Einmal Formentera, immer Formentera?: Aussteigen mal anders - Geschichten eines Träumers
Von Dirk Prüter
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Über dieses E-Book
Eine Sammlung von Anekdoten, Erlebnissen und Eindrücken zum Schmunzeln, Mitleiden, Nachdenken und Träumen.
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Buchvorschau
Einmal Formentera, immer Formentera? - Dirk Prüter
Dirk Prüter
Einmal Formentera,
immer Formentera?
Aussteigen mal anders
-
Geschichten eines Träumers
Impressum
1., korrigierte Ausgabe 2022
Texte: © Copyright by Dirk Prüter
Umschlaggestaltung: © Copyright by Dirk Prüter
Verlag: Dirk Prüter, Lilienweg 40, 51143 Köln
Druck & Bindung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Fragen & Anregungen: info@dirk-prueter.de
ISBN
- Paperback: 978-3-754920-06-0
- E-Book: 978-3-754921-03-6
mehr vom Autor unter www.dirk-prueter.de
Leben im Paradies? Wer wünscht sich das nicht. Dirk Prüter entdeckt für sich einen solchen Flecken Erde. Der Ort seiner Sehnsüchte? Formentera. Ibizas kleine Schwester. Die Insel im westlichen Mittelmeer lockt mit karibischen Stränden, kultigen Bars und Restaurants sowie dem Gefühl, die Uhren ticken dort langsamer. Wie viele seiner Leidensgenossen bewundert der Wahlkölner all jene, die eines Tages das Ticket für die Rückreise verbrannten. Eine Bleibe am Ort der Begierde sein Eigen nennen zu dürfen? Ein Traum. Das Schicksal meint es gut mit ihm. Nach einigen Jahren zieht er das große Los. Ein Hirngespinst wird Wirklichkeit. Der Beginn eines Aussteigerdaseins? Irgendwie schon – doch wie so häufig im Leben: Manches kommt anders als gedacht.
Eine Sammlung von Anekdoten, Erlebnissen und Eindrücken zum Schmunzeln, Mitleiden, Nachdenken und Träumen.
Vorwort
Sie halten das Ergebnis aus über 30 Jahren Formentera Aufenthalten in Ihren Händen. 30 Jahre sind eine lange Zeit. Man heiratet, bekommt Kinder, manch einer sogar Enkel, manch einer scheidet aus dem Leben. In 30 Jahren ändert sich auch eine Menge – selbst an Orten an denen man meint, die Zeiger der Uhr drehen sich langsamer. Während dieser Spanne erlebt man einiges, vergisst aber manches auch wieder. So jedenfalls ergeht beziehungsweise erging es mir. Wie hieß der-und-der doch gleich? Was gab es damals zu Essen auf den Tisch? War das in dem Jahr oder dann-und-dann?
Sie sehen, worauf ich hinaus will: nicht jedes Detail, das sie nachfolgend lesen, muss exakt so stimmen. Gelegentlich war ich so frei, Dinge stimmig zu machen. So oder ähnlich wird es gewesen sein. Dramaturgisches Beiwerk, um den Kern einer (wahren) Begebenheit auszuschmücken, tatsächlich aber unbedeutend.
Mit den Namen verhält es sich ebenso. Bitte betrachten Sie sie als Schall und Rauch. Nicht, dass jemand unwichtig wäre, aber wie er oder sie tatsächlich heißt oder hieß – an dieser Stelle irrelevant. Manch ein Name ist aus Gründen der Diskretion absichtlich geändert. Mancher, nicht jeder.
Manch anderes ist der Geschichte geschuldet. Wo einst ein Baum stand, steht heute vielleicht ein Haus, wo im einen Jahr spanisch gekocht wurde, brutzelte man im anderen italienisch und die meisten Kreisverkehre entstanden auch erst nach und nach – konstant ist lediglich der Wandel.
Sollte Ihnen die eine oder andere Anekdote bekannt vorkommen, vielleicht kreuzten sich bereits einmal unsere Wege, vielleicht erzählte sie gar jemand weiter oder vielleicht lasen Sie sie irgendwo bereits im Internet. Es sei Ihnen jedoch versichert, dass ältere Veröffentlichungen wenigstens stilistisch überarbeitet wurden. Bezüglich des eigentlichen Sachverhaltes gilt in jedem Fall das zuvor Genannte: was passiert ist, ist passiert.
Zu guter Letzt, bevor es los geht, auf die Insel des Vertrauens: nichts und niemand soll durch meine Schilderungen in Misskredit gebracht werden. Wir alle sind Menschen, wir alle sind wertvoll, wir alle haben unsere Macken, niemand ist perfekt – ist jedenfalls meine Ansicht. In manchen Situationen kommt der eine oder andere lediglich vielleicht ein wenig, nennen wir es ungeschickt, davon. Macht aber ja auch nichts. Manchmal bin ich es selbst. Macht ebenso wenig. Schön, wenn man darüber lachen kann. Lachen ist gesund. Nicht mehr erreichen wollen diese Aufzeichnungen. Sollten sie auch noch eigene Erinnerungen wachrütteln – um so besser.
Damit aber genug der Vorrede. Haben Sie Spaß, bleiben Sie gesund, erfreuen Sie sich Ihres Daseins!
1986 – das erste Mal
Willkommen auf der Insel
„Die neu'n Bleichgesichter – tach aber auch."
„Hallo. Tja, da sieht man, wer arbeitet." Rüdiger. Er muss es wissen.
„Un' wat is' mit ihm? Gehört der Schwatte mit zu Euch?"
Der braun Gebrannte deutet auf mich.
„Student. Rüdiger lacht. „Da sieht man, wem es gut geht.
Ich muss schmunzeln. Gut, ganz unrecht hat Rüdiger nicht. Auch wenn erst zwei Semester hinter mir liegen, in der Zeit habe ich bereits eine Menge gelernt. Zum Beispiel, dass man die weniger spannenden Vorlesungen besser im Freibad anstatt im Hörsaal verbringt. Bleibt auf dem Pelz natürlich nicht ganz ohne Folgen. Nicht auszuschließen aber, dass auch auf den zehn Kilometern mit dem Rad morgens hin zur Schule und Nachmittags zurück der eine oder andere UV-Strahl die Haut traf. Und Ute? Und Birgit? Unsere Freundinnen teilen Rüdigers Teint. Fallen zu viele Sonnenstrahlen in Küchen und Büros, stimmt irgend etwas nicht, doch dafür gibt es keine Anzeichen.
„Und Sie? Schon länger hier?", Rüdiger ist in seinem Element.
„So is'es. Unsere zwei Wochen sind morgen 'rum. Woll, Gitte? Gott sei Dank. Lange genuch hier gewesen. Vielleicht sollten'wa demnächst bei neuen Urlaubszielen ers' ma' nur eine Woche buchen. Sind'se auch das erste Ma' hier?"
„Mhm, drei Wochen."
„Na klasse. Glückwunsch. Hauptgewinn. Drei Wochen? In dem Loch? Auf der Insel? Prost Mahlzeit! Uns sehn' die hier nich' wieder."
Von den beiden haben wir offensichtlich keine hilfreichen Hinweise zu erwarten. Trotzdem versuchen wir es. Diesmal sieht sich Gitte veranlasst, unsere Frage zu beantworten.
„Strände? Kla' gibt's die. Nur – wer bewegt sich hier schon freiwillig bei der Affenhitze. In der Sonne. Wir sind froh, dass wa' diesen Schattenplatz am Pool hier ergattert ham'. Könn'se ab morgen übernehmen. Müssen'se nur früh genug aufstehen. Und 'nen Handtuch auf die Liegen werfen. Sonst macht sich hier nämlich 'nen anderer breit. Warten'se aber ab, dass Victor den Pool sauber gemacht hat, bevor'se da reingehen. Morgens, da is' noch alles voller Viecher im Wasser. Sehn'se dann aber schon. Die ganze Nacht is' das Licht an im Becken. Kriegen die nich' geregelt. Wie mit'm Essen. Dat könn'se auch vergessen in Spanien."
Die Statur der beiden lässt anderes vermuten, erklärt sich jedoch umgehend.
„Morgen Abend, woll' Herbert, wenn wa' Zuhause sind, da kommt bei uns ers'ma' lecker wat auf'n Tisch. Wat hält'ze von Eisbein mit Sauerkraut."
Läuft Herbert bei dem Gedanken das Wasser im Munde zusammen, bleibt uns fast die Spucke weg. Auch kulinarisch spielen unsere Gegenüber in einer anderen Liga. Einen Anlauf wagen wir dennoch.
„Gibt es sonst noch was, das Sie uns empfehlen könnten?"
„Näh – da is' nix. Wenn'se wat wissen wollen, fragn'se Victor."
„Victor?"
„Ja, den ham'se bestimmt schon kennen gelernt. Victor is' hier dat Mädchen für alles. Victor macht die Rezeption, Victor reinigt den Pool, Victor macht das Frühstück, mixt Cocktails, brät Hamburger, verleiht die Räder und wat weiß ich nich' noch."
Victor
Kann ja eigentlich nichts mehr schief gehen. Was das Allround-Talent angeht, so liegen Herbert und Gitte richtig. Wir lernten Victor in der Tat bereits kennen, nur blieb uns sein Name bis dahin fremd. Der Mann, an den uns unsere Reiseleiterin übergab, nachdem wir unsere Koffer aus dem Bus wuchteten, der uns vom Hafen hierher fuhr. Geschätzt nicht viel älter als wir, ähnlich rundlich wie unser Empfangskomitee am Pool, die Haare so schwarz wie Hose und Schuhe, anders als das Beinkleid jedoch kurz. Trotz hochgekrempelter Ärmel klebte das Hemd auf Brust und Rücken, Schweißperlen standen auf der Stirn – kaum verwunderlich bei dreißig Grad, solange kein Ventilator oder eine Klimaanlage für ein wenig Zirkulation sorgen. Uns erging es trotz luftigerer Kleidung kaum anders. Der Preis, kann oder will man sich keine Unterkunft leisten, die mit derlei Gerätschaften ausgestattet ist. Überflüssig zu erwähnen, dass „unser" Hotel über keine derartige Annehmlichkeiten verfügt. Doch zurück zu Victor.
Aus einem leicht aufgedunsenem Gesicht schauten uns zwei müde Kulleräuglein an. Irgendwie stimmig. Der Mann hatte das Temperament einer Schlaftablette. Große Worte schienen nicht sein Ding. Statt eines herzlichen Willkommens der emotionslose Tausch von Ausweispapieren gegen Zimmerschlüssel. Für Ute und mich begleitet von dem Hinweis, dass wir uns noch einen Augenblick gedulden müssten. Das Zimmer sei noch nicht fertig. Für uns kein Problem. Wofür hat man Freunde? Sahen wir uns Zuhause häufig genug täglich, kann man sich auch im Urlaub schon mal vorüber gehend ein Bad teilen. Blöd lediglich, wenn die Brille dabei auf der Keramik unter einem zerbricht. Ob Victor das Stück Plastik selbst ersetzte? Keine Ahnung. Die Reaktion auf die Schadensmeldung unterschied sich jedenfalls kaum vom ersten Kontakt – leidenschaftslose, knappe Worte.
„Kein Problem, reparieren wir."
Ich weiß zwar nicht, wie häufig derlei vorkommt, für den Rezeptionisten jedoch schien es die alltäglichste Sache der Welt. Nun ja – für uns sollte es nicht bei der einen Überraschung bleiben.
Vamos a la playa oder wo bitte geht’s zum Strand
Nach einer ersten Abkühlung im Pool und dem diskreten Rückzug von den Platzhirschen am Beckenrand beschließen wir, entgegen derer Warnung, am helllichten Tage in Augenschein zu nehmen, wie es um die karibischen Strände bestellt ist, mit denen die Reiseprospekte lockten. Einige Kilometer sahen wir bereits, als wir von Ibiza aus kommend mit der Fähre auf Formentera zusteuerten. Vielversprechend, doch sicherlich nicht der einzige Abschnitt dieser Art auf der Insel.
Unvorbereitet, ohne Karte, ohne Ortskundigen und ohne mit internet- oder navigationsfähigen Smartphones ausgestattet zu sein, probieren wir unser Glück. Weltweites Datennetz, Satellitennavigation, mobile Kommunikationstechnik? Stecken in den Kinderschuhen. Wir schreiben das Jahr 1986. Der Einsatz von Funktelefonen ist beschränkt auf das Auto. Und das nicht ohne Grund. Die Apparaturen kosten mehr als manches Fahrzeug. Zudem sind die Geräte aufgrund ihrer Größe, ihres Gewichts und ihres Energiebedarfs in keinster Weise geeignet, herumgetragen zu werden. Das Geraffel füllt einen Rucksack. Andere Technologien sind noch weiter davon entfernt, von jedermann genutzt zu werden. Meine ersten Programmiererfahrungen unter akademischer Anleitung im Informatikstudium machte ich auf Lochkarten. Die Anmerkung eines Professors dazu: nimmt man ein dutzend ausgestanzter Kartons und klebt sie zusammen, hat man einen preiswerten Lampenschirm. Doch ich schweife ab. Wie bereits erwähnt, uns zieht es zum Strand, wir wollen uns in die Fluten stürzen und wir haben keine Ahnung, welcher Weg uns dorthin führt.
Mit so etwas wie natürlichem Orientierungssinn bewegen wir uns vor die Tür unseres Hostals Lago Dorado – das Hotel am güldenen See. Die vor uns in der Abendsonne entsprechend schimmernde Lagune westlich des Hafens mag für den Name unserer Unterkunft Pate gestanden haben. Von unserem Balkon aus in dem zweigeschossigen Gebäude, da vermittelt das Gewässer in der Tat einen romantischen Eindruck. Unmittelbar davor stehend jedoch verblasst der Schimmer einstweilen. Strand? Einen schmalen Streifen Sand, ja, den gibt es. Tropisches Flair? Unsere Vorstellungen diesbezüglich waren andere. Zum Baden taugt die Lagune jedenfalls nicht. Wir laufen, laufen und laufen, doch Badesachen wie Knie bleiben trocken. Am anderen Ufer, Richtung Hafen, dümpeln Boote im Wasser. Wir sind die einzigen, die durch die weitläufige Pfütze staksen. Der Boden ist stellenweise morastig und fällt nur minimal ab. Logische Konsequenz? Der Ausflug ist ebenso schnell beendet wie er begann. Sollte sich bestätigen, was wir am Pool aufschnappten?
Der nächste Anlauf führt uns zunächst zurück in die Hände von Victor. Wie könnte es anders sein. Ein fahrbarer Untersatz muss her. Aus dem Reiseprospekt blieb hängen, dass das bevorzugte Verkehrsmittel für den Urlauber auf Formentera das Fahrrad sei. Ich habe damit kein Problem, meine Mitreisenden ebenso wenig, und zum Glück wissen wir ja auch bereits, an wen wir uns zu wenden haben.
Wenig später sind wir mit rustikalen Drahteseln ausgestattet. Wir mieten sie zunächst für eine Woche. Strand, die Zweite: Vier klapperige Räder holpern über eine staubig steinige Piste. Auf den Gepäckträgern rappeln mit Seilen festgezurrte Holzkisten, darin die Taschen mit unseren Badeutensilien. Noch immer knallt die Sonne. Die Ausdehnung der Insel in groben Zügen vor unseren geistigen Augen kurbeln wir gen Norden. Im Hintergrund zeichnen sich Höhenzüge Ibizas ab. In dieser Richtung müsste das Meer am nächsten sein. Wir strampeln ein kurzes Stück, dann geht es nicht mehr weiter. Zumindest nicht mit dem Rad. Die Straße beziehungsweise der Weg wird zu einem steinigen Trampelpfad, der sich nicht nur windet, sondern ebenso mal rauf wie wieder runter führt, insgesamt jedoch eher ansteigt. Nach einer gefühlten kleinen Ewigkeit dann liegt die Küste vor uns. Wir sind leicht enttäuscht. Es sieht anders aus, als wir es uns vorstellten. Wie wir später lernen sollen, heißt die Ecke Punta de Sa Pedrera. Puntas gibt es auf Formentera einige. Alle sind felsig, alle erheben sich mehr oder minder schroff und alle ragen in das Meer. Die Punta de Sa Pedrera bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Wohin wir schauen, unsere Blicke fallen auf eine zerklüftete Mondlandschaft. Ansonsten ist es wie an der Lagune: keine Menschenseele, die sich irgendwo tummelt. Weder in den Klippen, noch im Meer. Überhaupt – um nasse Füße zu bekommen, müssten wir klettern. Oder springen. Paradiesische Strände? Hier mit Sicherheit nicht. Werden auch wir bereuen, uns für diese Insel entschieden zu haben?
Versuch Nummer drei, uns in die Fluten zu stürzen, führt uns zunächst zurück Richtung Hotel, dann an diesem vorbei zur Inselhauptstraße. Der Weg Richtung Hafen ist nicht zu verfehlen, der Rest schnell gefunden. La Savina, der Ort, in dem wir nach der Überfahrt mit der Fähre wieder festen Boden betraten, ist überschaubar. Kommt man über die Straße, liegt links „unsere" Lagune, die abends goldene. Auf der Karte trägt sie den Namen Estany des Peix. Geradeaus, hinter der Mole, erstreckt sich das Meer beziehungsweise in knapp zwanzig Kilometern Entfernung Ibiza. Bleibt an sich nur noch der Weg nach rechts. Folgt man diesem, landet man nahezu unweigerlich am Strand. Zwar ist auch dieser nicht wer weiß wie breit, auch hier gibt es Flecken, die scharfkantiges Gestein offenbaren, doch immerhin zieht er sich, es gibt sandige Abschnitte und man gelangt so weit in das Wasser, dass man schwimmen oder schnorcheln kann. Wagt man sich noch weiter heraus, kann man nicht mehr stehen.
Schnell sind die Handtücher ausgebreitet und wir genießen, worauf wir uns gefreut haben: in der Sonne zu schmoren und, sobald wir zu verbrennen drohen, in das nicht all zu sehr kühlende Nass zu flüchten. Sanft wogt es hin und her. Was jedoch ebenso klar ist wie das Wasser: wir müssen uns die Insel strukturierter erschließen. Ein Plan muss her. Noch besser: ein Reiseführer. Im Idealfall einer, der unsere Sprache spricht und mit uns im Schlepptau die Orte abklappert, die man als Greenhorn kennen sollte.
Inselrundfahrt
Die Gelegenheit zu einer Erkundungstour bietet sich uns bereits am nächsten Vormittag. Als verfüge der Reiseveranstalter über seherische Fähigkeiten. Schon bei der Ankunft versäumte er es nicht, uns zum Begrüßungscocktail im Hotel einzuladen. Dorthin, wo wenig zuvor gefrühstückt wurde. Eine Mitarbeiterin des Touristikunternehmens heißt uns nochmals herzlich auf Formentera willkommen. Sie stellt sich uns als Sabine vor. Schön für sie. Für uns bleibt sie Miss Neckermann. Miss Neckermann trägt die Uniform des Arbeitgebers, ist geschätzt höchstens 30, für den Fall der Fälle in einem Büro am Hafen erreichbar, hat aber ebenso zweimal die Woche eine kurze „Sprechstunde" im Hotel. Praktisch.
Bei einem Glas Sangria gibt sie uns in einstudierten Sätzen einen kurzen Abriss über Geschichte, Land und Leute, was wo auf der Insel zu finden ist und was es mit dem Ordner auf sich hat, der neben der Rezeption ausliegt. Für uns am wichtigsten: die Liste derer, die abreisen beziehungsweise wann und wo sich die Genannten zur Abholung einzufinden haben. Am besten mal zwei bis drei Tage, bevor es soweit ist, hinein schauen. Dann folgt, worum es eigentlich geht – verkaufen. Wie könnte es anders sein. Wir erhalten Rabatte, wenn wir über Miss Neckermann Autos oder Motorroller mieten, zudem hat der Reiseveranstalter ein halbes Dutzend Veranstaltungen im Programm. Auf Wunsch direkt buchbar, für weniger Kurzentschlossene jedoch auch jederzeit während der Sprechstunde in der Unterkunft oder im Büro. Das Angebot reicht von der Piratenfahrt, einem Bootsausflug um die Insel, bis zum Vergnügungstrip auf das Nachbareiland. Wahlweise Ibiza bei Nacht oder Bummel durch die Altstadt tagsüber.
Ein Kennenlernen der entfernteren von Wasser umgebenen Landmasse scheidet kategorisch aus. Uns reicht der Überblick darüber, wo wir gelandet sind. Der Möglichkeiten dazu gibt es zwei: eine halbtägige Tour mit dem Bus sowie eine ganztägige Offerte unter dem Titel „Jeep-Safari". Die Namensgebung verfehlt ihre Wirkung nicht. Busrundfahrt? Hört sich ein wenig bieder an. Vielleicht was für Kulturinteressierte im gesetzteren Alter. Jeep-Safari? Klingt in unseren Ohren nach Spaß, Action und Abenteuer für Junge und jung Gebliebene. Wozu wir uns entscheiden? Welch eine Frage!
Zwei Tage später ist es soweit. Nicht ganz preiswert, das Vergnügen, insbesondere für den schmalen Geldbeutel eines Studenten, der sich erst unlängst zuvor das Taschengeld für den Urlaub erarbeitete, doch wir sollen die Investition nicht bereuen. Zunächst jedoch schauen wir verwirrt drein. Miss Neckermann fährt in einem Fahrzeug vor, das komisch aussieht. Anstatt des martialisch anmutenden Gefährts, mit dem Männer in tarnfarbenen Kampfanzügen fern ab von Straßen durch unwegsames Gelände brettern, kommt sie mit einem offenen, orangenen Auto daher das aussieht, als entstamme der Entwurf der Hand eines Dreijährigen. Länglicher, viereckiger Kasten, unten dran vier Räder, oben drauf ein leicht schräger Strich. Die Windschutzscheibe. Fehlen an sich nur noch ein paar verstrahlt lachende Blumenkinder. Letztere lassen nicht lange auf sich warten.
Argwöhnisch beäugen wir das Vehikel. Das Innenleben wirkt weniger unbekannt. Irgendwo um das Lenkgestänge herum ein paar Drähte, im Fußraum darunter die drei Pedale, Kupplung, Bremse und Gas, nicht weit davon entfernt der Griff der Feststellbremse, ziemlich mittig daneben zwischen Fahrer und Beifahrer eine Revolverschaltung. Wie die gesamte Ausstattung ist alles minimalistisch, schmucklos und funktional. Verkleidungen, Verzierungen, jeglicher Hauch an Komfort? Nichts dergleichen. Luxus. Überflüssiger Schnick-Schnack. Sucht man eine Armlehne, bleibt einem der Oberschenkel des Sitznachbarn. Gut hat es, wer hinten rechts sitzt. Er kann Grußhand wie zugehörige Elle auf dem Reservereifen ablegen.
Nicht großartig anders aus sieht es unter der Motorhaube. Rüdiger als gelernter KFZ-Mechaniker lässt es sich nicht nehmen, einen Blick unter die Frontklappe zu werfen. Was er sieht ist aufgeräumt und überschaubar. Als er den Deckel wieder zuschlägt, klappert Kunststoff auf Kunststoff. Rosten kann schlimmstenfalls das Fahrwerk.
„Quasi eine Ente. Ein 2CV."
Mit seiner Einschätzung liegt er richtig. Die Kreation stammt aus dem Hause Citroën. Seine Erbauer verliehen ihm die Bezeichnung Méhari. Renndromedar. Nun ja. Besser als Gepard. Das wäre vermessen. Letztendlich ist die Höchstgeschwindigkeit aber auch nicht das Thema. Wir sind weder angetreten, um möglichst schnell von A nach B zu gelangen, noch wäre es bei dem Fahrkomfort ein Vergnügen.
Unsere Exkursionsflotte besteht aus sieben Wüstenflitzern. Nach und nach sammeln wir deren Besatzungen ein an ihren Unterkünften. Als wir vollständig sind, haben wir Glück. Miss Neckermann quetscht sich zu uns in den Wagen und wir bilden die Speerspitze des Konvois. Profitieren tun wir davon in zweifacher Weise. Der erste Pluspunkt erschließt sich uns unmittelbar: wir können deutlich mehr vom Wissen der Inselkundigen absaugen als unsere Verfolger. Der zweite Vorteil wird erst nach und nach sichtbar – im wahrsten Sinne des Wortes. 1986 sind die meisten kleineren Wege noch nicht asphaltiert. Statt dessen sind sie Staub bedeckt. Wirbelt der auf, hinterlässt er eine Wolke, die sich erst langsam wieder setzt. Für uns gut zu beobachten im Rückspiegel. Beziehungsweise wenn wir anhalten. Mit jedem Stopp, den wir einlegen, wird es offensichtlicher. Die Position innerhalb unseres kleinen Verbandes ist quasi von den Windschutzscheiben der Fahrzeuge ablesbar. Ebenso von den Gesichtern und Oberteilen der Fahrzeuginsassen – wir sind reichlich auf Staub- und Holperpisten unterwegs.
Im Zick-Zack-Kurs geht es kreuz und quer über die Insel. Alle paar Minuten bleiben wir irgendwo stehen. Zum einen haben wir Miss Neckermann nicht exklusiv für uns gepachtet, zum anderen weiß sie zu allem etwas zu erzählen. Irgendwie will der Tag schließlich ausgefüllt sein. Vor dem größten Feigenbaum der Insel bekommen wir zu hören, warum dessen lebende Äste mit toten abgestützt werden, an einer Natursteinmauer erfahren wir, dass diese in ihrer ursprünglichen Form ganz ohne Kitt und Mörtel erbaut werden, an anderer Stelle wird unser Augenmerk darauf gerichtet, dass Ziegen mit zusammen gebundenen