Jahr ohne Winter: Roman
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Lorenz Langenegger
geboren 1980 in Gattikon, Schweiz, lebt als Schriftsteller in Zürich und Wien. Verschiedene Arbeiten fürs Fernsehen und das Theater mit Uraufführungen in Zürich, Mannheim und Berlin.
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Bei 30 Grad im Schatten Bewertung: 3 von 5 Sternen3/5Hier im Regen: Roman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDorffrieden: Roman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWas man jetzt noch tun kann: Roman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
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Buchvorschau
Jahr ohne Winter - Lorenz Langenegger
I
Er will hier nicht sein. Viele tausend Kilometer von zu Hause entfernt, seinem Zuhause, das immer noch Bern ist, obwohl es in den letzten Jahren durchaus Gründe gegeben hätte, die Stadt zu verlassen.
Jakob Walter weiß, dass viele davon träumen, einmal im Leben nach Australien zu reisen, ein großes Auto mit Allradantrieb zu mieten, Zelt auf dem Dach, die Wasserschläuche voll, im Kofferraum gestapelte Konserven. Wochen oder gar Monate unterwegs zu sein, keine Menschenseele, nur Staub, Sand, bizarre Felsformationen und die Sonne, die glühend rot am Himmel steht. Manchem mag der Koala ein Symbol sein, das Herz hüpfen, wenn er ein Känguru sieht, eine Träne über die Wange rollen, wenn er an einem endlosen Strand den Wellenreitern zuschaut. Walter gehört nicht zu ihnen. Er hätte vor zweihundert Jahren kein Schiff bestiegen, um sein Glück zu versuchen, er glaubt nicht an die Versprechen der Neuen Welt.
Kurz nach seiner Ankunft im Strandhotel hat ihm ein Isländer erklärt, dass es kein größeres Glück gebe, als nachts die nackten Zehen im warmen Sand zu vergraben. Walter träumte als Kind vom Nordpol, zog fünf Pullover übereinander an und baute in der Zimmerecke ein Zelt, in dem er Eisbären auflauerte. Er mochte den Geschmack, wenn er auf dem Weg in die Schule den frisch gefallenen Schnee im Mund zergehen ließ.
Walter bestellt noch ein Bier und wartet, bis die Mücke sich auf seinem behaarten Unterarm in Position gebracht hat, um sie mit einem trockenen Klatschen zu erschlagen. Ein kleiner, viel zu roter Fleck bleibt auf seinem Arm zurück. Von wem stammt das Blut aus dem Verdauungstrakt der Mücke? Von dem braun gebrannten Holländer mit dem dicken Bauch, der am Strand eingeschlafen ist? Von der jungen Frau im Bikini, die mit dem ungestümen Hund des Managers spielt? Oder von dem Amerikaner, der im Sand Rumpfbeugen macht und stoßweise durch die zusammengepressten Zähne atmet?
Die Dämmerung hat eingesetzt, der Wind bringt etwas Abkühlung. Das Meer ist nicht mehr so glatt wie tagsüber, die Wellen brechen sich einige Meter vor dem Strand. Hätte er erkannt, wo er hier gelandet ist, bevor er dem jungen Mann an der Rezeption zu den fünfzig Dollar weitere fünfzig zugeschoben und seinen Bungalow bezogen hat, er hätte das Strandhotel auf der Stelle verlassen, sich ein Taxi genommen und in dem heruntergekommenen Bau neben dem Busbahnhof, von dem im Reiseführer abgeraten wird, ein Zimmer gemietet.
Seit zwei Stunden sitzt Walter in einem zerknitterten Hemd auf einem Korbstuhl aus Plastik unter einer Palme. Er hat die Schuhe nicht ausgezogen, dafür die Hose hochgekrempelt. Nach dem ersten Bier, auf das ihn der Manager eingeladen hatte, bestellte er einen geeisten Fruchtsaft, der so zähflüssig war, dass er den Strohhalm, der darin steckte, bald beiseitelegte. Der Holländer blieb neben ihm stehen und lächelte ihn wissend an. Er stellte sich vor, Theo war sein Name. Walter bestätigte das Offensichtliche: Er sei soeben angekommen. Nein, nicht aus Sydney, das war nur der letzte Zwischenstopp. Aus der Schweiz? Bloody hell, eine weite Reise, er müsse müde sein. Walter zuckte mit den Schultern. Er fühlte sich verschwommen. Sein Körper war ihm fremd, nicht ganz zu ihm gehörig, aber wie er das auf Englisch hätte sagen können, fiel ihm nicht ein, also schwieg er. Der Holländer blieb noch einen Moment stehen, gab Walter die Gelegenheit, das Gespräch fortzusetzen, dann klopfte er ihm auf die Schulter wie einem alten Bekannten und legte sich am Strand auf sein bunt gemustertes Tuch.
Walter trinkt ein zweites Bier, aber es hilft nichts, er fühlt sich hier kein bisschen wohler als nach seiner Ankunft. Auf der Reise sind ihm nicht nur Tag und Nacht durcheinandergeraten, sondern auch die Jahreszeiten. Er ist aus dem Winter in den Sommer geflogen. Und obwohl es in den letzten Wochen ungewöhnlich mild war (das Wasser in der Kinderbadewanne, die im Schildkrötengehege auf seinem Balkon den Teich ersetzt, war nie gefroren), kommt ihm die Hitze unerträglich vor. Das Unbehagen geht nicht vorbei, wenn er nur lange genug hier sitzen bleibt. Er kennt sich mit den Regeln und Codes der Rucksacktouristen und Weltenbummler, die in diesem Strandhotel absteigen, nicht aus. Er hat offensichtlich nicht die gleichen Wünsche wie viele andere Gäste, die es nach ihrer Abreise so gut bewertet haben, dass es in der Empfehlungsliste ganz oben stand. Einer dieser Wünsche war ein Einzelzimmer. Der junge Mann am Empfang strahlte Walter an, als er, kaum hatte er für die erste Nacht bezahlt, wieder vor ihm stand.
– How can I help you?
Erst jetzt erkannte Walter, dass der geschwungene Schriftzug auf dem Poloshirt des jungen Mannes kein modisches Detail war, sondern eine Aufforderung: My name is Rob. Ask me! Walter legte ihm den Schlüssel hin und entschuldigte sich für das Missverständnis. Er hätte gerne ein Einzelzimmer.
– A single room? We just have bungalows.
Ja, oder einen Bungalow, das sei ihm einerlei. Rob zeigte auf den Schlüssel. Aber er habe doch einen Bungalow. Er verstand Walters Problem nicht.
– A single bungalow?
Nein, das gebe es nicht. Sie hätten kleine und große Bungalows, die großen boten Platz für vier, die kleinen für zwei Personen. Walter überlegte nicht lange. Auf die Frage, ob er einen Rabatt bekomme, wenn er den kleinen Bungalow alleine beziehe, zuckte Rob mit den Schultern. Das müsse er den Chef fragen. Er zeigte auf den Mann, der in einem offenen Hemd über der Badehose mit einem Netz den Swimmingpool reinigte.
Walter stellte sich neben ihn und wartete, bis der Manager einen ertrunkenen Gecko aus dem Wasser gefischt hatte. Das tote Tier trieb neben dem gluckernden Abfluss, er brauchte die ganze Länge der Teleskopstange und einiges an Fingerspitzengefühl. Als es ihm endlich gelungen war, den Gecko aus dem Wasser zu holen, lächelte er Walter mit dem naiven Stolz eines Jungen an, der eine besonders schwierige Aufgabe bewältigt hatte.
– How can I help you?
Walter trug sein Anliegen vor. Die Begeisterung, mit der ihm der Manager zuhörte, war genauso groß wie sein Bedauern darüber, dass nichts zu machen war. Wenn Walter einen Bungalow für sich alleine haben wollte, musste er den doppelten Preis bezahlen. Der Manager machte ein Gesicht, als ob ihm die abschlägige Antwort körperliche Schmerzen bereitete.
– But have a drink, please!
Er führte Walter zur Bar und zapfte ihm persönlich ein großes Bier. Theo und der Isländer sprachen ihn mit derselben herzlichen Offenheit an wie Rob und der Manager. Sie gingen davon aus, dass er aus dem gleichen Grund hier war wie alle anderen. Walter aber ist nicht auf der Suche nach einem unvergesslichen Urlaubserlebnis, er will keine fantastische Zeit in Down Under verbringen. Den Zettel mit den Angeboten für die Tauchkurse hat er Rob dankend zurückgegeben, er hat keine Dschungelwanderung gebucht.
Walter ist irritiert, weil die Männer über die Abwehr in seiner Haltung nicht gutgelaunt hinwegsahen. Sie ignorierten das gequälte Lächeln auf seinem Gesicht nicht, nein, sie nahmen es gar nicht erst zur Kenntnis. Am Strand von Cairns gibt es keine schlechte Laune. Und spielt das Wetter einmal nicht mit, verspricht eine Tafel über der Bar, dass jede Regenstunde eine Happy Hour ist. When life gives you lemons … Mit dem gleichen Spruch hatte am Flughafen in Singapur ein Schnellimbiss geworben.
Wenn es eine Hölle gibt, denkt Walter, wird er die ewige Verdammnis in einem Strandhotel absitzen, um ihn herum nichts als Sonne, feuchte Hitze, gute Laune und die Sommerhits der letzten zwanzig Jahre in Endlosschleife. Der Sand ist der heimliche Herrscher. Anfangs nur in Schuhen und Socken, findet er bald seinen Weg in die Hosentasche, die Unterhose und die Ohrmuschel. Es gibt kein Entkommen, der Sand lagert sich auf dem Bierschaum ab, das Clubsandwich knirscht zwischen den Zähnen.
Walter schlägt die Speisekarte zu. Ein drittes Bier schafft er nur, wenn er dazu etwas isst. An der Bar wird er vom Manager persönlich bedient. Der pfeift seinen Hund heran, während er das Bier zapft, aber eigentlich, so vermutet Walter, pfeift er der jungen Frau nach. Als er bezahlt, schlägt der Manager mit der flachen Hand auf die Theke. Das volle Bierglas schwappt über. Die andere Hand legt er auf Walters Schulter.
– I’m Mike! I hope you enjoy your stay.
Walter ist irritiert. Erkennt er ihn nicht wieder? Hat er schon vergessen, dass sie vor zwei Stunden über den Preis für den Bungalow verhandelt haben? Die junge Frau geht an ihnen vorbei, Mike versucht, sie auf einen Drink einzuladen. Sie winkt lachend ab. Walter geht zurück zu seinem Stuhl.
Ein erster Stern funkelt über dem Meer im nachtblauen Himmel. Die letzten Badegäste rollen ihre Strandmatten ein, klopfen ihre Sandalen aus und gehen zu ihren Bungalows. Ob sie sich fürs Abendessen umziehen?
Walter ist auf diese Reise nicht vorbereitet. Niemand hat ihm gute Ratschläge mit auf den Weg gegeben. Er hat keine Liste mit Orten, die er auf keinen Fall verpassen darf, keine Restaurantempfehlungen. Den Reiseführer hat er erst am Flughafen gekauft, nach der Hälfte des Kapitels Land und Leute ist er eingeschlafen. Abgesehen von seinem Nachbarn, seinem Chef und Amir, der ihn bei der Arbeit vertritt, hat er niemanden über seine Abreise informiert, nicht einmal Lena oder seine Eltern. Er hat einen Auftrag und ein Rückflugticket, und wenn alles gut geht, wird er in wenigen Tagen zurück in Bern sein.
Der leere Strand, das Meer, der Stern. Walter lacht über seinen Widerwillen.
II
Walter konnte sich nicht erklären, weshalb sein Telefon klingelte. Gewöhnlich schaltete er es aus, bevor er sich frühmorgens ins Bett legte, er musste es vergessen haben. Hätte es nicht geklingelt oder wenigstens nur vibriert, er hätte kein Flugzeug bestiegen, er wäre nicht um die Welt geflogen, er säße nicht hier an diesem Strand. Vor ein paar Tagen aber (wie lange ist es her?) riss ihn der gezupfte Dreiklang seines Klingeltons kurz nach acht unsanft aus der ersten Tiefschlafphase. Er griff auf den Nachttisch, kein Telefon. Er stieg aus dem Bett. Ein Spatz saß auf dem Fensterbrett, da, wo er manchmal ein paar Körner hinlegte, und schaute ins Zimmer. Das Telefon steckte noch in der Hosentasche. Er nahm die Jeans vom Stuhl, ein Bein war verdreht, die Naht rot, durch den dünnen, weißen Stoff der Tasche leuchtete der Bildschirm. Es dauerte, bis er die richtige Öffnung fand, um hineinzugreifen, und er wunderte sich über seine Hektik, wo er doch gar nicht telefonieren wollte, am wenigsten mit einer unbekannten Nummer. Er wischte über den Bildschirm und meldete sich mit seinem Nachnamen.
– Ich bin es.
– Ja?
– Bist du es?
Walter erkannte die Stimme der Frau nicht. Sie war dünn und kraftlos.
– Wer ist da?
– Jakob, erkennst du mich nicht?
– Es tut mir leid.
– Ich bin es. Ursula.
Walter trat ans Fenster, der Spatz flog auf. Weshalb rief Ediths Mutter ihn an? Er hatte sie vor fast fünf Jahren zum letzten Mal gesehen. An jenem Sonntagnachmittag kurz vor dem Scheidungstermin, weil Edith ihn darum bat, dass sie ihre Mutter noch einmal gemeinsam besuchten, wie sie es zehn Jahre lang in loser Regelmäßigkeit getan hatten. Sie lebten damals schon seit Monaten getrennt, aber Edith erklärte ihm, dass ihre Mutter sich von ihm verabschieden wollte, bevor sie endgültig auseinandergingen. Er sei ein wichtiger Teil gewesen, auch in ihrem Leben. Verabschieden, als ob er sterben würde, hatte Walter damals gedacht. Oder sie.
– Wie geht es dir?
Ursula war eine resolute Dame, Walter konnte nicht glauben, dass die brüchige Stimme zu ihr gehörte. Es musste schlecht um sie stehen, dachte er, weshalb würde sie ihn sonst anrufen? Vor fünf Jahren hatte