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Blutmond: HALLER-Horrorgeschichten 1
Blutmond: HALLER-Horrorgeschichten 1
Blutmond: HALLER-Horrorgeschichten 1
eBook282 Seiten3 Stunden

Blutmond: HALLER-Horrorgeschichten 1

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Über dieses E-Book

Die Freude an Horrorgeschichten speist sich meist aus dem Auftauchen übernatürlicher Gestalten, von Geistern, wiedergeborenen Toten und Monstern. Das wahre Grauen aber liegt oft ganz nah an der sichtbaren Oberfläche der Welt.
Aus einer großen Fülle an Texten ausgewählt, präsentiert Corinna Griesbach ein Best-of für die Fans der Düsternis und des Grauens. Es sind die Furcht und die Finsternis, die den Leser erfüllen. Das Fleisch, die Asche, die blutige Gier, zum Leben erweckt.

"Blutmond" ist der erste Band dieser Sammlung; Band 2 erscheint unter dem Titel "Schatten des Grauens".
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum12. Okt. 2016
ISBN9783957659712
Blutmond: HALLER-Horrorgeschichten 1

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    Buchvorschau

    Blutmond - p.machinery

    6

    Susanne Goldmann: Das Erbe

    Am Morgen des Tages, an dem er sterben sollte, erwachte Dr. Nathanael van Stey früh und schweißgebadet. Er hatte einen Traum gehabt, von dem er eigentlich gehofft hatte, ihn nie wieder durchleben zu müssen. Mit einem Keuchen schreckte er aus dem Schlaf und saß kerzengerade im Bett. Er hatte seine Decke an den Rand der Matratze gewühlt und jetzt kroch die Kälte der frühen Morgenstunden über seine feuchten Glieder. Ohne einen Blick auf seine noch schlafende Frau zu werfen, stieg er aus dem Bett, durchquerte das Zimmer, während er sich einen Morgenmantel überwarf und ging in sein Arbeitszimmer hinüber, wo er sich an den Schreibtisch setzte, um im Licht eines Kerzenstummels die letzten Notizen zu seinem neuesten Buch fertigzustellen. Nach einer halben Stunde gab er es auf. Die Bilder seines Traumes schauten so lebendig und anklagend von den leblosen, halb beschriebenen Seiten zu ihm auf, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Seufzend warf er den Füllfederhalter auf den Tisch, stand auf, ging zum Fenster und betrachtete den schmalen Streifen grauen Lichts am Horizont, der den aufsteigenden Tag ankündigte. Er dachte an seinen Traum zurück, an eine Nacht, in der er genauso an einem Fenster gestanden hatte, nach draußen auf den Garten des elterlichen Hauses geschaut hatte, während über ihm die Sterne funkelten. Hinter sich hörte er das gleichmäßige Atmen seines Zwillingsbruders. Weit unter sich konnte er gerade noch die dunklen Umrisse des Springbrunnens erkennen, der fein säuberlich geschnittenen Hecken und den weiten Rasen mit seinen vielen Obstbäumen, als plötzlich die verschlafene Stimme seines Bruders hinter ihm ertönte, ihn fragte, was er da mache. Als er sich umwandte, schaute Gideon ihn aus großen, müden Augen an. Er lächelte. »Nichts. Schlaf weiter.«

    »Ich kann nicht«, flüsterte er. Nathanael betrachtete ihn einen Moment, bevor er sich wieder dem dunklen Fenster zuwandte. Er hörte, wie Gideon hinter ihm aus dem Bett stieg, spürte, wie er sich neben ihn stellte, sah ihn nicht an. »Valentin«, flüsterte Gideon. Nathanaels Nackenhaare stellten sich auf, aber er sah weiter hinaus in den dunklen Garten. Dort war eine Gestalt erschienen, die wankend auf das Haus zuging. »Er trinkt nie.« Gideons Stimme war noch immer nicht mehr als ein Flüstern, doch jetzt klang ein Unterton darin mit; halb spöttisch, halb ungläubig. Die Gestalt unter ihnen war stehen geblieben, kehrte dem Haus halb den Rücken und ging einige Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Dann machte sie abermals kehrt und taumelte wieder zurück, schien sich über den Rand des Springbrunnens zu beugen, zu würgen und rutschte schließlich am Beckenrand hinab, wo sie still liegenblieb. »Komm mit«, raunte Gideon in Nathanaels Ohr und gemeinsam rannten sie lautlos die Treppen hinab und hinaus auf den vom Frühjahr mit Reif überzogenen Rasen. Valentin lag reglos neben dem Springbrunnen, der sich dem Gebein eines riesigen Ungeheuers gleich hellweiß von den dunklen Büschen ringsum abhob und im milchigen Mondlicht zu leuchten schien. Sie packten ihn, versuchten, ihn mit Ohrfeigen zu wecken, und als er schließlich die Augen öffnete, schien er sie nicht zu erkennen. Der ältere Bruder wehrte sich und versuchte selbst wieder auf die Beine zu kommen. Die Jüngeren spritzten ihm kühles Wasser ins Gesicht, bis sein Blick klarer wurde.

    »Sie will mich nicht«, jammerte er mit rauer Stimme. »Sie sagt, sie kann nicht.« Gideon brach in heiseres Gelächter aus. Ob er sich etwa wegen eines Mädchens betrunken habe? Um Himmels willen! Er packte Valentin grob an der Schulter und tauchte ihn unter Wasser. Zuckend und prustend wehrte er sich, um sich schlagend gelang es ihm schließlich, sich loszumachen. Er holte aus, verfehlte Gideon, kam ins Schwanken. »Du hast ja keine Ahnung! Ihr würdet nichts verstehen.« Sein Blick fiel auf Nathanael und im schwachen Licht des Mondes sah es so aus, als würde er die Stirn runzeln. Halb öffnete er den Mund, wie um noch etwas hinzuzufügen, dann wurde sein Blick scharf, dann wieder glasig und er murmelte, als hätte er vergessen, dass sie immer noch da waren: »Marlies … Oh, Marlies … Unsere Familie ist verflucht …« Nathanael van Stey tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. Er will seinen Bruder jetzt hineinbringen. Will wieder hinauf, in die warme Einsamkeit und Abgeschiedenheit seiner Kammer. Das Gespräch nimmt einen Verlauf, vor dem er sich fürchtet. Er greift unter des Bruders Schulter, versucht ihn mit Gideons Hilfe hochzustemmen, aber der Ältere wehrt sich, ist entschlossen, die Nacht in Einsamkeit und Kälte hier draußen nur in Gesellschaft seiner düsteren Gedanken zu verbringen, der Boden zu seinen Füßen ist glitschig vom verspritzten Wasser, die beiden Jüngeren können seinen wilden Schlägen nicht standhalten, ein Schwinger trifft Nathanael am Ohr und er taumelt, lässt Valentin los, der zurückstolpert. Gideon kann es nicht verhindern, als der Ältere am Rand des Springbrunnens ausgleitet, das Gleichgewicht verliert und mit einem grauenerregenden Krachen im Becken aufschlägt. Eisiges Wasser spritzt zu beiden Seiten auf, durchnässt die zwei Brüder, die entsetzt auf den Brunnen zustürzen, dessen Wasser sich schnell und immer schneller rot färbt und hinter dem Valentins glasiger, erstaunter Blick vor ihnen verschwindet, als hätte ein Vorhang sich darüber gesenkt.

    Der Rest der Nacht verschwamm in Dr. Nathanael van Steys Erinnerungen. Undeutlich erinnerte er sich an den Schock, an das stumme Einverständnis, das er mit seinem Bruder traf, ihr Rennen. Das Haus, das noch immer so still dalag wie zuvor, als sei überhaupt nichts geschehen. Die nassen, kalten Kleider, die sie sich am Hauseingang von den klammen, zitternden Gliedern gerissen hatten. Gideons Herzschlag kurz darauf an seiner Wange, seinen flachen, erregten Atem, der in Stößen ging und die Tränen, die auf Gideons Brust fielen, während er ihn zu beruhigen suchte.

    Dr. Nathanael van Stey vergrub das Gesicht in den Händen, auf die jetzt die ersten Strahlen der Morgenröte fielen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass endlich die Sonne aufgehen und ihn mit ihrem Tagewerk von seinen düsteren Vorstellungen ablenken möge, die ihn so viele Jahre immer wieder im Verborgenen heimgesucht hatten …

    Eine glühende Sonne erhellte das Wohnzimmer der van Steys, die sich um den langen eckigen Esstisch versammelt hatten. Der Vater schwieg und nur die strenge Stimme der Mutter war zu hören, die das ältere Mädchen ermahnte, still zu sitzen. Es war Sonntagmorgen. »Christoph wollte nach der Messe vorbeikommen«, sagte sie schließlich an ihren Mann gerichtet, der langsam einen tiefen Schluck von seinem schwarzen Tee nahm, bevor er nickte. »In Ordnung«, murmelte er. »Ich werde hier bleiben, um weiterzuarbeiten, der Verleger drängt schon.« Seine Frau warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Kannst du nicht wenigstens ein Mal … es ist schließlich Sonntag …« Sie straffte die Schultern und zupfte die Serviette zurecht, die sie über ihren langen seidenen Rock gebreitet hatte. Aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihrem Mann zu streiten. »Wieso kommst du nicht mit in die Messe, Vater?«, fragte Elsa van Stey. Sie reckte neugierig das Kinn, eine Geste, die sie zweifellos von ihrer Mutter geerbt hatte, genauso wie die vollen blonden Locken, die ihr in kleinen Kringeln auf die Schultern fielen. »Das hat er eben gesagt, Elsa!«, herrschte die Mutter sie an. »Ich möchte auch lieber hier bleiben!«, murrte die Kleine. »Habe ich nicht eben gesagt, dass am Tisch nicht gesprochen wird?« Van Stey sah auf. »Henni, bitte …« Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. Er wusste genau, dass sie es hasste, so genannt zu werden. Für ihn, wie für alle anderen, war sie Helene. Und sie war so ungnädig und leicht reizbar, wie ihre Namensvetterin liebevoll gewesen war. Dr. Nathanael van Stey seufzte und überlegte zum hundertsten Mal, ob er sich seine Frau nur nach ihrem Namen ausgesucht hatte. Ein Kind in einem der hinteren Zimmer begann laut zu weinen und sofort strafften sich Helenes Schultern erneut. Eine Magd wurde gerufen – ihrer Migräne täte dieses ewige Geschrei ganz und gar nicht gut – und verschwand wieder, um sich um das jüngere Mädchen zu kümmern. Nach dem Frühstück machten Helene und Elsa sich in ihrem Sonntagsstaat auf den Weg zur Kirche. Dr. Nathanael van Stey blieb allein mit der kleinen Henriette zurück, mit der sich die Magd in ihr Kinderzimmer zurückzog, um den Hausherren nicht bei der Arbeit zu stören. Kaum, dass er sich jedoch an seinen Schreibtisch gesetzt und mit seiner Arbeit begonnen hatte, erschien ein Besucher und kurz darauf betrat der Notar Adolph Meßmer des Doktors Arbeitszimmer.

    »Nun, mein Herr«, begann Meßmer, »es tut mir außerordentlich leid, Sie an einem so friedlichen Sonntag stören zu müssen und noch dazu mit einer so traurigen Nachricht.« Er zog eine Mappe aus seiner schwarzen Ledertasche und öffnete sie. Darin lagen nur zwei kaum beschriebene Blätter vergilbten Papiers und ein Umschlag, dessen Siegel noch nicht erbrochen war. Dann sah er Dr. Nathanael van Stey mit einem ernsten Ausdruck in seinen braunen Hundeaugen an und fuhr fort. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Bruder, Gideon van Stey, letzten Freitag um Viertel nach neun Uhr abends verstorben ist. Tuberkulose.« Er schwieg einen Augenblick, beobachtete jede Regung im Gesicht seines Gegenübers und fuhr dann, als dieser keinerlei Anstalten machte, etwas zu erwidern, mit einem geschäftsmäßigeren Ton in der Stimme fort. »Nun, Ihr Bruder war außer Ihnen selbst das letzte lebende Mitglied Ihrer Familie, mit Ausnahme der Schwester Ihres Vaters und ihren Kindern, und im Testament Ihres Vaters heißt es ausdrücklich, dass sein Haus und das dazugehörige Eigentum im Besitze der Familie van Stey bleiben sollen. Da Ihr Zwillingsbruder nun, wie gesagt, tot ist, geht der gesamte Besitz an Sie über.«

    »Hat mein Bruder ein Testament hinterlassen?«, fragte Dr. Nathanael van Stey und spürte plötzlich, wie trocken seine Kehle war. Meßmer warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Dann sah er hinab auf seinen Aktenordner und nahm die beiden gelblichen Seiten heraus. »Nun, das ist alles, was wir von ihm erhalten haben.« Er reichte sie van Stey und der erkannte die schräge, krakelige Handschrift seines Bruders, obwohl sie in den vielen Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, noch unleserlicher geworden war. »Er fasst im Grunde nur das Testament Ihres Vaters zusammen«, erklärte der Notar. »Da Ihr Bruder praktisch keinen eigenen Besitz hatte, konnte er Ihnen auch nichts vermachen. Das Einzige –« »Was ist mit seiner Violine?«, unterbrach ihn van Stey. Der Notar runzelte die Stirn. »Verzeihung?«

    »Die Violine meines Bruders«, wiederholte der andere. »Wo ist sie? Er hatte nie viel, aber er hätte niemals seine Violine weggegeben. Was ist mit ihr passiert?« Meßmer wühlte in seinen Akten. »Es tut mir sehr leid, mein Herr, aber von einer Violine steht hier nichts. Er muss sie wohl verkauft oder verloren haben. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.« Dr. Nathanael van Stey schwieg einen Moment und starrte mit merkwürdig brennenden Augen hinab auf die Seiten von Gideons Testament, die er immer noch in den Händen hielt. Dann nickte er. »Verzeihen Sie bitte. Fahren Sie fort.« Meßmer räusperte sich und nahm den geschäftsmäßigen Ton von vorher wieder auf. »Nun, das Einzige, was Ihr Bruder Ihnen zusätzlich zu dem Haus und Erbe Ihres Vaters hinterlassen hat, ist dieser Brief.« Er reichte Dr. Nathanael van Stey den Umschlag aus grobem Papier. »Ich vermute, dass Ihr Bruder vielleicht in dem Brief noch weitere Informationen zu Ihrem Erbe gibt, die er aber allein mit Ihnen teilen wollte«, fügte Meßmer hinzu. Dr. Nathanael van Stey wog den Umschlag in der Hand – er war sehr leicht – und betrachtete die krakelige Handschrift, in der sein Name darauf geschrieben war.

    »Wo ist mein Bruder gestorben?«, fragte er, ohne den Brief zu öffnen. Der Notar zog leicht die Augenbrauen hoch. »Wussten Sie das nicht? Er starb in Ihrem Heimatdorf, Lärchenheim, wo er seit vierzehn Jahren lebte. Keine ganze Tagesreise südwestlich von hier, würde ich meinen.« Dr. Nathanael van Stey schluckte und zwang sich zu einem Lächeln. Dann wandte er sich wieder dem Umschlag in seiner Hand zu. Er nahm einen silbernen Brieföffner von seinem Schreibtisch und durchtrennte mit einem sauberen Schnitt die obere Kante des Umschlags. Darin lag nur ein einzelnes Blatt aus demselben Papier, wie das Testament. Van Stey zog es heraus und entfaltete es. Darauf standen nur zwei Worte, aber sie ließen sofort jegliche Farbe aus Dr. Nathanael van Steys Gesicht weichen. Meßmer sah ihn mit einer Mischung aus Neugier und Bestürzung an. »Dr. van Stey? Geht es Ihnen gut? Was …« Van Stey nickte und steckte den Brief hastig in den Umschlag zurück. Er stand auf. »Ich denke, es ist Zeit für Sie, zu gehen«, sagte er und in seiner Stimme klang eine Ungeduld mit, die zu zeigen er nicht beabsichtigt hatte. Meßmer erhob sich ebenfalls und stopfte rasch seine Unterlagen in seine Tasche. Er wirkte verdattert. »Nun. Sicher. Aber werden Sie das Erbe annehmen?«

    »Ja. Das werde ich«, erwiderte van Stey und schob den Notaren zur Tür hinaus. »Ich danke Ihnen für Ihre Zeit, aber ich muss Sie dringend bitten, zu gehen. Dieser Verlust hat mich anscheinend heftiger getroffen, als ich dachte. Auf Wiedersehen.« Damit schlug er die Tür hinter dem verdutzt blickenden Mann zu. Einen Augenblick blieb er ganz still an der Tür stehen. Horchte nur auf das Klopfen seines eigenen Herzens und auf das leise Singen der Magd in Henriettes Zimmer. Dann, ganz langsam, machte er sich auf den Weg zurück in sein Arbeitszimmer. Dort, auf seinem Schreibtisch lag der Brief von Gideon. Vorsichtig, so als fürchtete er, der Umschlag würde ihm die Finger abreißen, streckte er die Hand danach aus, zog noch einmal das vergilbte Blatt heraus und las die Worte, die dort standen. Unverkennbar in Gideons Handschrift. Unauslöschlich, als wären sie aus Flammen gemacht, brannten sie sich in sein Gedächtnis. Wieder und wieder las er sie, als hoffte er, sie würden dadurch vielleicht verschwinden, als hoffte er, er würde gleich, wie schon am Morgen, aus einem bösen Traum erwachen. Doch solche Wünsche gehen selten in Erfüllung und so glitten Dr. Nathanael van Steys Augen wieder und wieder wie im Wahnsinn über die letzten beiden Worte, die Gideon ihm zu sagen hatte: Deine Schuld.

    Als Helene und Elsa in Begleitung von Helenes Bruder Christoph Hettner aus der Messe kamen, hatte Dr. Nathanael van Stey bereits seine Sachen gepackt und war dabei, sich den langen Mantel überzuziehen. Was denn hier plötzlich los sei, fragte ihn seine Frau erstaunt. Und Hettner, des Doktors bester Freund aus Studienzeiten, klopfte ihm stirnrunzelnd auf die Schulter, während er seiner Schwester mit hochgezogenen Brauen abschätzende Blicke zuwarf. »Ich habe dringende Geschäfte zu erledigen«, erwiderte van Stey und griff nach seinem Hut. »Nun, die laufen dir ja nicht davon, oder? Warte«, griff Hettner ein, »doch wenigstens bis nach dem Essen. Du kannst uns alles erklären und die Kinder können sich in Ruhe von dir verabschieden. Vielleicht kann ich dich sogar begleiten.« Helene und ihr Bruder sahen Dr. Nathanael van Stey abwartend an. Doch der schüttelte den Kopf. »Es tut mir sehr leid, mein Lieber, und ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich würde mich freuen, wenn du hier ab und an nach dem Rechten siehst, solange ich fort bin.« Er drückte seine Frau mit einem Arm an sich. »Auf bald.«

    »Sag uns doch wenigstens, worum es geht!«, rief sie ihm nach, als er schon halb die Treppe heruntergeeilt und in die draußen wartende Droschke gestiegen war. Er zögerte einen Moment, drehte sich rasch zu ihr um und rief über die Schulter: »Mein Bruder ist gestorben.« Er sah noch Helenes und Hettners überraschte Gesichter, dann machte er auf dem Absatz kehrt, warf den Koffer in den Wagen, stieg dann selbst ein und schlug die Tür hinter sich zu.

    Die Fahrt nach Lärchenheim zum Haus seiner Eltern sollte den halben Tag in Anspruch nehmen. Dr. Nathanael van Stey wusste das, obwohl er seit sechsunddreißig Jahren nicht mehr dort gewesen war. Die Droschke holperte über die unebenen Straßen, dass ihm übel wurde. Um sich abzulenken, zog er die dünnen, grauen Vorhänge ein wenig zurück und beobachtete das sonntägliche Treiben draußen auf den Straßen. Sie kamen an der riesigen Baustelle in der Mitte der Stadt vorbei, die, seit die Preußen wieder über die Stadt herrschten, immer schneller in die Höhe gestiegen war. Der schon jetzt alles überragende Bau wurde weiter zu einem übergroßen Dom ausgebaut und jetzt, nachdem die Besetzung durch die Franzosen der Vergangenheit angehörte, fanden wieder regelmäßiger Messen darin statt. So gehörte es sich schließlich auch, wie Helene oft sagte, der die Vorstellung, in einem Gotteshaus würden Pferde gehalten – wie es diese grässlichen Franzosen getan hatten – furchtbar abstoßend vorkam, während sich ihr Mann recht wenig darum scherte und im Geheimen tatsächlich mit den Idealen der Besatzer sympathisiert hatte. Menschenmengen strömten auf Plätze und Straßen, schwatzend oder ernst dreinblickend verließen sie die Kirchen und genossen den klaren sonnigen Frühlingstag. Der Himmel war von einem strahlenden Blau und die Sonne wärmte die kleinen Gesellschaften, die sich jetzt immer drängender in die Straßen Kölns ergossen. Dr. Nathanael van Stey betrachtete die Massen, die vor dem Kutschenfenster vorbeizogen, und fühlte sich mehr denn je wie ein Ausgestoßener. Seit seiner Ankunft in Köln hatte er sich schon oft von allen abgesondert gefühlt, doch war es lange her, seit er das letzte Mal so empfunden hatte. Ein eisiges Gefühl schrecklicher Traurigkeit stieg in ihm auf und er zog den Vorhang rasch wieder vor die kleine Scheibe. Er schluckte, schloss die Augen und lehnte den Kopf an die harte Rückwand der Droschke. In Gedanken befand er sich im Salon seines Elternhauses. Gideon stand in einer Ecke, sah aus dem Fenster, die Violine unters Kinn geklemmt und spielte eine schwermütige Melodie. Auf einem Stuhl zur linken Seite saß ein hübsches junges Mädchen. Sie hatte tiefschwarzes Haar, das in der matten Herbstsonne glänzte, deren Strahlen durch das große Balkonfenster vor ihr hereinfielen. Sie saß sehr gerade auf ihrem Stuhl, als wage sie nicht, sich anzulehnen. In der Hand hielt sie eine Puppe aus weißem Porzellan, die wie ein kleines Abbild ihrer selbst aussah. Plötzlich drang ein Schluchzen aus ihrer Kehle und Gideons Spiel brach abrupt ab. Er sah zu ihr hinüber und auch Nathanael erblickte jetzt Tränen auf dem blassen, puppenhaften Gesicht seiner Schwester.

    »Marlies«, sagte Gideon bestürzt und ging zu ihr hinüber, ein Taschentuch in der Hand, mit dem sie sich die Tränen abtupfte. »Liebes. Was hast du denn?« Sie schüttelte den Kopf und putzte sich vorsichtig die Nase. Nathanael war näher heran getreten und kniete sich jetzt zu Marlies’ anderer Seite hin. »Sag schon«, bat er. Sie sah betreten zu Boden, so als schäme sie sich, sich vor ihren Brüdern einem solchen Gefühlsausbruch hinzugeben. Schließlich erhob sie dennoch matt die Stimme. »Es ist wegen Valentin«, sagte sie heiser. »Es ist alles so schrecklich.« Wieder schluchzte sie in ihr Taschentuch. Nathanael spürte, wie Gideon ihm über Marlies hinweg einen Blick zuwarf, aber er sah ihn nicht an. Keiner der beiden hatte etwas davon verraten, was in jener Mainacht geschehen war, in der Valentin starb. Die Familie hatte angenommen, es sei ein Unfall gewesen und weder die Mutter, noch der Vater hatten daran zweifeln wollen, hätte doch jeder andere Umstand ihrem hohen gesellschaftlichen Rang Abbruch getan.

    Gideon legte eine Hand sachte auf Marlies’ Knie und streichelte sie. »Keiner von uns konnte etwas für Valentins Tod«, sagte er und sein Blick huschte kurz zu Nathanael hinüber, aber es war Marlies, die antwortete. »Doch. Ich bin schuld.« Gideons Hand auf ihrem Knie hielt in der Bewegung inne. »Was meinst du damit?« Marlies schnäuzte sich noch einmal geziert in ihr Taschentuch, dann sah sie auf und ihre Augen waren rot und verquollen. Sie sah nur Gideon an, als sie mit brüchiger Stimme zu sprechen begann, so als sei es einfacher, nur einem der beiden ein Geständnis abzulegen.

    »Zwei Tage bevor … Er kam hinüber in Hennis und mein Zimmer. Henni schlief schon, aber ich konnte nicht. Valentin kam hinüber … er kniete sich neben mein Bett und …« Sie schluchzte laut auf. »Was hat er getan?«, fragte Nathanael jetzt sanft. »Er … er streichelte meine Wange. Er meinte, wir seien doch Geschwister … wir müssten zusammenhalten. Dann legte er sich zu mir ins Bett …« Sie schniefte so heftig, dass ihr die kleine Puppe, die ihr so ähnlich sah, aus der Hand glitt und auf den Boden fiel, sie

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