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Schrecken der Vergangenheit
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eBook248 Seiten3 Stunden

Schrecken der Vergangenheit

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Über dieses E-Book

Das Gute stirbt niemals aus. Fünfzehn Autoren zelebrieren den klassischen Horror, das Dunkle, das Böse, die Monster, die wir alle seit Menschengedenken lieben. Und auch für den Liebhaber des exotischen Grusels ist gesorgt. Aus der tiefsten Vergangenheit des 18. Jahrhunderts greift der Schrecken nach uns, nach unseren Nerven und unserer Gänsehaut.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum6. Feb. 2017
ISBN9783957659651
Schrecken der Vergangenheit

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    Buchvorschau

    Schrecken der Vergangenheit - p.machinery

    1

    Rudolf Arlanov: Der verletzte Gefreite

    Hätte er geahnt, dass sein Tun in einer schier endlosen Flucht enden würde, vielleicht hätte er sich damals seinem Schicksal ergeben. Aber die Angst gebiert bisweilen seltsame Entscheidungen. Er war vorbereitet zu sterben – mit welchem seiner unzähligen Gesichter ihn der Tod ereilen würde, wollte er sich nicht vorstellen –, aber er würde versuchen, so lange wie irgend möglich dem zu entkommen, was hinter ihm lag.

    Es war der 17. September 1803. Über ihm tobte ein Unwetter, das das Kurfürstentum bereits den gesamten Monat über im Griff hielt. Er war bis auf die Knochen durchnässt, trotz des Dreispitzes und des Umhangs, die ihn vor dem Unwetter schützen sollten. Den Dreispitz hatte er tief ins Gesicht gezogen. In heftiger Folge entluden sich Blitze, als wollten sie ihn in seinem Fortkommen zu hindern versuchen. Er lief gekrümmt und hob schützend die Arme über sich, geleitet von einem einzigen Gedanken: Überleben.

    Nach vorne blickend und schwer atmend, kämpfte er sich über eine schier endlose Wiesenlandschaft, ohne jegliche Möglichkeit sich unterzustellen. Er vernahm plötzlich tierisches Heulen. Wölfe. Er hielt kurz inne. Die Laute schienen aus weiter Ferne zu kommen. Er biss seine Zähne fest zusammen und lief unbeirrt weiter.

    Er war müde und erschöpft. Seine Lungen brannten und seine linke Seite stach unerbittlich, als hätte ihm jemand ein Brenneisen in die Seite gerammt. Der Schmerz raubte ihm den Atem. Er spürte seinen Verfolger näherkommen. Aber nicht hier, dachte er, hier würde er mich nicht bekommen. Verden hatte er hinter sich gelassen, die Grafschaft Hoya erreicht und war seinem Ziel, Bremens Hafen, näher, als dass er jetzt aufgeben würde. Dann würde er … diese Gedanken verfolgend, stürzte er und brach völlig erschöpft im Gras zusammen. Gabriel Staehn hörte das Prasseln des Regens gegen seinen Dreispitz immer leiser werden, während er das Bewusstsein verlor.

    Nachdem das Unwetter weiter gezogen war, durfte Charlotte mit ihren Lämmern hinausgehen. Begleitet von Achilles, ihrem Hirtenhund, der vorausgeeilt war und in einem unsichtbaren, großen Kreis um sie rannte, genoss die Bauerntochter das Laufen auf der Weide zwischen ihren verspielten Lämmern. Sie spürte ihr weiches Fell an sich und blökte mit ihnen. Plötzlich wurde sie von Achilles’ Knurren und Fletschen aus dem verträumten Spiel gerissen. Ihre Lämmer begaben sich instinktiv in sichere Entfernung, während sich Charlotte vorsichtig ihrem Hund näherte. Sie fand einen Fremden auf ihrem Land liegen – ob er schlief oder gar tot war, wollte sie nicht allein herausfinden – und eilte sofort zu ihrem Vater Johann Brenner. Jener befand sich im Stall, saß auf einem Schemel und molk gerade eine Kuh.

    »Vater, komm schnell!«, rief Charlotte außer Atem.

    »Was ist los, Lotta?«, fragte er besorgt.

    »Da liegt ein Mann auf der Weide. Ich glaube, er ist tot.«

    Er bewaffnete sich mit einem Knüppel und ließ sich von ihr zu diesem Fremden führen.

    Der Mann im Gras war von einem schwarzen Umhang zugedeckt und seine weiße Hose mit schwarzen Halbschuhen trat hervor. Mit einer Handbewegung deutete Brenner seiner Tochter Charlotte zurückzubleiben, während er sich, seinen Knüppel fest im Griff, dem Mann näherte. Mit seiner Stiefelspitze stieß er kräftig an dessen Beine.

    »Heda …«, rief er nach unten.

    Der Mann lag bäuchlings vom Mantel bedeckt und rührte sich nicht. Vorsichtig schob Brenner den Umhang mit dem Knüppel zur Seite und sah erstaunt einen blauen Rock darunter zum Vorschein kommen. Ein preußischer Soldat! Was machte ein Soldat so weit entfernt von seinem Trupp hier?, dachte er. War er vielleicht ein Späher? Oder nur ein feiger Deserteur!

    Brenner kniete nieder und berührte den Soldaten. Dessen Kleidung war triefend nass und haftete an ihm wie eine zweite Haut. Er drehte den Soldaten vorsichtig auf den Rücken. Dessen Brustkorb hob und senkte sich schwach. Besorgt bemerkte der Landwirt, dass die komplette linke Seite der weißen Weste, die sich unter dem mit Schmutz und Schlamm bedeckten Rock des Soldaten befand, blutrot getränkt war.

    »Verfluchte Banditen!«, fluchte Brenner. »Lotta, lauf schnell heim, berichte deiner Mutter und lass heißes Wasser und Tücher richten. Ich werde nachkommen … lauf schon«, befahl er seiner Tochter.

    »Na, dann komm mal mit, du verdammter preußischer Nebelspalter!«, sprach Brenner zum Bewusstlosen, lud ihn über seine breite Schulter und machte sich auf dem Weg zurück.

    Wie in einem Nebel wandelte er jenseits eines entfernten Ortes, den er zu kennen schien, aber nicht zu greifen bekam, sondern in seinen Händen wie einen schmerzhaften Traum zerrinnen lassen musste. Verschwommen konnte er seine Frau und Tochter sehen, die auf ihn warteten. Seitdem er beide verlassen musste, war eine Ewigkeit vergangen. Er vermisste sie und schritt wie durch einen endlosen Schleier auf beide zu. Anna, seine Frau, eine grazile Schönheit, gekleidet in einem weißen Spitzenkleid und mit schwarzen Locken, die ihre Schultern bedeckten, lächelte ihn an. Gleichzeitig löste sich seine Tochter Emma von ihr. Ihre langen, brauen Strähnen flatterten auf und ab und ihre nackten Füße schimmerten am Kleidrand, während Emma freudig auf ihn zulief. Sie rief ihm etwas durch den Schleier zu, aber außer einem Rauschen, das sich in ein Summen verstärkte, konnte er nichts hören.

    Voll Freude breitete er seine Arme aus, als sich das unangenehme Summen markerschütternd verdichtete und er seine schreiende Frau Anna hinter Emma erkannte, die diese plötzlich packte und von ihm wegzog. Das Summen wurde zu einem ohrenbetäubenden Kreischen. Schmerzerfüllt griff er sich schützend an die Ohren und erhaschte den Blick, den seine Frau ihm zuwarf: Voll Panik zog sie ihre gemeinsame Tochter immer weiter fort. Verwirrt versuchte er ihnen nachzulaufen, doch der lähmende Schmerz drückte ihn nieder. Während seine Frau und seine Tochter zu unwirklichen Konturen verblassten, umgab ihn im nächsten Moment absolute Stille, und sein Schmerz wie auch seine Lähmung waren wie ausgelöscht. Er richtete sich auf und erschrak, als er in seiner linken Hand etwas Warmes, Weiches, Pulsierendes hielt, aus dem eine dunkle Flüssigkeit entwich. Es war ein schlagendes Herz.

    Plötzlich keimte in ihm ein vertrautes Gefühl auf, ein Verlangen, gefolgt von einem unbändigen Hunger. Er biss genussvoll in das Herz und ein vertrauter metallisch-süßer Geschmack breitete sich in seinem Mund und seiner Nase aus. Gierig biss er weitere schmackhafte Stücke heraus und spürte, wie allmählich eine Verwandlung in ihm vorging.

    Gabriel Staehn erwachte aus einem immer wiederkehrenden Albtraum. Als er sich vorsichtig bewegte, durchzog ihn ein durchgehendes Stechen, vor allem in seinem Oberkörper. Er bemerkte, nur in seiner Unterwäsche gekleidet, einen großen Verband um seinen Bauch. Wer auch immer ihn aufgenommen hatte, hatte seine Wunde versorgt. Er versuchte, sich aufzurichten und zwang sich, den Schmerz zu unterdrücken.

    Verdammt, dachte er besorgt, wie lange liege ich schon hier? Er wollte schleunigst seine Sachen packen und von hier flüchten und suchte den Raum nach seiner Kleidung ab – vergeblich. Er fand einen aus dunklem Holz gefertigten Schrank, einen kleinen Holztisch mit Tonkrug, Becher und geschnitztem Kerzenhalter samt Hocker vor. Beim Versuch aufzustehen, raubte ihm der Schmerz den klaren Blick und nur mit einem kräftigen Griff am Bett gelang es ihm, dem Taumel zu entgehen und sich aufzurichten.

    Über dem Bett hing ein Holzkreuz mit dem gepeinigten Jesu, der ihn strafend anblickte. Staehn schlich schmerzerfüllt zur Eingangstüre, öffnete sie einen Spalt und lauschte. Er konnte Stimmen hören; eine tiefe, männliche Stimme sprach zu einer weiblichen Person.

    »So ein verfluchter Mist! Ich denke, er wird die Nacht nicht überleben!«, hörte er den Mann sagen.

    »Ich hab’s satt, Johann! Wir müssen endlich handeln, sonst sind wir die nächsten!«, forderte die Frau energisch.

    »Zunächst muss ich mich um ihn kümmern. Er hat zu viel Blut verloren und ich denke, wir sollten sein Leiden beenden. Danach …«

    Aufgrund des Stechens an seiner Seite verlagerte Staehn vorsichtig sein Gewicht. Ein plötzliches Ächzen der Bodenbretter unterbrach den Mann in seinen Worten.

    Verdammt, fluchte Staehn innerlich und konnte sich nähernde, stampfende Schritte hören. Schnell schnappte er sich den Hocker und lauerte hinter verschlossener Türe. Er war noch nicht tot und würde in diesem unbekannten Haus auch nicht sterben. Dafür würde er sorgen, auch wenn ihm sein vor Schmerzen brennender Körper anderes sagte.

    Brenner näherte sich dem Raum, in dem sein Gast lag, öffnete vorsichtig die Türe und lugte hinein. Das Bett war leer, bemerkte er, als er im gleichen Augenblick fast neben sich ein angestrengtes Stöhnen hörte, seinen Kopf schnell zurückzog und einen Hocker um Haaresbreite vorbeisausen sah. Der Angreifer ließ dabei den Hocker krachend zu Boden fallen. Brenner riss nun die Türe ganz auf und stellte sich seinem Angreifer entgegen, der schwer atmend und unter starken Schmerzen auf ihn losging. Mit einem kräftigen, befreienden Schlag stieß er den Mann nach hinten.

    »Nanana, nicht so hastig, der Herr!«, spottete Brenner, der einen Kopf größer und stämmiger war.

    »Johann, was ist das für ein Lärm?«, rief von hinten eine besorgte Frauenstimme.

    »Alles in Ordnung. Unser Gast ist wach und hat sich mir vorgestellt«, rief er zurück und wandte sich sogleich wieder seinem Gast zu.

    »Wir helfen dir und so dankst du es uns!«

    »Ich habe euch gehört und ich bin noch sehr lebendig!«, spie jener mit gefletschten Zähnen und irrem Blick und startete einen weiteren Angriff. Brenner bekam ihn zu packen, drückte ihn zu Boden und ließ sodann mit einem Lächeln von ihm ab.

    »Mann, wir sprachen von unserem Bullen, der letzte Nacht von einem Wolf schwer verletzt worden ist. Nicht von dir … beruhig dich, sonst verletzt du dich noch mehr und ruinierst die Verbände, die wir dir angelegt haben.«

    »Verzeihen Sie meinen tätlichen Angriff, aber man weiß nie, wo man in diesen stürmischen Zeiten landet«, versuchte sich Staehn zu entschuldigen.

    »Schwamm drüber«, antwortete Brenner, reichte Staehn hilfreich die Hand und führte ihn zum Bett. Daraufhin ging er zum großen Schrank und öffnete ihn.

    »Deine Kleidung habe ich hier. Meine Frau hat versucht, sie so gut es ging zu säubern und zu flicken. Wenn dir der gröbere Stoff zusagt, so kannst du eines von meinen Hemden haben.«

    »Vielen Dank. Wie lange bin ich bereits hier?«, fragte Staehn.

    »Zwei Tage. Wir dachten, du würdest gar nicht mehr aufwachen wollen.«

    In Gabriel Staehn stieg Panik auf, die er zu verbergen versuchte. Zwei lange Tage hatte er verloren, die es seinem Verfolger ermöglicht hätten, ihn jederzeit zu finden. Er spürte das verstärkte, leichte Kribbeln der sich nähernden Präsenz. Sie war näher, als ihm lieb war, und wahrscheinlich war es ihr gelungen, wieder seine Fährte aufzunehmen. Seine Gedanken verfinsterten sich und rasten, auf der Suche nach einem Ausweg.

    »Was ist geschehen?«, entriss ihn Brenner aus seinen Gedanken.

    Bevor Staehn eine Antwort finden konnte, antwortete indes ein heftiges Knurren seines leeren Magens.

    »Sobald du die Sachen angezogen hast, komm in die Küche. Meine Frau Gita wird für dich etwas vorbereiten«, sagte Brenner und verließ den Raum.

    Während Staehn langsam in das ihm zu große Hemd schlüpfte, dabei den Schmerz verfluchte, nahm er seinen Gedanken wieder auf. In einem weit verborgenen Teil seines Inneren deutete sich ihm der Weg der Verwandlung an, den er bereits oft gegangen war und nun wieder gehen musste, wollte er überleben.

    Kopfschüttelnd kam Brenner in die Küche zurück.

    »Richte das Essen für unseren Dauerschläfer. Sobald er kann, soll er hier verschwinden! Der Krieg hat ihn wirr im Kopf gemacht, Gita. Er hat versucht mich mit dem Hocker zu erschlagen, weil er uns belauscht hatte und glaubte, wir wollten ihn töten.«

    Charlotte erschrak ob dieser Worte. Der Mann machte ihr Angst.

    »Ihn töten? Pah, hätten wir ihm sonst seine Wunden versorgt und ihn gebettet? Ich hoffe, dieser Kriegswahnsinn findet bald sein Ende!«, schimpfte seine Frau Brigita, die mit zwei Tellern Suppe an den Tisch kam. Charlotte nahm einen Holzlöffel und wollte anfangen.

    »Warte noch, Lotta. Die Suppe ist noch heiß und unser Gast kommt gleich«, ermahnte sie ihre Mutter. Wohlriechender Dampf fand den Weg in Brenners Nase.

    »Gita, wenn deine Suppe ein Hexenwerk wäre, ich würde mich bezaubern lassen und dich nicht mehr fortgeben.«

    »Zu spät, Johann, wir sind schon aneinandergekettet, dem Pfarrer sei Dank«, scherzte sie und trug zwei weitere Teller zum Tisch. Im gleichen Augenblick betrat der Soldat den Raum. Charlotte erschrak ob seines Blickes, der sie fixierte und zu durchbohren schien. Sodann löste sich sein Blick von ihr, wanderte blitzschnell im Raum umher, als ob er nach etwas suchen würde, beruhigte sich und sah zuerst ihre Mutter Brigita und anschließend ihren Vater Johann an und lächelte.

    »Setz dich und lass es dir schmecken.«

    Der Teller vor Staehn roch angenehm, er fing an, die Suppe zu löffeln, aber sein Appetit verlangte nach einer anderen Mahlzeit. Seinen Blick auf Johann Brenner richtend, sprach er: »Ich habe mich Ihnen noch nicht vorgestellt. Ich bin Gefreiter Gabriel Staehn.«

    »Ich bin Johann Brenner, das sind meine Frau Brigita und meine Tochter Lotta.«

    Erneut sah er zu Charlotte rüber, die sich immer unwohler fühlte, seinen gehetzten, abgründigen Augen ausgesetzt zu sein. Staehn versuchte sein Starren mit einem Lächeln zu überspielen und die Kälte in seinen Augen wich einem kurzen Leuchten.

    »Lotta für Charlotte, welch schöner Name. Du erinnerst mich an meine verstorbene Tochter Emma … sie wäre in deinem Alter und ihr wärt bestimmt gute Freundinnen geworden.«

    »Was ist geschehen?«, fragte Brenner.

    »Sie wurden Opfer des Krieges«, log er und wob geschickt ein wenig Wahrheit mit hinein. »Hannover ist gefallen. Bei dessen Verteidigung verlor ich meine Frau und meine Tochter und wurde selbst schwer verletzt. Es war schrecklich. Ich konnte fliehen. Leider war mein Regiment versprengt. Die Franzosen formierten sich erneut und machten sich auf gen Norden. Ich verlor mein Ross auf dem Weg nach Bremen, um dort Bericht zu erstatten und mich dem dortigen Regiment anzuschließen. Wo bin ich hier?«

    »Bei Verden. Etwa dreißig Kilometer bis Bremen.«

    Verden? Verdammt!, fluchte er innerlich. Er dachte, er hätte es bereits hinter sich gelassen. Noch dreißig Kilometer! Und zwei verlorene Tage. Er spürte ein intensiver werdendes Kribbeln im Nacken. Die Präsenz näherte sich unaufhaltsam. Staehn musste handeln. Schnell.

    »Ihr spracht von einem verletzten Tier, um dass ihr euch kümmern wolltet. Vielleicht kann ich euch helfen?«, fragte er.

    »Gerne«, antwortete Brenner.

    Charlotte blickte ihrem Vater besorgt hinterher, als die beiden Männer den Raum in Richtung Stallung verließen. Der Mann machte ihr große Angst.

    Im Stall fanden Brenner und Staehn einen schwach atmenden Bullen auf dem Boden liegen. Tiefe Bisswunden waren am Hals des Tieres zu sehen.

    »Verdammtes Wolfspack!«, fluchte Brenner. »Schade um dich, alter Junge«, kniete er sich zu ihm und meinte zu Staehn: »Das Beste wird sein, ihn mit einem Halsschnitt ausbluten zulassen.«

    »Ich denke genauso. Womit?«, fragte Staehn und Brenner deutete auf eine der Stallwände, wo Werkzeuge und Messer hingen. Staehn nahm ein geeignetes Messer und kam zurück.

    »Wahrlich eine Verschwendung an Leben …«

    »Das ist es«, stimmte ihm Brenner zu.

    »… aber es ist notwendig«, sprach Staehn ruhig weiter und stach blitzschnell tief in Brenners Hals, durchtrennte gekonnt die Halsschlagader und ließ beim Herausziehen des Messers dem Blut freien Lauf. Brenner griff sich an den Hals und versuchte zu schreien und sich aufzurichten, aber nur gurgelnde Laute entwichen seiner Kehle. Mit einem Tritt warf Staehn ihn zu Boden und sah zu, wie sich Brenner nach Luft ringend in seinem Todeskampf wand. Kurz darauf erschlaffte Brenners Körper.

    Staehn handelte schnell. Er beugte sich ächzend hinab zu Brenner, schnitt dessen Hemd auf und stach mit einem kräftigen Hieb in dessen Brustmitte. Er zertrennte gekonnt Haut, Muskeln und Gewebe, welche den Brustkorb zusammenhielten. Mit einem gierigen Blick und schier übermenschlichem Willen ließ er seine Finger in den geschaffenen Spalt gleiten und riss die beiden Hälften auseinander. Vor ihm tat sich die Kostbarkeit auf, nach der er verlangte: das Herz. Seine Augen leuchteten bei diesem Anblick. Binnen Augenblicken zerschnitt er wie von Sinnen Adern und Gewebe und legte das Herz frei. Er ergriff es mit beiden Händen, biss genüsslich hinein und verspeiste die saftigen Stücke.

    Erleichtert ließ er von der Leiche Brenners ab, als er eine Wärme in sich aufsteigen und eine vertraute Kraft – die einverleibte Seele Brenners – durch seinen Körper strömen spürte, die seine Verwandlung begann. Er würde nicht mehr Gabriel Staehn sein, sondern konnte sich aufgrund des verzehrten Herzens in einen neuen Körper verwandeln, den Körper Johann Brenners, und dank dessen Seele unauffindbar durch die ihn jagende Präsenz sein.

    Soweit er gesehen hatte, lebte die Familie Brenner allein auf dem Landgut. Die Leiche würde er am nächsten Tag entsorgen, dachte er. Anstatt kostbare Zeit zu vergeuden, wollte er so schnell wie möglich zurück.

    Anna und Emma, nein, Brigita und Charlotte erwarten mich, dachte er.

    Nachdem er sich in einem Trog gewaschen und Hose und Schuhe mit seinem Opfer gewechselt hatte, ging er zurück ins Haus: zu seiner neuen Familie.

    Charlotte räumte gerade die Teller in den Schrank, als ihr Vater fluchend die Küche betrat: »Dieser preußische Mistkerl! Er hat mich im Stall wieder angegriffen.«

    »Was ist passiert?«, fragte seine Frau besorgt, als sie sich ihm zudrehte.

    »Wir wollten den Bullen ausbluten lassen. Als er mich mit dem Messer sah, ging er auf mich los. So was Verrücktes!«, erklärte er.

    »Wo ist er jetzt?«

    »Ich habe diesem Sauhund einen kräftigen Tritt versetzt und ihn mit der Mistgabel zum Teufel gejagt! Der kommt nicht mehr wieder, Gita«, antwortete er, ging auf seine Frau zu, nahm sie in den Arm und küsste sie.

    Sie fühlte sich gut an in seinen Armen. Er genoss ihre weichen Rundungen und ihr Kuss schmeckte süß. Danach sah er zu Charlotte rüber, lächelte sie an und zerzauste frech ihr Haar.

    »Es ist alles in Ordnung, Emm…«, er hielt kurz inne, seinen Fehler bemerkend, und sprach unbeirrt weiter »… Lotta. Der böse Mann ist fort,

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