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Schicksale in Kriegszeiten - Destins Croisés: Novellen - Nouvelles
Schicksale in Kriegszeiten - Destins Croisés: Novellen - Nouvelles
Schicksale in Kriegszeiten - Destins Croisés: Novellen - Nouvelles
eBook306 Seiten4 Stunden

Schicksale in Kriegszeiten - Destins Croisés: Novellen - Nouvelles

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Über dieses E-Book

Diese kurzen Novellen schildern schicksalhafte Begegnungen, Leben, die durch eine mörderische Politik aus der Bahn geworfen wurden, Schrecken des Krieges, die unzählige Existenzen zerstören, das Gift der Ideologien, die Menschen ins Verderben stürzen, das Böse, das uns bedroht, wenn wir nicht auf der Hut bleiben, das ist es, was diese wenigen Novellen zeigen wollen. Ihnen liegt Erlebtes zugrunde, schmerzhaft Erlebtes, von Freunden, von meinem Mann, von mir. Sie möchten unser Gewissen aufrütteln und Hoffnungsträger sein.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. März 2016
ISBN9783954571642
Schicksale in Kriegszeiten - Destins Croisés: Novellen - Nouvelles

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    Buchvorschau

    Schicksale in Kriegszeiten - Destins Croisés - Madeleine Klümper-Lefebvre

    Madeleine Klümper-Lefebvre

    Schicksale in Kriegszeiten

    Destins croisés

    Madeleine Klümper-Lefebvre

    Schicksale in Kriegszeiten – Destins croisés

    Copyright by AQUENSIS Verlag Pressbüro Baden-Baden GmbH 2016

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe jeder Art, elektronische Daten, im Internet, auszugsweiser Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsunterlagen aller Art ist verboten.

    Lektorat: Gereon Wiesehöfer

    Satz und Titelgestaltung: Tania Stuchl, design@stuchl.de

    1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

    ISBN 978-3-95457-164-2

    www.aquensis-verlag.de

    www.baden-baden-shop.de

    aquensis-verlag.e-bookshelf.de

    Inhalt

    Cover

    Impressum

    Titel

    Vorwort

    Schicksale in Kriegszeiten

    Das Trottoir

    Renée

    Deutsches Beefsteak

    Er wird wiederkommen

    Die fünfte Kolonne

    August

    Das Schloss der Jüdin

    Anna

    Lindenblüte

    Haut ab in eure Bochie

    Das Tafelsilber

    Der deutsche Zug

    Der Schatz

    Dikanka

    Helena

    Die Russin

    Das versichert er mir

    Sie hatte keinen Durst!

    Ein herzhaft schallendes Lachen

    Er wollte sie sehen

    Diane

    Der Biss

    Bügeleien

    Das Hakenkreuz

    Eine Flasche voll Glyzerin

    Die Deportation

    Das Wort

    Nachwort

    Vorwort

    Als mich Frau Madeleine Klümper-Lefebvre bat, ein Vorwort zu dieser Veröffentlichung zu schreiben, bin ich ihrem Wunsche gerne nachgekommen. Zugleich war es für mich eine Ehre, diese Zeilen der Schrift beifügen zu dürfen, deren Lektüre mich begeistert und sehr berührt hat. Die Ausführungen über den Zweiten Weltkrieg versetzen den Leser mitten in die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen, eine für beide Seiten schmerzliche Geschichte, die Geschichte der deutschen Besatzung in Frankreich, das in eine besetzte und eine sogenannte „freie" Zone geteilt wurde.

    Darüber hinaus beschäftigen sich einige sehr interessante Stellen mit der Situation in Deutschland nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches, einer geschichtlichen Epoche, die in Frankreich noch einer gründlicheren Erforschung bedarf. Es war die Zeit, als sich Frankreich in einer der vier Besatzungszonen im besetzten Deutschland einrichtete. Die älteren Leser wissen, wie sich der Friede zwischen unseren Völkern nach 1945 erst allmählich einstellte. In der Erzählung „Haut ab in eure Bochie" schildert ein französischer Freund der Erzählerin, wie das Verlangen nach Wiedergutmachung in Frankreich noch lange lebendig blieb.

    Dieses Buch wird auch für alle Freunde der französischen Literatur eine Bereicherung sein: Große französische Autoren wie Aragon, Balzac, Baudelaire, Maupassant passieren ebenso Revue wie Proust und Zola. Auch die deutsche Literatur kommt nicht zu kurz: Mit seinem Gedicht „Park Monceau ist zum Beispiel Kurt Tucholsky vertreten. Durch den von der Autorin erwähnte „Reigen des österreichischen Autors Arthur Schnitzler, der bei seinem Erscheinen in der Habsburger Monarchie für einen Skandal sorgte, fühlte ich mich in meine längst vergangenen Studienjahre versetzt.

    Im Rahmen meines Mandats als Abgeordneter betreue ich meine im Ausland lebenden Landsleute. Mir ist daran gelegen, meine in Deutschland, Österreich und noch vierzehn weiteren Ländern meines Mandats lebenden Franzosen einmal wöchentlich zu besuchen. So führe ich gewissermaßen ein Nomadendasein. Mit großer Freude habe ich Orte, die mir lieb geworden sind, wiederentdeckt, Städte wie Baden-Baden, Berlin, Münster, oder auch Wien mit seinem weltberühmten „Schloss Schönbrunn, das in der Novelle „Er wird wiederkommen erscheint.

    Nicht zuletzt enthält das Buch Geschichten wie „Ein herzhaft schallendes Lachen, die einen erschüttern: Ein kleiner Junge wirft sich einem Heimkehrer 1945 in die Arme, in der Annahme, es sei sein Vater, der Frau und Säugling vor Jahre hatte zurücklassen müssen, als er an die Front beordert wurde. Und in „Der Biss ist es die Geschichte eines kleinen Mädchens, die uns erschüttert, eines kleinen Mädchens, dessen Arm amputiert werden muss, weil seine Mutter Angst hat, deutsche Soldaten zu treffen, wenn sie die Kleine, die von einem Hund gebissen wurde, ins Krankenhaus bringen würde! Und wen lässt es kalt, wenn er liest, wie Franzosen ein Mädchen mit Steinen bewerfen, weil sein Vater der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt wird?

    Dieses Buch legt ein schönes und wahres Zeugnis ab. Die Autorin vermag namenlose Menschen vor unseren Augen lebendig darzustellen sowie ihre schweren, dramatischen Erfahrungen. Es gibt allerdings auch erheiternde Erlebnisse, wie in der betitelten Novelle „Renée", in der ein junger Deutscher auf das französische Gymnasium gehen möchte, wo er tagtäglich seinem französischen Schwarm nahe sein könnte. Zu einer deutsch-französischen Ehe allerdings hat es in diesem Falle, wie in so vielen anderen, die auf der Schulbank ihren Ursprung hatten, nicht gereicht. Meine eigene Erfahrung und meine eigene Geschichte haben mir aber gezeigt, dass Begegnungen und Liebesbeziehungen oft durch die Schule und auf der Schule zustande kommen.

    Also lassen wir die Schule und die Bücher hochleben! Ganz herzlich danke ich hiermit Madeleine Klümper-Lefebvre.

    Pierre – Yves Le Borgn‘

    Abgeordneter des 7ten Wahlkreis der Franzosen im Ausland Präsident der Deutsch-Französischen Freundschaftsgruppe in der Nationalversammlung

    auf französisch

    Schicksale in Kriegszeiten

    Diese Novellen schildern

    schicksalhafte Begegnungen,

    Leben, die durch eine mörderische

    Politik aus der Bahn geworfen wurden,

    Schrecken des Krieges, die unzählige

    Existenzen zerstören,

    das Gift der Ideologien, die Menschen

    ins Verderben stürzen, das Böse,

    das uns bedroht, wenn wir nicht auf der Hut

    bleiben, das ist es,

    was diese Novellen zeigen wollen.

    Ihnen liegt Erlebtes zugrunde,

    schmerzhaft Erlebtes,

    von Freunden,

    von meinem Mann, von mir.

    Sie möchten unser

    Gewissen aufrütteln

    und Hoffnungsträger sein.

    Madeleine Klümper-Lefebvre

    auf französisch

    Das Trottoir

    Ich sah sie auf mich zukommen. Sie hielt ein kleines Mädchen an der Hand.

    Ich schickte mich an, vom Trottoir herunterzugehen. Vor einer Woche war ich in diese Stadt gekommen, und es widerstrebte mir, mit ansehen zu müssen, wie die „Besetzten den „Besatzern das Trottoir räumten, die „Besiegten den „Siegern. Ich fand es einfach gemein von Seiten unseres Oberkommandos, fast Wort für Wort die Bekanntmachung zu wiederholen, die 1940 in den französischen Städten den Bewohnern befahl, den Offizieren der Besatzungsmacht den Vortritt zu lassen, wenn sie ihnen auf dem Gehsteig begegneten. Und jetzt, jedes Mal, wenn der Befehl hätte ausgeführt werden müssen, beeilte ich mich, auf die Straße auszuweichen, wenn es eine Frau oder eine ältere Person war, und grüßte sie mit einem Kopfnicken, einem stummen „Guten Tag" gewissermaßen.

    Übrigens gab es an Deutschen nur noch Frauen, Kinder und Alte. Männer gab es kaum noch, und Kinder sah man so gut wie nie allein in der Öffentlichkeit.

    Als sie sah, dass ich vom Trottoir heruntergehen wollte, lächelte sie und akzeptierte meine Geste, das Kind aber schien verblüfft zu sein.

    Ich traf sie am nächsten Tag wieder, als ich aus dem Schwimmbad kam, wo ich zwei geschlagene Stunden in der Sonne gelegen hatte, etwas abseits von einigen meiner Landsleute, die mir zu laut waren. Ich hatte mein Deutschbuch aus der Abschlussklasse des Gymnasiums dabei gehabt, um meine Deutschkenntnisse aufzufrischen. Jetzt, da ich auf der anderen Rheinseite stationiert war, wollte ich mich mit der Sprache, der Literatur und Zivilisation dieses Landes wieder beschäftigen. Es machte mir Spaß, den Lehrstoff zu wiederholen, um den ich mich nach bestandenem Abitur überhaupt nicht mehr gekümmert hatte. Mein Aufenthalt in London als Angehöriger der Armee „Freies Frankreich" hatte mich gezwungen, mich auf meine zweite Fremdsprache, das Englische, zu konzentrieren.

    Es war fünf Uhr abends, die Luft hatte sich abgekühlt und die Franzosen wurden gebeten, den Einheimischen jetzt Platz zu machen. Die Stunde der Verbrüderung hatte noch nicht geschlagen: Die Leiden des überfallenen Frankreich, die Erinnerung an die dunklen Jahre der Besatzungszeit, die vielfältigen Entbehrungen, die verbrecherischen Repressalien, die Massendeportationen und das, was wir inzwischen über die Vernichtungslager erfahren hatten, hatten in uns, ob wir es wollten oder nicht, den Ruf nach Vergeltung heraufbeschworen. Es war undenkbar, dass wir uns mit einem Volk verbrüderten, das, wenn auch nicht immer aktiv an den Verbrechen beteiligt gewesen war, es vorgezogen hatte, passiv zu bleiben.

    In der Französischen Besatzungszone mussten Deutsche wie Franzosen also gezwungenermaßen bei zahlreichen Gelegenheiten auf Distanz zueinander gehen, obwohl sie gezwungen waren, auf demselben Boden, in derselben Stadt beieinander zu wohnen. Die Tennisplätze beispielsweise standen den deutschen Klubmitgliedern nur wenige Stunden zur Verfügung, und wir Franzosen trugen unsere Spiele in der übrigen Zeit aus. Es war noch nicht soweit, dass Franzosen und Deutsche die Idee, eine Deutsch-Französische Gesellschaft zu gründen, in die Tat hätten umsetzen können. Für die einzelnen Mannschaften mussten je nach Nationalität noch unterschiedliche Spielzeiten festgelegt werden. Der Tennisplatz war damals noch nicht bilingual.

    An jenem Abend hielt sie das kleine Mädchen an der Hand, erkannte mich und grüßte mich mit einem heiteren „Bonjour, Monsieur". Ich versuchte nicht, mir zu erklären, warum ich enttäuscht war, dass ich nicht mit ihr hatte sprechen können. Der Ansturm der Badegäste, die alle noch von der Sonne profitieren wollten, der Sonne, die bald hinter den Bäumen des nahen Waldes verschwinden würde, hatte sie außer Rufweite mit fortgeschwemmt. Ja, warum hatte ich plötzlich so etwas wie einen Stich empfunden? Sollte ich, ohne mir darüber im Klaren zu sein, irgendeine Hoffnung gespürt haben? Einfach undenkbar! Ich hielt das Verbot der Verbrüderung für gerechtfertigt: Die Wunden, die dieser verfluchte Krieg geschlagen hatte, schmerzten noch zu sehr.

    Ich blieb einen Augenblick unschlüssig stehen und beschloss dann, im Wald noch spazieren zu gehen. Ich dachte an diese letzte Begegnung: Hatte sie nicht ein Buch in der Hand, auf dessen Einband ich „Aragon" gelesen hatte? Aragon, der Dichter, der die Liebe zu Frankreich so schön besungen hat? – Und das während der Besatzung durch die Nazis! – Und dessen Verse unseren Widerstandswillen gestärkt hatten. Meine Gedanken überschlugen sich. Würde ich sie wiedersehen? Werde ich dann Gelegenheit haben, mit ihr zu sprechen? Und wenn ich sie wiedersehen würde, würde ich dann die Gelegenheit ausnutzen?

    Die Gelegenheit ergab sich einige Tage später. Ich war, den Schläger unter dem Arm, auf dem Weg zum Tennisplatz und wollte meinen freien Tag genießen. Ich fühlte mich ohne Grund schwermütig und wusste nicht, was ich sonst anderes hätte machen können. Der Himmel war grau, Grund genug, schwermütig zu werden. Die Menschen, denen man auf der Straße begegnete, schienen nichts anderes im Sinn zu haben als die vielen alltäglichen Sorgen, die die Einwohner dieser Stadt und des ganzen Landes plagten. Wohl wusste ich (meine Mutter hatte es mir geschrieben als Antwort auf eine Beschreibung, die ich ihr von den Lebensbedingungen, eher Überlebensbedingungen, der Einwohner der Stadt, wo ich stationiert war, geschickt hatte), dass es in Frankreich, im Land der Sieger auch weiterhin am Notwendigen fehlte, dass praktisch alle unentbehrlichen Lebensmittel immer noch rationiert, der Schwarzmarkt immer mehr die Regel war!

    Aber hier waren wir, die Besatzer, wie im Paradies! Wir wohnten in schönen, beschlagnahmten Wohnungen, deren Besitzer „gebeten" worden waren, sie zu räumen. Unsere Lebensmittelrationen waren in Ordnung. Meine Kameraden ließen sogar oft ihre Familien, die manchmal recht groß waren, und die die Last unserer Anwesenheit für die Bevölkerung nur noch schwerer machten, aus Frankreich nachkommen. Das war eben der Preis, den Deutschland für einen verbrecherischen Krieg bezahlen musste. Warum also fühlte ich mich manchmal nicht recht wohl in meiner Haut?

    Diesmal war sie allein. Würde ich den Mut haben, sie anzusprechen? Sie war vor der Hecke, die den Tennisplatz einzäunte, stehen geblieben. Sie schaute den Spielern zu. Ich hörte Rufe in meiner Sprache, Aufschläge, lachen. Als sie mich bemerkt hatte, ging ich auf sie zu und begrüßte sie mit einem ziemlich langen deutschen Satz, den ich in meinem Lehrbuch gefunden hatte. Sie lächelte sofort und beglückwünschte mich auf Französisch zu meiner Aussprache. Und so schlossen wir schließlich Bekanntschaft, indem jeder versuchte, sich in der Sprache seines Gegenübers auszudrücken. Sie war aus Leipzig, wohnte aber seit Ende 1944 bei ihrer Schwester in Baden. Sie hatte die meiste Zeit des Krieges in Frankreich bei der Feldpost Dienst getan. Sie liebte das Land, seine Kultur, seine Sprache.

    Sie eröffnete mir einige Tage darauf, dass sie ein jüdisches und kommunistisches Mitglied der Résistance kennen und lieben gelernt hatte. Er sei während einer Razzia so gut wie vor ihren Augen erschossen worden. Sie kommentierte ihren Bericht nicht, sie begnügte sich damit, so neutral wie möglich zu erzählen.

    Ich fand sie schön, von einer wohl tragischen Schönheit, die ich als wohltuend bezeichnen möchte, der triumphierenden Schönheit einer Menschheit, die auf die Hoffnung nicht verzichten will. Ich stellte mir ihre inneren Kämpfe, ihre Zweifel, ihre Schmerzen und ihr nicht enden wollendes Leid vor. Dennoch wollte sie sich nicht dagegen auflehnen. Ihr Blick, der wie verloren in der noch so nahen Vergangenheit war, und besonders auch ihre innere Ruhe, wirkten beruhigend auf mich.

    Später erzählte sie mir von ihrer Schwester, die „krank in ihrer Seele" und in psychiatrischer Behandlung sei. Sie habe längere Zeit während des Krieges auf einem Bauernhof in der Umgebung, auf dem ein französischer Kriegsgefangener arbeitete, mitgeholfen. Während der heißen Erntetage verliebte man sich; eine Romanze, deren Frucht ich ja kenne, dieses kleine Mädchen, mit dem ich sie schon angetroffen hatte.

    Der französische Kriegsgefangene habe eines Tages zu fliehen versucht; er sei aber nicht weit gekommen und wurde auf der Stelle erschossen. Er hatte versprochen, sie und das Kind nach dem Krieg und dem Ende der Terrorherrschaft zu holen.

    Die junge Mutter hatte niemals verraten, wer der Vater ihres Kindes war. Sie hatte sich vorgenommen, die Kleine in der Liebe und nicht dem Hass des Landes zu erziehen, aus dem der Mann, den sie geliebt hatte, stammte. Das Gleiche versuchte jetzt auch ihre Schwester, die das Kind in Pflege genommen hatte, zu tun.

    Ich nahm mir vor, sie nach besten Kräften dabei zu unterstützen, aber hatte nur wenige Male die Gelegenheit dazu: Meine Freundin – denn so nannte ich sie, wenn ich an sie dachte – beschloss bald darauf, nach Leipzig zu fahren, um ihre Eltern, von denen sie lange nichts mehr gehört hatte, ausfindig zu machen. Ich habe sie nie mehr wiedergesehen.

    auf französisch

    Renée

    Sein Entschluss war gefasst: Er würde seine Mutter bitten, morgen früh zum Französischen Gymnasium zu gehen, um ihn dort anzumelden.

    Herr Strauß – „Ich bitte, meinen Namen auf Französisch auszusprechen!" –, der junge französische Assistent seines Französischlehrers, der an seinem Gymnasium tätig war, hatte ihn sofort für diese Idee begeistert: Die deutschen Schüler, die es wünschten und die sich in der Lage fühlten, dem Unterricht in allen Fächern auf Französisch zu folgen, hatten ab jetzt die Möglichkeit, die von der Militärregierung der französischen Besatzungszone für die Kinder der Militärs eingerichtete Schule zu besuchen. Sein Herz machte Freudensprünge. Er würde sie nun während der Pausen, sogar zwischen den Unterrichtsstunden sehen können! Natürlich könnten sie nicht in derselben Klasse sein, sie war ein Jahr älter als er. Sie aber auf derselben Schule zu wissen, während der Unterrichtszeit nur durch wenige Meter getrennt, dieselben Erinnerungen, vielleicht dieselben Lehrer haben, dieser Gedanke bedeutete für ihn ein unaussprechliches Glück.

    Er lebte mit seiner Mutter in der geräumigen Wohnung seiner Großmutter. Wenige Monate vorher waren sie eingezogen und hatten in dieser Kleinstadt im Südwesten, die zum Hauptquartier der französischen Streitkräfte geworden war, Flüchtlingsstatus. Worms, wo sie vorher gewohnt hatten, war oft das Ziel alliierter Bombenangriffe gewesen. Die „Fliegenden Festungen" kamen regelmäßig und die Zerstörungen und die Zahl der Opfer waren enorm. Aber jeder wusste, dass diese Kleinstadt im alten Herzogtum Baden immer noch verschont geblieben war. Also hatte man sich dorthin geflüchtet.

    Nach den ersten, total chaotischen Wochen, die auf den Einmarsch der französischen Truppen folgten, und nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes, stellte sich eine gewisse Ordnung ein. Die ersten Kontingente, die zu einem großen Teil aus Marokkanern bestanden, wurden abgezogen. Ihnen folgten disziplinierte Truppen.

    Notwendigerweise wohnten damals die französischen Besatzer mit den Einheimischen unter einem Dach, was so viel hieß, dass Letztere zusammenrücken mussten, um einem französischen Militär und dessen Familie Platz zu machen. Die nahen und sogar fernen Verwandten der Militärs rückten in großer Zahl an, um den noch prekären Lebensbedingungen im Mutterland nach den dunklen Jahren des Krieges und der deutschen Besatzung zu entgehen. Manche deutschen Familien lebten eingezwängt in einem Abstellraum, auf einem Speicher oder sogar in einem Keller.

    Seine Mutter und seine Großmutter hatten das Glück, in ihrer Wohnung bleiben zu dürfen. Sie mussten aber von ihren vier Zimmern zwei abgeben, die die Frau eines Gendarmen mit ihrer Tochter Renée bezog. Renée! Er war 16 Jahre alt, sie 17. Sie war wunderschön, blond, hatte hellblaue, etwas schelmische Augen. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick. Er war ihr auch nicht gleichgültig. Er war ein schöner, sportlicher Junge, der sie um Haupteslänge überragte. Er las viele französische Romane und wusste deshalb, Komplimente auf Französisch zu formulieren. Man unterhielt sich über Literatur, man tauschte Bücher aus. Ihre Zimmer lagen nebeneinander. Da beide sich auf die Schule konzentrieren mussten, hatte man ihnen je ein Zimmer zugestanden.

    Eines Tages sorgte sie für eine Überraschung. Sie war gerade von Fréjus, wo sie die Ferien verbracht hatte, zurückgekehrt und spazierte stolz im Bikini in der Wohnung herum. Das war etwas ganz Neues diesseits des Rheins, wo noch niemand so etwas gesehen hatte. Seine Mutter und er kamen aus ihren Zimmern, als sie sie auf dem Flur singen hörten, und seine Mutter, die nicht wagte, offen ihre Missbilligung zu zeigen, sagte ihr nur, sie solle sich wieder anziehen, es wäre ja noch nicht Sommer, es sei noch frisch in der Wohnung und man müsste bis zum Abend warten, um den Ofen anzumachen. Aber sie amüsierte sich köstlich: In Frankreich ist es jetzt große Mode! Und hier sind wir so gut wie in Frankreich!

    Gott, war sie schön! Am Abend erzählte sie ihm von ihren Ferien, und er wunderte sich nicht, dass sie am Strand die Bekanntschaft von Fürst Rainier von Monaco gemacht habe, dass er sie angesprochen und dass er sich mehrmals in seinem Cabrio vor dem Haus der Großmutter gezeigt habe. Fürst Rainier von Monaco! Das muss man sich einmal vorstellen! Natürlich konnte er sich nicht mit einem Fürsten messen, der dazu noch sehr gut aussah und so reich war! Aber er konnte sie wenigsten jeden Tag sehen und mit ihr sprechen. Schließlich hatte er weder Grund, Komplexe zu haben, noch traurig zu sein … Er schwamm weiter im Glück, bis das Urteil fiel: Sie war tuberkulosekrank und wurde ins Sanatorium von Muggenbrunn im Schwarzwald gebracht. Sie schrieb ihm mehrerer Male und schickte ihm ihr Bild. Dann hörte er nichts mehr von ihr.

    Sie hatte die Bekanntschaft eines Engländers gemacht, der auch tuberkulosekrank war. Beide wurden geheilt. Sie heirateten und lebten später in England.

    Nach dem Abitur bekam er ein Stipendium und ging zum Studium nach Paris. Er wurde nie mehr ganz deutsch. Er hat niemals geheiratet.

    Fürst Rainier von Monaco übernahm 1949 die alleinigen Regierungsgeschäfte.

    auf französisch

    Deutsches Beefsteak

    In der letzten Stunde vor den Sommerferien hatte uns die Deutschlehrerin lange über Deutschland erzählt. Sie erinnerte sich gern an ihre Aufenthalte auf der anderen Seite des Rheins, während ihres Germanistikstudiums. Das war noch vor dem Krieg. Ich fand die Art, wie sie uns die Städte und Dörfer, die Baudenkmäler beschrieb, sehr interessant. Sie sprach in einer sehr persönlichen Art von den Bewohnern des für uns noch unbekannten Landes, von ihren Sitten und Gebräuchen. Diese Stunde war so ganz anders als der übliche Unterricht, in dem es hauptsächlich um Literatur ging! Sie erzählte sehr humorvoll von ihren Erlebnissen, ihren Enttäuschungen sowie den Momenten wahrer Beglückung, und von dem, was sie damals dachte und welche Schlussfolgerungen sie daraus zog. Sie erinnerte sich gerne an die hübschen, in bunten Farben bemalten Häuser: an die blau, gelb und sogar rot angestrichenen, die sich ja auch stolz „das rote Haus" nannten!

    Sie war schon lange ohne Nachricht von ihrer damaligen Brieffreundin gewesen … Was war wohl aus ihr geworden? Seit dem Beginn der 30er-Jahre, seit der Zeit also, als sie dort gewesen war, war so viel Schreckliches in Deutschland geschehen! War sie womöglich als Gegnerin des Regimes in einem dieser zahlreichen Konzentrationslager interniert gewesen, oder war sie womöglich aktiv an dieser mörderischen Politik beteiligt gewesen und nun zu den Kriegsverbrechern zu rechnen? War sie im Bombenhagel umgekommen, hatte sie jetzt eine neue Adresse, lebte sie überhaupt noch? Unsere Lehrerin wollte endlich Bescheid wissen und hatte vor, sich an das Rote Kreuz zu wenden und dann womöglich wieder mit ihr in Verbindung zu kommen, um mit ihr wieder an die alte Beziehung an zuknüpfen, die damals so fruchtbar gewesen war. Vielleicht würde man sich auch wieder treffen können, um gemeinsam die düsteren Kriegsjahre zu vergessen.

    Als einzige aus meiner Klasse würde ich in wenigen Tagen nach Deutschland fahren. Meine Brieffreundin hatte mich eingeladen. Ich würde drei Wochen in Württemberg verbringen; das war ausgerechnet die Gegend, wo unsere Lehrerin öfters gewesen war. Das veranlasste sie, mir einige Bücher über diese Region unseres Nachbarlandes zu leihen. So konnte ich mich vor meiner Abreise über vieles informieren und bildete mir ein, nicht mehr groß neue Entdeckungen machen zu können. Was sich als falsch herausstellte, wie man sich denken kann.

    Wir schrieben das Jahr 1949. Die Mutter meiner Brieffreundin, eine freundliche Frau, die sich dann rührend um die „kleine Französin" kümmern sollte, betrieb allein mit ihrer Schwester eine Buchhandlung in der Innenstadt. Sie hatte im Krieg ihren Mann verloren, und die beiden Damen hatten alle Mühe, über die Runden zu kommen. Bücher verkauften sich seit der Währungsreform im Jahr davor sehr schlecht. Natürlich konnte man jetzt alles kaufen, in den Geschäften war wieder alles zu haben, aber nach den schrecklichen Mangeljahren war vieles wichtiger als Bücher. Was die beiden Damen gerade noch absetzen konnten, waren Modezeitschriften mit Schnittmustern. Denn die deutschen Frauen mussten zuerst einmal ihre Garderobe erneuern. Aber das brachte nur sehr wenig ein!

    Selbst die Mutter meiner Brieffreundin hatte sich daran gemacht, zwei Kleider für Annemarie zu nähen. Annemarie sollte mich nach

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