Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Starship - Verloren im Weltraum
Starship - Verloren im Weltraum
Starship - Verloren im Weltraum
eBook334 Seiten4 Stunden

Starship - Verloren im Weltraum

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

VERLOREN IM WELTRAUM
Ein gigantisches Raumschiff driftet seit Jahrhunderten scheinbar ziellos durch Raum und Zeit. Allmählich haben Schlingpflanzen das Innere des Schiffs überwuchert und die Nachkommen der ursprünglichen Besatzung sind in primitive Strukturen zurückgefallen. Das Wissen um Technik, den Weltraum – ja sogar wer sie sind und woher sie kommen – ist in Vergessenheit geraten. Roy Complain ist einer der Bewohner des Schiffs. Als Roys Frau von einer verfeindeten Gruppe entführt wird, verlässt er das ihm bekannte Territorium. Auf seiner Suche trifft er nicht nur auf bizarre Lebensformen, sondern entdeckt Hinweise auf den Ursprung ihrer Mission…

Brian Aldiss Roman STARSHIP wurde erstmals 1958 veröffentlicht, und bezeichnet den Anfang der großen Karriere des berühmten Science Fiction Autor
SpracheDeutsch
HerausgeberMantikore-Verlag
Erscheinungsdatum7. Mai 2018
ISBN9783961880188
Starship - Verloren im Weltraum

Ähnlich wie Starship - Verloren im Weltraum

Ähnliche E-Books

Science-Fiction für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Starship - Verloren im Weltraum

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Starship - Verloren im Weltraum - Brian Aldiss

    verschlungen.

    TEIL EINS

    Quartier

    I

    Wie ein Radarecho, das von einem entfernten Objekt abprallt und zu seiner Quelle zurückkehrt, schien der Klang von Roy Complains pochendem Herz die Lichtung zu füllen. Er stand mit einer Hand am Türrahmen seiner Kammer und lauschte dem Rauschen, das durch seine Arterien hämmerte.

    »Na dann geh doch hinaus, wenn du gehen willst! Du hast gesagt, dass du gehen willst!«

    Der schrille Sarkasmus in der Stimme hinter ihm, Gwennys Stimme, trieb ihn auf die Lichtung hinaus. Er schlug die Tür zu, ohne zurückzublicken, knurrte leise aus tiefster Kehle und rieb dann schmerzhaft die Hände aneinander, als er versuchte, seine Beherrschung wiederzuerlangen. Genau das bedeutete das Leben mit Gwenny, den Streit, der aus dem Nichts entstand, und diese wahnsinnigen Wutanfälle, die wie eine Seuche aus seinem ganzen Wesen aufstiegen. Es konnte auch nie purer Zorn sein. Es war schmutziges Zeug und selbst an seinem Höhepunkt entging ihm nicht die Gewissheit, dass er bald zurückkommen, sich bei ihr entschuldigen und sich selbst erniedrigen würde. Complain brauchte seine Frau.

    So früh in der Wachzeit waren mehrere Männer in der Nähe. Später würden sie sich zerstreuen und ihren Beschäftigungen nachgehen. Eine Gruppe von ihnen saß auf dem Boden und spielte Travel-Up. Complain ging mit den Händen in den Hosentaschen zu ihnen hinüber und starrte missmutig zwischen ihren struppigen Köpfen durch. Das Spielbrett, das auf das Deck gemalt war, erstreckte sich doppelt so weit wie die ausgestreckten Arme eines Mannes. Darauf waren Zahlen und Symbole verteilt. Einer der Spieler beugte sich vor und bewegte ein Paar seiner Spielfiguren.

    »Auf Fünf ausflankiert«, sagte er mit einem triumphierenden Grinsen, blickte auf und zwinkerte Complain verschwörerisch zu.

    Complain wandte sich unbeteiligt ab. Für lange Abschnitte seines Lebens hatte ihn dieses Spiel auf beinahe unangebrachte Weise angezogen. Er hatte es gespielt, bis seine jugendlichen Beine vom Hocken knirschten und sich seine Augen kaum mehr auf die silbernen Spielsteine konzentrieren konnten. Auch andere, beinahe den gesamten Greene-Stamm, hatte Travel-Up in seinen Bann gezogen. Es schenkte ihnen ein Gefühl von Freiheit und Macht, das in ihrem Leben fehlte. Nun war Complain von diesem Bann befreit und vermisste dieses Gefühl. Wieder völlig von etwas eingenommen zu sein wäre gut.

    Er schlenderte missmutig die Lichtung hinunter und bemerkte die Türen auf jeder Seite kaum. Stattdessen ließ er den Blick über die Passanten schweifen, als würde er nach einem Zeichen suchen. Er sah, wie Wantage zu den Barrikaden hastete und instinktiv die missgebildete linke Hälfte seines Gesichts aus dem Blickfeld der anderen hielt. Wantage spielte nie auf dem langen Spielbrett: Er hielt es nicht aus, wenn sich Leute auf beiden Seiten von ihm befanden. Warum hatte ihn der Rat als Kind verschont? Im Greene-Stamm wurden viele missgebildete Kinder geboren, und nur das Messer erwartete sie. Als Jungen hatten sie Wantage »Narbengesicht« genannt, aber er war als Heranwachsender stark und wild geworden, was sie dazu brachte, sich ihm gegenüber toleranter zu verhalten: Ihre Schmähungen waren jetzt versteckter.

    Complain, der die Verschiebung von Ziellosigkeit zu Absicht kaum bemerkte, ging ebenfalls in Richtung der Barrikaden und folgte Wantage. Die besten Abteile, die natürlich der Nutzung durch den Rat vorbehalten waren, lagen hier unten. Eine der Türen wurde aufgerissen und Leutnant Greene selbst kam von zwei seiner Offiziere gefolgt heraus. Obwohl Greene jetzt ein alter Mann war, war er immer noch leicht reizbar, und sein schwankender Gang enthielt noch etwas von dem ungestümen Schreiten seiner Jugend. Seine Offiziere, Patcht und Zilliac, gingen hochmütig neben ihm, mit ihren Dolchen gut sichtbar an den Gürteln.

    Zu Complains großem Vergnügen geriet Wantage durch ihr plötzliches Erscheinen in solche Panik, dass er vor seinem Anführer salutierte. Es war eine armselige Geste, die beinahe seinen Kopf zu seiner Hand sinken ließ statt umgekehrt, was Zilliac mit einem garstigen Grinsen quittierte. Unterwürfigkeit war das allgemeine Los, obwohl der Stolz einen diese Tatsache nicht zugeben ließ. Als Complain damit an der Reihe war, an dem Trio vorbeizugehen, tat er es auf die übliche Weise, drehte seinen Kopf weg und starrte finster vor sich hin. Niemand sollte denken, dass er, ein Jäger, nicht jedem anderen Mann ebenbürtig wäre. Es stand in der Lehre: »Kein Mann ist niedriger gestellt, bis er das Bedürfnis verspürt, einem anderen Respekt zu erweisen.«

    Nachdem seine Laune nun besser war, holte er Wantage ein und legte letzterem eine Hand auf die linke Schulter. Wantage wirbelte in die andere Richtung und riss einen kurzen Fechtstock vor Complains Bauch. Er hatte eine agile Art sich zu bewegen, wie ein Mann, der von blanken Klingen umgeben ist. Die Spitze des Stocks ragte genau bis zu Complains Nabel.

    »Ganz locker, mein Hübscher. Grüßt du deine Freunde etwa immer so?«, fragte Complain und schob die Stockspitze weg. »Ich dachte … Expansion, Jäger. Warum bist du nicht draußen und holst Fleisch?«, fragte Wantage und ließ seinen Blick von Complain weg wandern.

    »Weil ich mit dir zu den Barrikaden hinuntergehe. Außerdem ist mein Topf voll und meine Steuern sind bezahlt. Ich habe keinen Bedarf an Fleisch.«

    Sie marschierten schweigend weiter, wobei Complain versuchte, auf die linke Seite des anderen zu kommen und der andere seine Versuche abblockte. Complain achtete darauf, es nicht zu weit zu treiben, damit sich Wantage nicht auf ihn stürzte. Gewalt und Tod waren im Quartier pandemisch und bildeten mit der hohen Geburtenrate ein natürliches Gleichgewicht, aber niemand stirbt gerne im Namen der Symmetrie.

    In der Nähe der Barrikaden war der Korridor überlaufen. Wantage murmelte, dass er Putzarbeiten zu erledigen hatte, und schlüpfte durch die Menge fort. Er ging nahe an der Wand, stocksteif, und in seinen Schritten lag eine Art verbitterter Würde.

    Die vordere Barrikade bestand aus einer hölzernen Trennwand mit einem Tor darin, die den Korridor vollständig blockierte. Zwei Wachen waren dort ständig postiert. Dort endete das Quartier und das Labyrinth des hydroponischen Dschungels begann. Aber die Barrikade war eine temporäre Struktur, weil ihre Position selbst Veränderungen unterworfen war.

    Der Greene-Stamm lebte halbnomadisch und war wegen seiner Unfähigkeit, ausreichend Getreide anzubauen oder Vieh zu züchten, häufig dazu gezwungen, zu neuen Orten weiterzuziehen. Das erreichte man, indem man die vordere Barrikade weiterschob und die hintere am anderen Ende des Quartiers um ein entsprechendes Stück nachzog. Dies erlaubte dem hydroponischen Dschungel, der vor ihnen angegriffen und zerstört wurde, hinter ihnen wieder zu wachsen. Der Stamm arbeitete sich langsam seinen Weg durch die endlosen Korridore wie eine Made durch einen fauligen Apfel.

    Jenseits der Barrikade arbeiteten Männer energisch, hackten die hohen hydroponischen Stämme nieder, sodass der essbare Saft, Miltex, über ihren Klingen herausspritzte. Nachdem man sie gefällt hatte, wurden die Stämme umgedreht, um so viel Saft wie möglich aufzubewahren. Dieser würde ihnen entzogen und die hohlen Stämme würden getrocknet, auf Standardmaße geschnitten und schließlich für eine Vielzahl an Zwecken benutzt. Zusätzlich zu den eifrigen Klingen wurden andere Pflanzenteile ebenfalls geerntet: die Blätter zur medizinischen Nutzung, die jungen Schösslinge als Delikatessen, die Samen für verschiedene Zwecke, als Nahrung, als Knöpfe, als loser Ballast in der Quartier-Version von Tamburinen, als Spielsteine für die Travel-Up-Bretter, als Spielzeug für Säuglinge (weil sie so groß waren, dass sie nicht in deren alles prüfende Münder passten).

    Die härteste Aufgabe bei der Arbeit, Hydrokulturen zu lichten, war das Zerhacken der miteinander verwobenen Wurzelstruktur, die wie ein stählernes Netz unter dem Kies lag, während sich ihre tieferen Enden weit ins Deck gruben. Während es weggehackt wurde, schaufelten andere Männer den Humus mit Spaten in Säcke. Hier war der Humus besonders tief, beinahe ein halber Meter davon überzog das Deck: ein Beweis, dass diese Region unerforscht war und sich kein anderer Stamm je hier durchgearbeitet hatte. Die gefüllten Säcke wurden zurück zum Quartier getragen, wo sie geleert wurden, um neue Felder in neuen Zimmern zu schaffen.

    Eine weitere Gruppe Männer war auch vor der Barrikade an der Arbeit, und diese beobachtete Complain mit besonderem Interesse. Sie hatten einen höheren Rang als die anderen Anwesenden. Es waren Wachen, die nur aus den Jägern rekrutiert wurden, und es bestand die Möglichkeit, dass Complain eines Tages vielleicht, durch Glück oder Beziehungen, in diese beneidenswerte Klasse aufstieg.

    Als die beinahe lückenlose Wand aus Dschungel zurückgedrängt worden war, kamen Türen zum Vorschein, die den Betrachtern ihre schwarzen Oberflächen präsentierten. Die Räume hinter diesen Türen würden Geheimnisse hervorbringen: tausend seltsame Objekte, nützlich, nutzlos oder bedeutungslos, welche einst im Besitz der verschwundenen Rasse der Riesen gewesen waren. Die Pflicht der Wachen war es, diese uralten Grabkammern aufzubrechen und sich zum Wohl des Stammes, also ihrer selbst, anzueignen, was auch immer darin lag. Nach angemessener Zeit würde die Beute verteilt oder zerstört, je nach Laune des Rats. Vieles, was auf diese Weise im Quartier ans Licht kam, wurde von den Offizieren für gefährlich erklärt und verbrannt.

    Die Aufgabe, diese Türen zu öffnen, war nicht ohne Risiken, eingebildet oder gar real. Im Quartier gab es Gerüchte, dass andere kleine Stämme, die auch in den Dschungelgängen ums Überleben kämpften, einfach verschwunden seien, nachdem sie solche Türen geöffnet hätten. Mittlerweile war Complain nicht mehr der einzige, der von der ewigen Faszination erfasst wurde, Menschen bei der Arbeit zu beobachten. Mehrere Frauen, jede mit einer reichlichen Menge Kinder, standen an der Barrikade und waren der Prozession aus Humus- und Pflanzenträgern im Weg. Zum ständigen leisen Summen von Fliegen, von dem das Quartier nie frei war, fügte sich das Geplapper junger Stimmen, und zu diesem Chor schlugen die Wachen die nächste Tür ein. Einen Augenblick herrschte Schweigen, in welchem selbst die Arbeiter innehielten, um halb verängstigt in Richtung der Öffnung zu starren.

    Der neue Raum war eine Enttäuschung. Er enthielt nicht einmal das Skelett eines Riesen, das ihn erschreckt oder fasziniert hätte. Es war nur ein kleiner Lagerraum, in dem Regale aufgereiht waren, die kleine Tütchen enthielten. Die kleinen Tütchen waren voller verschiedenfarbiger Pulver. Ein Hellgelbes und ein Violettes fielen nach unten und rissen, sodass sie auf dem Deck zwei Häufchen und in der Luft zwei sich mischende Wolken bildeten. Schreie und Freude bei den Kindern, die selten so viel Farbe sahen, ließen die Wachen harsche Befehle rufen und damit beginnen, ihre Entdeckungen fortzubringen, wofür sie eine Menschenkette zu einem Karren hinter der Barrikade bildeten.

    Complain wurde sich eines vagen Gefühls der Ernüchterung bewusst und schlenderte fort. Vielleicht würde er doch noch jagen gehen.

    »Aber warum ist da Licht im Dschungel, wenn niemand dort ist, der es braucht?« Die Frage drang über den allgemeinen Lärm zu Complain durch. Er drehte sich um und sah, dass der Fragensteller einer von mehreren kleinen Jungen war, die sich um einen großen Mann scharten, der in ihrer Mitte hockte. Ein oder zwei Mütter standen daneben, lächelten gnädig und fächelten mit den Händen müßig die Fliegen fort.

    »Es muss Licht geben, damit die Pflanzen wachsen können, genau wie du nicht in der Finsternis leben könntest«, kam die Antwort an den Jungen. Complain sah, dass der Sprecher Bob Fermour war, ein träger Kerl, der nur für die Arbeit in den Feldräumen geeignet war. Er war gesellig – eher mehr, als die Lehre gänzlich guthieß – und deshalb bei den Kindern beliebt. Complain erinnerte sich, dass Fermour den Ruf hatte, ein Geschichtenerzähler zu sein, und plötzlich wollte er sich gerne ablenken lassen. Ohne seinen Zorn war er leer.

    »Was war hier, bevor die Hydroponik hier war?«, wollte ein kleines Mädchen wissen. Auf ihre ungeübte Art versuchten die Kinder, Fermour dazu zu bringen, mit einer Geschichte anzufangen.

    »Erzähl ihnen die Geschichte über die Welt, Bob!«, riet ihm eine Mutter.

    Fermour sah belustigt zu Complain hoch.

    »Beachte mich nicht«, sagte Complain. »Theorien sind unbedeutender als Fliegen für mich.« Die Befehlshaber des Stammes ermutigten keine theoretischen Überlegungen oder irgendwelche Denkweisen, die nicht streng praktisch waren. Deshalb zögerte Fermour.

    »Also, das ist alles geraten, weil wir keine Aufzeichnungen darüber haben, was auf der Welt passierte, bevor der Greene-Stamm existierte«, sagte Fermour. »Oder, wenn wir Aufzeichnungen finden, dann ergeben sie nicht viel Sinn.« Er warf einen scharfen Blick auf die Erwachsenen in seinem Publikum, ehe er hastig anfügte: »Weil es wichtigere Dinge gibt, als sich den Kopf über alte Legenden zu zerbrechen.«

    »Wie ist die Geschichte über die Welt, Bob? Ist sie spannend?«, fragte ein Junge ungeduldig.

    Fermour strich den Pony des Jungen von dessen Augen weg und sagte ernst: »Es ist die spannendste Geschichte, die es überhaupt geben kann, weil es darin um uns geht und wie wir leben. Jetzt ist die Welt ein wundervoller Ort. Sie ist aus Schichten und Schichten an Decks wie diesem hier aufgebaut, und diese Schichten enden nicht, weil sie schließlich wieder im Kreis zu sich selbst zurückführen. Also könnte man immer und immer weitergehen und würde nie das Ende der Welt erreichen. Und all diese Schichten sind mit geheimnisvollen Orten gefüllt, manche gut, manche böse, und all diese Korridore sind mit hydroponischen Dschungeln zugewachsen.«

    »Was ist mit den Bugwärtsleuten?«, fragte der Junge. »Haben sie grüne Gesichter?«

    »Zu ihnen kommen wir jetzt«, sagte Fermour und sprach leiser, sodass sich sein jugendliches Publikum dichter um ihn drängte. »Ich habe euch erzählt, was passiert, wenn man sich an die lateralen Korridore der Welt hält. Aber wenn man es auf den Hauptkorridor schafft, kommt man auf einen breiten Weg, der einen direkt in entfernte Teile der Welt bringt. Und dann kommt man vielleicht ins Territorium von Bugwärts.« »Haben sie wirklich alle zwei Köpfe?«, fragte ein kleines Mädchen.

    »Natürlich nicht«, sagte Fermour. »Sie sind zivilisierter als unser kleiner Stamm« – wieder sah er seine erwachsenen Zuhörer prüfend an – »aber wir wissen wenig über sie, weil zwischen ihrem Land und unserem viele Hindernisse liegen. Es muss die Pflicht von euch allen sein, wenn ihr aufwachst, zu versuchen, mehr über unsere Welt herauszufinden. Denkt daran, dass es viel gibt, das wir nicht wissen, und dass es vielleicht außerhalb unserer Welt andere Welten gibt, die wir uns im Moment nicht vorstellen können.«

    Die Kinder wirkten beeindruckt, aber eine der Frauen lachte und sagte: »Das wird ihnen ja sehr viel nützen, wenn sie über etwas nachdenken, von dem niemand weiß, ob es existiert.« Im Geiste stimmte Complain ihr zu, als er wegging. Momentan waren viele von diesen Theorien im Umlauf, alle unterschiedlich, alle beunruhigend, und keine wurde von den Machthabern ermutigt. Er fragte sich, ob es seinen Status verbessern würde, Fermour zu verpfeifen, aber leider ignorierten alle Fermour – er war zu langsam. Erst in der letzten Wachzeit hatte man ihn für Faulheit in den Feldräumen öffentlich verprügelt.

    Complains unmittelbares Problem war, ob er jagen gehen sollte. Eine Erinnerung daran, wie oft er in letzter Zeit so ruhelos umhergewandert war, zur Barrikade und zurück, erwischte ihn unvorbereitet. Er ballte die Fäuste. Die Zeit verstrich, es gab keine Gelegenheiten, und immer fehlte etwas, etwas fehlte. Wieder – wie er es seit seiner Kindheit getan hatte – grub Complain wie wild in seinem Gehirn, suchte nach etwas, das dort zu sein versprach und es nicht war, niemals. Düster spürte er, dass er sich – allerdings recht unfreiwillig – auf eine Krise vorbereitete. Es war, als würde sich ein Fieber zusammenbrauen, aber es würde schlimmer sein als das.

    Er rannte los. Sein Haar, lang und glänzend schwarz, fiel über seine geweiteten Augen. Sein Gesichtsausdruck war verstört. Normalerweise wies sein junges Gesicht kräftige und ansehnliche Linien auf unter einer leichten Rundlichkeit. Das Kinn war markant, der geschlossene Mund heroisch. Doch darüber lag eine vernichtende Verbitterung, und diesen Ausdruck der Verzweiflung hatte fast der gesamte Stamm gemeinsam. Es war ein weiser Teil der Lehre, der besagte, dass kein Mann einem anderen direkt in die Augen sehen sollte.

    Complain rannte fast blindlings, während Schweiß über seine Stirn strömte. Schlafzeit oder Wachzeit, es war im Quartier ständig warm, und man kam leicht ins Schwitzen. Niemand, an dem er vorbeikam, sah ihn interessiert an. Im Stamm rannten viele sinnlos herum, viele Männer flohen vor inneren Geistern. Complain wusste nur, dass er zurück zu Gwenny musste. Frauen besaßen den magischen Trank des Vergessens.

    Sie stand unbewegt mit einer Teetasse in der Hand da, als er in ihr Abteil stürzte. Sie gab vor, ihn nicht zu bemerken, aber ihre gesamte Haltung veränderte sich und die schmalen Züge in ihrem Gesicht spannten sich an. Sie war kräftig gebaut, ihr stämmiger Körper bildete einen Kontrast zu ihrem hageren Gesicht. Diese Stärke schien jetzt betont zu werden, als würde sie sich für einen körperlichen Angriff bereitmachen.

    »Schau nicht so, Gwenny. Ich bin nicht dein Todfeind.« Das war nicht das, was er hatte sagen wollen, und auch sein Tonfall war nicht versöhnlich genug, aber ihr Anblick entfachte wieder etwas von seinem Zorn.

    »Doch, du bist mein Todfeind!«, sagte sie spitz und sah immer noch weg. »Niemanden hasse ich so wie dich.«

    »Dann gib mir einen Schluck von deinem Tee und wir hoffen beide, dass der mich vergiftet.«

    »Ich wünschte, das würde er«, sagte sie giftig und reichte ihm die Tasse.

    Er kannte sie gut genug. Ihr Zorn war nicht wie seiner. Seiner musste sich langsam legen, ihrer war da, dann verschwunden. Sie machte Liebe mit ihm, Augenblicke, nachdem sie ihn ins Gesicht geschlagen hatte. Und dann machte sie am besten Liebe.

    »Kopf hoch«, sagte er. »Du weißt, dass wir wie üblich über Nichtigkeiten gestritten haben.«

    »Nichtigkeiten! Ist Lidya nichts? Nur, weil sie bei der Geburt starb … unser einziges kleines Baby, und du nennst sie Nichtigkeit.«

    »Besser, wenn ich sie Nichtigkeit nenne, als wenn ich sie als Waffe gegen dich nutze, hm?« Als Gwenny die Tasse wieder nahm, ließ er eine Hand an ihrem nackten Arm entlanggleiten und steckte seine Finger geschickt in den Ausschnitt ihrer Bluse.

    »Hör auf!«, schrie sie und wehrte sich. »Sei kein solches Ekel! Ist das alles, woran du denken kannst, selbst wenn ich gerade mit dir spreche? Lass mich gehen, du abscheuliche Bestie.«

    Aber das tat er nicht. Stattdessen legte er den anderen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Sie versuchte ihn zu treten. Er trat einfach mit einem Knie hinter ihres und sie stürzten zu Boden. Als er sein Gesicht näherschob, versuchte sie ihn in die Nase zu beißen.

    »Nimm deine Hände weg!«, japste sie.

    »Gwenny … Gwenny, komm schon, Süße«, neckte er sie.

    Ihre Haltung veränderte sich abrupt. Die hagere Wachsamkeit, die auf ihrem Gesicht lag, wandelte sich und es wirkte mit einem Mal verträumt.

    »Nimmst du mich danach mit auf die Jagd?«

    »Ja«, sagte er. »Alles, was du willst.«

    Was Gwenny wollte oder nicht wollte hatte aber wenig Auswirkungen auf den unaufhaltsamen Lauf der Ereignisse. Zwei Mädchen, Ansa und Daise, die entfernte angeheiratete Verwandte von Gwenny waren, kamen außer Atem herein und sagten, dass sich der Zustand ihres Vaters, Ozbert Bergass, verschlechtert hätte und er nach ihr fragen würde. Er war vor einer Schlaf-Wachzeit an der Schleichenden Fäulnis erkrankt und Gwenny war bereits einmal in seiner entfernten Wohnung gewesen, um ihn zu besuchen.

    Man vermutete, dass er nicht lange durchhalten würde. Menschen, die im Quartier krank wurden, hielten selten lange durch.

    »Ich muss zu ihm gehen«, sagte Gwenny. Die Unabhängigkeit, in der Kinder von ihren Eltern leben mussten, wurde im Fall schwerer Krisen gelockert. Das Gesetz erlaubte Besuche am Krankenbett.

    »Er war ein großer Mann im Stamm«, sagte Complain ernst. Ozbert Bergass war viele Schlaf-Wachzeiten oberster Führer gewesen, und sein Verlust wäre spürbar. Trotzdem bot Complain nicht an, seinen Schwiegervater besuchen zu gehen. Sentimentalität war eine der Schwächen, die der Greene-Stamm auszurotten versuchte. Stattdessen ging er, als Gwenny fort war, zum Markt hinunter, um Ern Roffery, den Wertschätzer, zu treffen und den gängigen Fleischpreis zu erfragen.

    Auf dem Weg kam er an den Gehegen vorbei. Sie waren besser mit Tieren gefüllt als je zuvor. Die domestizierten Tiere waren gesünder und zarter als die wilden, die die Jäger fingen.

    Roy Complain war kein Denker, und so kam es ihm vor, als gäbe es hier ein Paradox, das er sich selbst nicht erklären konnte. Nie zuvor war der Stamm so wohlhabend gewesen oder war sein Bauernhof so gut gelaufen. Der niedrigste Arbeiter aß einmal in vier Schlaf-Wachzeiten Fleisch. Doch Complain selbst war weniger wohlhabend als früher. Er jagte mehr, fand aber weniger und bekam dafür weniger. Mehrere Jäger, die dasselbe erlebten, hatten die Jagd bereits aufgegeben und sich andere Arbeit gesucht.

    Complain schrieb den schlechteren Lauf seiner Geschäfte einfach einem Groll zu, den der Wertschätzer Roffery gegen den Jägerclan hegte, weil dieser unfähig war, die niedrigeren Preise, die Roffery für Wildfleisch erlaubte, in Anbetracht des Reichtums an domestizierten Tieren zu akzeptieren.

    Folglich schob er sich durch die Menge auf dem Markt und grüßte den Wertschätzer auf missmutige Weise.

    »‘pansion an dein Ego«, sagte er grimmig.

    »Gleichfalls«, antwortete der Wertschätzer freundlich und blickte von einer gewaltigen Liste auf, die er peinlich genau zusammenstellte. »Laufendes Fleisch ist heute weniger wert, Jäger. Ich nehme einen Kadaver in guter Größe, um sechs Laib zu verdienen.«

    »Verdammte Eingeweide! Und du hast mir letztes Mal, als ich dich sah, erzählt, dass Weizen weniger wert sei, du verlogener Bandit.«

    »Bleib bei zivilisierten Worten, Complain. Dein eigener Kadaver ist für mich keinen Krümel wert. Also sagte ich dir, Weizen sei billiger. Er ist billiger – aber Wildfleisch ist noch weniger wert.«

    Der Wertschätzer zupfte an seinem langen Schnauzbart und brach in Gelächter aus. Mehrere andere Männer, die schweigend in der Nähe standen, lachten ebenfalls. Einer von ihnen, ein kräftiger, stinkender Kerl namens Cheap, hatte einen Haufen Dosen dabei, die er auf dem Markt eintauschen wollte.

    Mit einem wilden Tritt ließ Complain die Dosen fliegen. Vor Zorn brüllend hastete Cheap hinterher, um sie aufzusammeln, und musste kämpfen, um sie von anderen zurückzubekommen, die sie bereits schnappten. Daraufhin lachte Roffery noch lauter, aber die Art seines Humors hatte sich verändert und stand nicht länger gegen Complain.

    »In Bugwärts wärst du schlechter dran«, sagte er tröstend. »Dort sind sie ein Volk der Wunder. Schaffen Tiere, die von ihrem Atem essen, und fangen sie in der Luft, das tun sie wirklich. Sie brauchen überhaupt keine Jäger.«

    Er schlug wild nach einer Fliege, die sich auf seinen Hals setzte. »Und sie haben den Fluch der fliegenden Insekten gebrochen.«

    »Blödsinn!«, sagte ein alter Mann, der in der Nähe stand.

    »Widersprich mir nicht, Eff«, sagte der Wertschätzer. »Nicht, wenn dir deine alten Tage mehr als nur Mist wert sind.«

    »Aber es ist Blödsinn«, sagte Complain. »Wer wäre dumm genug, um sich einen Ort ohne Fliegen vorzustellen?«

    »Ich kann mir einen Ort ohne Complains vorstellen«, brüllte Cheap, der seine Dosen jetzt aufgesammelt hatte und vor Wut kochend an Complains Schulter stand. Sie sahen einander an und machten sich auf Ärger gefasst.

    »Na los, verdrisch ihn«, rief der Wertschätzer Cheap zu. »Zeig ihm, dass ich keine Jäger mag, die meine Geschäfte unterbrechen.«

    »Seit wann ist ein Dosensammler im Quartier mehr wert als ein Jäger?«, fragte der alte Mann namens Eff. »Ich warne euch, für diesen Stamm kommt eine schlimme Zeit. Ich bin nur dankbar, dass ich nicht mehr hier sein werde, um sie zu erleben.«

    Verächtliches Brummen für den alten Mann und Widerspruch gegen seinen Eindruck regte sich auf allen Seiten. Complain war die Gesellschaft plötzlich leid, drückte sich fort und ging weiter. Er stellte fest, dass der alte Mann ihm folgte, und nickte ihm misstrauisch zu.

    »Ich kann es alles sehen«, sagte Eff, der offensichtlich begierig war, seine düstere Prophezeiung fortzusetzen. »Wir werden verweichlicht. Bald wird sich niemand mehr die Mühe machen, das Quartier zu verlassen oder die Hydroponik zu lichten. Es wird

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1