solcher Schachzug die wirtschaftspolitische Diskussion auf eine Ebene, die nicht nur Professoren und Lobbyisten in Talkshows vorbehalten bleibt. Ein solcher Ansatz geht an das Fundament dessen, was es bedeutet ein Mensch und ein soziales Wesen zu sein, und widmet sich den Institutionen, die – ob wir es gut finden oder nicht – in Europa erheblich vom christlichen Glauben beeinflusst worden sind.

    Der Ansatz wird umso interessanter – damit komme ich zu meinem zweiten Punkt – wenn wir bedenken, dass die lautesten Heuchler üblicherweise im konservativ-christlichen Milieu verortet sind. Gerade dort hören wir jeden Tag Vorschläge zur Lösung der Krisen, die mehr Ego-Kapitalismus fordern. Dabei hätte Papst Franziskus in Evangelii Gaudium kaum deutlicher sein können: »Diese Wirtschaft tötet.«

    Die Prinzipien der christlichen Soziallehre bilden ein radikales Gegenprogramm zum Ego-Kapitalismus: Sie verpflichten die Staaten zur Nachhaltigkeit, Vollbeschäftigung und guter Arbeit. Sie geben armen Ländern ein Recht auf Entwicklung, plädieren für eine andere Beziehung zum Reichtum, binden das Recht auf Privateigentum an dessen Gebrauch für das Allgemeinwohl, sie priorisieren Arbeit vor Kapital – und rücken damit das Kräfteverhältnis zurecht, dass sich während der Ära des Ego-Liberalismus zugunsten von Oligarchen und Großkonzernen verschoben hat. Und schließlich fordert die Soziallehre die Staaten dieser Welt zu einer internationalen Kooperation auf, die den Namen auch verdient. Der Kerngedanke der Soziallehre findet sich im Untertitel des Buches – »Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen« – und stellt die Logik, der zufolge der Mensch dem Mammon beziehungsweise dem Kapital zu dienen hat, auf den Kopf.

    Während die wirtschaftspolitischen Prinzipien der Soziallehre für viele Konservative nur mit Bauchschmerzen zu schlucken sein werden, werden sich viele Linke und Progressive fragen, weshalb es überhaupt den Verweis auf die Kirche braucht. Geht es nicht ohne? Hat Religion je etwas Gutes bewirkt? Wären wir nicht besser dran ohne sie? Vorab kann ich Ihnen sagen: Man muss definitiv nicht gläubig oder religiös sein, um den Ideenreichtum der Kirche und Patricks originelle Kapitalismuskritik zu schätzen zu wissen. Das ergibt sich aus der Lektüre, die Sie in den Händen halten. Doch sofern Sie Zweifel an dem Ansatz haben, würde ich Sie herzlich ermuntern, den Ideen mit einem offenen Geist zu begegnen. Vermutlich werden Sie viele Dinge überraschen, inspirieren und neu zum Nachdenken anregen.

    Denn egal, ob man gläubig ist oder nicht oder die Welt versucht von einem analytischen Standpunkt her zu begreifen: Wir alle befassen uns immer wieder mit der Frage, was der Sinn des Lebens und unserer Existenz ist. Patrick zeigt, dass der Ego-Kapitalismus eine Kriegserklärung an die Menschheit ist. Ich hoffe Sie werden das Buch mit Gewinn lesen!

    Ihr

    Fabio De Masi

    Fabio De Masi war von 2014 bis 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments und von 2017 bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seine politische Laufbahn ist durch die Aufarbeitung großer Finanzskandale geprägt, was ihm einen Ruf als »Finanzdetektiv« einbrachte. Während seiner Zeit als Abgeordneter des Bundestages war er der stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke. Heute ist er parteilos und ein gefragter Publizist und Redner.

    1 Einführung

    Wenn in Krisenzeiten auch Chancen entstehen, dann dürften wir uns in jüngerer Vergangenheit nicht über einen Mangel an Chancen beklagen. Gerade in den letzten Jahren hatten wir es mit einer Schlagzahl an Krisen zu tun, wie wir es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Die entscheidende Frage für die zukünftige Ausrichtung unserer Wirtschaft und Politik ist: Haben wir aus diesen Krisen gelernt? Oder handelte es sich vielleicht gar nicht um einzelne Krisen, sondern um punktuelle Eruptionen einer größeren Dauerkrise, auf die wir eine Antwort finden müssen?

    Nicht selten hört man den Einwand, dass die Menschen zu allen Zeiten ihre Welt in einem schwierigen, ja sogar ausweglosen Zustand gesehen hätten. Die heutige Kritik sei deshalb nichts Neues. Daran mag etwas dran sein. Allerdings wird man mit damit kaum den Eindruck beiseite wischen, dass die Globalisierung und die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte viele Menschen ohnmächtig sowie mittel- und würdelos zurückgelassen haben. Im reichen globalen Norden ist der Alltag bis tief in die Mitte der Gesellschaft von Prekarität, Existenzsorgen oder gar Sinnverlusten geprägt, während es im globalen Süden immer häufiger am Nötigsten fehlt und ein Mindestmaß an sozioökonomischer Stabilität wie ein unerreichbarer Traum erscheint. Gleichzeitig sehen wir an der Spitze die Anhäufung eines Reichtums, der mit einer politischen und medialen Einflussnahme, einer Geltungssucht und Dekadenz, sowie einer Verschwendung einhergeht, die nicht zu überbieten sind.

    Obwohl sich diese Tendenzen schon seit längerer Zeit abzeichnen, rücken die entstandenen Ungleichgewichte vor allem in Krisenzeiten stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung. Wenn immer mehr Menschen ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können oder Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, ist die Sensibilität für Ungerechtigkeiten besonders hoch. Sie dürfte sich noch verstärken, wenn man inmitten der eigenen Not beispielsweise erfährt, wie andere die Krise ausnutzen, um sich die ohnehin schon prall gefüllten Taschen weiter zu füllen. Das Gefühl der Ungerechtigkeit hat sich vor allem seit der Zeit der Finanzkrise 2008/2009 verfestigt, die den Auftakt zu den letzten 15 Jahren Dauerkrise bildete. Gerade bei uns in Deutschland, so stellt die Bertelsmann Stiftung in ihren Untersuchungen fest, ist das Gerechtigkeitsempfinden »besonders schwach ausgeprägt.«¹ Die Stiftung warnt davor, dass »die wahrgenommene Gerechtigkeitslücke – ebenso wie die wahrgenommene Ungerechtigkeit – einen Risikofaktor für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellt«.² Vor allem die allgemeine Verteilungsgerechtigkeit schneidet in den Umfragen alarmierend schlecht ab: Sie wird nur von 17 Prozent als positiv empfunden.³

    Was es bräuchte, wäre eine spürbare Kurskorrektur, die bei der breiten Masse der Bevölkerung ankommt – doch davon ist bisher wenig zu sehen. So ist es nur eine logische Folge, dass die Frustration und Enttäuschung insgesamt wachsen und das Vertrauen in die politischen Parteien sinkt. Im Frühjahr 2023 gaben 57 Prozent an, dass sie keiner einzigen Partei mehr zutrauen, eine Lösung für die gegenwärtigen Probleme parat zu haben.⁴ Das ist für eine Demokratie ein erschreckender Wert und Ausdruck einer tiefen Verbitterung. Es sollte somit niemanden wundern, wenn sich weite Teile der Bevölkerung von der Politik abwenden und den gängigen Medien nicht mehr vertrauen. In manchen Ländern hat sich die Wut sogar in Gewalt gegen die Parlamente entladen – und auch bei uns wird der Ton rauer. Polarisierung, Kulturkampf und das Gegeneinander nehmen zu. Man kann die vergiftete Atmosphäre fast mit den Händen ergreifen, während wir uns in vielen Bereichen immer weiter von zivilisierten Diskursen entfernen.

    Woran sollte sich also eine Kurskorrektur orientieren? Zwei Aspekte werden für eine Neuausrichtung der Wirtschaft und Politik entscheidend sein: Zum einen ein Bewusstsein dafür, wie wir in die Misere geraten sind, in der wir uns seit geraumer Zeit befinden. Zum anderen eine klare Vorstellung davon, wohin die Reise in Zukunft gehen soll. In diesem Buch möchte ich mit Ihnen diese beiden Seiten einer Medaille betrachten, und zwar im Geiste des italienischen Philosophen Antonio Gramsci (1891–1937). In seinen Gefängnisheften fordert er uns auf, die Welt mit dem »Pessimismus des Verstandes und dem Optimismus des Willens« zu betrachten.⁵ Das heißt: nüchterne Analyse gepaart mit der Überzeugung, dass die Zukunft die Möglichkeit zum Besseren birgt.

    Im Mittelpunkt der Gegenwartsanalyse stehen die Ideen, die unserer Wirtschaftspolitik zugrunde lagen und auch heute noch den öffentlichen Diskurs prägen. Die Macht der Ideen wird im gesellschaftlichen Bewusstsein oft unterschätzt, aber tatsächlich bestimmt kaum etwas unseren wirtschaftspolitischen Kurs so entscheidend wie unsere Vorstellungen über die Welt, die zu der jeweiligen Zeit das Sagen haben. In den letzten Jahrzehnten war dies vor allem der Glaube an die Segnungen des heiligen, weil allwissenden und allmächtigen Marktes. Dieser Glaube ging mit der Individualisierung politischer, ökonomischer und sozialer Probleme einher. Das Resultat der Politik, die auf einer solchen Denkweise beruht, bezeichne ich als »Ego-Kapitalismus«.

    Die dem Ego-Kapitalismus zugrundeliegende Ideologie geht davon aus, dass in einer Volkswirtschaft alle Akteure⁷ unabhängig voneinander agieren und jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich ist. Arbeitslosigkeit und Armut werden zum Problem der Faulheit beziehungsweise der eigenen geringen Produktivität. Übermäßiger Reichtum hingegen wird zum Ergebnis von Genialität und Unternehmergeist. Das wirtschaftlich erfolgreiche Land wird für seine Reformen gelobt, das krisengeschüttelte für Korruption und fehlende »Strukturreformen« kritisiert. Und da wir spätestens seit Adam Smith wissen, dass wir »nicht vom Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers unsere Mahlzeit [erwarten], sondern von ihrer Rücksicht auf ihr eigenes Interesse«, glauben wir auch daran, dass ein Laissez-faire für alle durch die »unsichtbare Hand« des Marktes zum gesamtgesellschaftlich besten Ergebnis führt.

    Internationale Zusammenarbeit oder wirtschaftliche Kooperation sind in einer solchen Welt völlig überflüssig, ebenso wie jegliches Gefühl der Solidarität. Allerdings werden wir in diesem Buch feststellen, dass die Welt, in der wir leben, eine ganz andere ist, als es der Ego-Kapitalismus propagiert. Das bedeutet nicht, dass es keinen Raum für individuelles Handeln oder Verantwortung gäbe. Doch dieses Handeln geschieht innerhalb eines Systems, in dem sämtliche Akteure – das heißt, Menschen, Unternehmen, Staaten – fundamental voneinander abhängig sind und durch ihre Interaktionen stetige Wechselwirkungen erzeugen, sodass die Ideen, die auf den Prämissen des Ego-Kapitalismus aufbauen, zum Scheitern verurteilt sind.

    Ein weiteres Problem des Ego-Kapitalismus ist, dass er annimmt, die Funktionsweise der Wirtschaft würde mechanischen Prinzipien folgen. Verändert man eine Variable, so könne man genau berechnen, welche Auswirkungen dies auf eine andere Variable hat, wenn alle anderen Einflussfaktoren konstant bleiben. Eine solche Operationalisierung von Wirtschaft macht aus Unternehmen profitmaximierende Maschinen, und reduziert den Menschen zu einem nutzenmaximierenden Roboter beziehungsweise Inputfaktor für die Produktion. Ein solches Verständnis unserer Welt ignoriert die soziale und natürliche Umwelt, in die ein jeder Markt zwangsläufig eingebettet ist. Wie Karl Polanyi bereits 1944 darlegte, hat ein solcher Ansatz, sobald er in der Praxis umgesetzt wird, enorm destabilisierende Auswirkungen, wie wir anhand der gesellschaftlichen Spannungen und der immer dramatischer werdenden Klimakrise erkennen.

    Allerdings muss man auch festhalten, dass der Ego-Kapitalismus für einige Wenige scheinbar sehr gut funktioniert. Der wirtschaftspolitische und ideologische Individualismus ist nämlich für diejenigen, die am längeren Hebel sitzen, eine Steilvorlage zur Ausnutzung und Festigung ihrer Macht. Er legitimiert die Anhäufung abnormer Profite und Vermögen, die wiederum die Demokratie und Wirtschaft zersetzen. Er bildet einen enorm wirkungsvollen Schutzwall gegen Kritik und eine Anfechtung des Status quo, denn jegliche Korrektur seitens der Politik wäre ein Eingriff in die individuelle Freiheit und ein ungerechtfertigtes Abschöpfen der eigenen Leistung. Gleichzeitig liefert der Ego-Kapitalismus ein bequemes Narrativ für den Staat, denn wenn »der Markt« ohnehin alles am besten erledigt, ist die Politik weder verantwortlich für die wirtschaftliche Entwicklung noch in engerem Sinn dafür zuständig. Sie kann sich zurücklehnen und »den Markt« machen lassen.

    Dass es »den Markt« nicht gibt und nie gegeben hat, da Märkte immer ein rechtliches Konstrukt sind und entsprechend institutionell ausgestaltet werden, ist vor allem jenen bewusst, die sich das Narrativ des »natürlichen Marktes« zunutze machen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Denn darin liegt die Krux des Neoliberalismus: Er ist mitnichten ein System der »Deregulierung« oder der »Zurückdrängung des Staates«, sondern vielmehr ein System der »Re-regulierung« im Interesse einiger Weniger.⁹ Der Neoliberalismus ist damit kein undefinierter beziehungsweise linker »Kampfbegriff«, sondern vielmehr ein (gesellschafts-)politisches Programm für die reichste Schicht der Gesellschaft – und er wird in der Literatur in mehr oder weniger derselben Weise konzipiert.¹⁰ Ideen spielen innerhalb dieses Programms eine ebenso wichtige Rolle wie materielle Ressourcen zur Durchsetzung von Partikularinteressen, wie wir im dritten Kapitel sehen werden.

    Der Markt wird es richten?

    Einen »natürlichen Markt«, der, befreit von staatlichem Einfluss, seinen »natürlichen Gesetzmäßigkeiten« folgt, mag somit ein Bild sein, dessen sich weite Teile der Wirtschaftswissenschaften, Medien, Denkfabriken, Stiftungen und Unternehmen in ihrer Kommunikation oft und gerne bedienten – mit der Realität hatte dies zu keinem Zeitpunkt etwas zu tun. Seit jeher sehen wir, dass Märkte das Ergebnis einer, wie Mariana Mazzucato es nennt, »Co-Produktion« (»co-creation«)¹¹ von staatlichen und privaten Akteuren sind. Märkte sind per definitionem Institutionen, und Institutionen wiederum werden politisch gestaltet. Märkte können damit in einer Art und Weise designt werden, in der sie Anreize für Investitionen, Produktivitätszuwächse, gute Löhne und gute Arbeitsbedingungen bieten. Oder, was unter neoliberaler Ägide der Fall war, in einer Weise, in der die Investitionen zurückgehen, das Produktivitätswachstum sinkt, prekäre Arbeitsverhältnisse die Norm und der Druck auf die Löhne der Alltag sind. Multiple Krisen gab es als Sahnehäubchen obendrauf.

    Es ist jedoch nicht nur eine schwache ökonomische Performance, die uns in Schwierigkeiten bringt, denn die Politik der letzten 40 Jahre hatte eine weitere, gravierende Folge für uns alle: Durch den blinden Glauben an »den natürlichen Markt«, in dem die privaten Akteure alleine für eine effiziente wirtschaftliche Entwicklung sorgen würden, verlieren Politik und Gesellschaft die Orientierung, in welche Richtung wir uns eigentlich entwickeln wollen. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung langfristig nur durch »den« Markt und durch »natürliche« Faktoren (wie zum Beispiel Demographie) bestimmt wird, dann gilt die Devise »der Markt soll es machen« erst recht auf lange Sicht. Die Vorstellung, man könnte politische Ziele formulieren und die Wirtschaft entsprechend gestalten – so, wie beispielsweise die wirtschaftliche Ordnung in der Nachkriegszeit der Leitlinie »Nie wieder Krieg« untergeordnet wurde – gilt heute bestenfalls als realitätsfern oder schlimmstenfalls als planwirtschaftlicher Weg in die Knechtschaft.

    Dies ist insbesondere in Europa der Fall, wo der marktliberale Traum nicht zerstört werden darf. Zwar hat sich in den letzten Jahren in bestimmten Bereichen so etwas wie eine »Missionsorientierung«¹² des Staates ergeben – vor allem im Kampf gegen die Klimakrise – doch werfen wir einen genaueren Blick in

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