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Mundus Perditus: Die vergessene Welt
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Mundus Perditus: Die vergessene Welt
eBook457 Seiten5 Stunden

Mundus Perditus: Die vergessene Welt

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Über dieses E-Book

Nicht jedes Märchen sollte wahr werden …

In der Innenstadt von New Rise City taucht aus dem Nichts ein mysteriöser Wald auf, der alles Leben vernichtet. Die Polizistin Vernita wagt sich am Einsatzort entgegen der Vorschrift in das unheimliche Dickicht, denn etwas darin scheint sie anzulocken. Plötzlich steht sie einem Mädchen mit rotem Umhang gegenüber, das sich als Rotkäppchen ausgibt. Bevor Vernita verstehen kann, was vor sich geht, wird sie angegriffen und erwacht erst drei Tage später wieder im Krankenhaus.
New Rise City hat sich in der Zwischenzeit in einen leibhaftigen Albtraum verwandelt. Menschen sterben auf grausame und brutale Weise, unerklärliche Vorkommnisse häufen sich, die alle in Verbindung mit Märchenfiguren stehen. In diesem Chaos trifft sie auf Ruiz, einen Wächter aus der vergessenen Welt, und erfährt schließlich Unglaubliches – Dämonen existieren wirklich und Vernita ist die Einzige, die sie aufhalten kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberEisermann Verlag
Erscheinungsdatum24. Aug. 2018
ISBN9783961730094
Mundus Perditus: Die vergessene Welt
Autor

Carmen Gerstenberger

Carmen Gerstenberger, 1977 hat nicht nur der erste Star Wars Film das Licht der Welt erblickt, sondern auch meine Wenigkeit. Sowohl die Leidenschaft für die Sternenkrieger, als auch die Liebe zu SciFi- und Fantasygeschichten haben mich ein Leben lang mit Begeisterung erfüllt. Ob als Leser oder Autor - sich fallen zu lassen und in fremde Welten abzutauchen ist einfach unbeschreiblich. Im November 2014 hat sich mit der Veröffentlichung meines ersten Romans ein großer Traum erfüllt. In Esslingen am Neckar geboren, lebe ich mit meinem Mann und unseren zwei Kindern noch immer in einem kleinen Ort in der Nähe im schönen Schwabenländle.

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    Buchvorschau

    Mundus Perditus - Carmen Gerstenberger

    immer.

    Aus den Aufzeichnungen der Hüter

    Das Universum ist ewig und vollkommen. Es hat keinen Anfang und kein Ende.

    Einst erschuf es das Leben, das trotz jeglicher Widerstände seinen Weg fand. Und die Menschheit erblühte, wuchs und gedieh, unwissend, welche Kreaturen neben ihnen existierten. Denn wo es Gutes gab, benötigte es das Böse als Ausgleich für alles Sein.

    Einzig durch einen dünnen magischen Schleier von unserer Welt getrennt, gab es einen Ort für jene, deren seelenlose Grausamkeit keine Grenzen kannte – die vergessene Welt. Dämonen und ihresgleichen warteten dort seit Urgedenken auf ihren Tag der Befreiung.

    Die Magie des Kosmos kreierte jedoch die Hüter, Menschen mit magischen Fähigkeiten, deren einzige Aufgabe der Schutz und Erhalt der Menschheit war. Stets gelang es vereinzelten Schatten, in unsere Welt vorzudringen, und Legenden und Märchen über die Wesen der immerwährenden Nacht entstanden. Für die Menschen waren sie lediglich ein Bestandteil ihrer Albträume, doch sie waren real.

    Vor langer Zeit gelang es ihnen, den Schleier zu durchbrechen. Die Bestien wüteten auf der Erde, brachten Tod und Verderben über die Menschen herein und löschten sie beinahe aus. Das Antlitz des Bösen hatte viele Gesichter, in die Geschichte dieser Welt ging es jedoch ein als Schwarzer Tod. Unter dem Mantel der ersten Pestwelle nahmen sich die Dämonen jede arme Seele, die ihren Weg kreuzte. Sie wollten, was ihnen ihrer Meinung nach zustand – die Herrschaft über die Erde.

    Schließlich gelang es der Hüterin mithilfe der magischen Kräfte ihrer Ahnen, das Grauen zu besiegen. Sie rettete den Fortbestand unserer Existenz und schloss den Zutritt zu unserer Welt.

    Die Kreaturen mussten jedoch ebenfalls fortleben, um das Gleichgewicht des Universums zu erhalten. Also erzeugten die Hüter ein magisches Buch und bannten die überlebenden Wesen darin, dazu verdammt, nie wieder Wirklichkeit werden zu dürfen. Getarnt als Märchenbuch, gekennzeichnet für jene, die verstanden, wurden die Dämonen im Liber Malorum zu gedruckten Geschichten in einer längst vergessenen Sprache, die sich beständig veränderte und dem Lauf der Zeit anpasste.

    Heute, Jahrhunderte später, sind sie nichts weiter als ein Relikt aus einer vergangenen Ära. Für alle Ewigkeit begraben zwischen alten Zeilen in einem Geschichtenbuch. Geformt zu Märchen aus unserer Zeit, die nicht mehr gelesen werden. Vergilbtes Papier, das dem Verfall überlassen wurde.

    Die Reihen der Hüter indessen lichteten sich, bis es letztlich nur noch eine Blutlinie gab. Sie wurde von Generation zu Generation weitervererbt, ohne dass die Erben davon wussten, denn man brauchte sie nicht mehr. Die Magie war erstarrt, ruhte in Zeiten des Friedens und schien ebenso vergessen wie das Liber Malorum.

    Bis zu jenem Tag, an dem das Böse erneut auf die Welt losgelassen wurde.

    1

    New Rise City,

    Städtische Bibliothek

    »Ich weiß wirklich nicht, warum wir das machen müssen, die uralten Dinger liest doch sowieso keiner mehr.« Missmutig sah der Angestellte auf das Buch vor sich hinab.

    »Sie arbeiten in einer Bibliothek. Wenn Sie keine Liebe für das geschriebene Wort aufbringen können, dann sind Sie hier fehl am Platz«, erwiderte sein Vorgesetzter sichtlich verärgert.

    »Es tut mir leid, so war das nicht gemeint. Es ist nur … warum sollen wir unsere Zeit damit vergeuden, Bücher einzuscannen, die seit Jahrhunderten schon keiner mehr gelesen hat? Sie lagen all die Jahrzehnte vergessen in Kisten im Keller, niemand hat nach ihnen gefragt. Die meisten sind in Latein oder Altgriechisch verfasst, das versteht doch heutzutage ohnehin keiner mehr.«

    »Wir tun das, um den Menschen das vergessene Wissen wieder näherzubringen. Diese Bücher sind die einzigen Exemplare, die existieren. Völlig gleich, in welcher Sprache sie verfasst wurden – indem wir sie einscannen, erhalten wir ihren Inhalt für die Nachwelt. In der heutigen modernen Welt wird digitales Lesen zu meinem Leidwesen bevorzugt und wir können uns dem nicht länger verschließen. Daher machen wir all die Schätze aus längst vergangenen Tagen für jedermann zugänglich. Ich hoffe, ich muss mich nicht noch einmal erklären, denn ansonsten werde ich mir für diese Arbeit jemand anderen suchen.«

    »Natürlich, bitte verzeihen Sie.«

    Der Angestellte zog das Buch näher heran, doch bevor er es öffnen konnte, legte sich die Hand seines Chefs darauf, der sich mit ernstem Gesicht zu ihm beugte. »Gehen Sie sehr sorgsam damit um. Ich möchte, dass Sie innerhalb von drei Tagen immer nur ein Kapitel einscannen, damit der Schaden an dem alten Papier so gering wie möglich gehalten wird. Ein Kapitel, verstanden?«

    »Natürlich.«

    Der Vorgesetzte erhob sich wieder und blickte sich in dem mit alten Truhen und Kisten vollgestopften Raum um. »Wie ich sehe, werden Sie ohnehin genug zu tun haben in nächster Zeit. Ich lasse Sie nun wieder allein und schaue später noch einmal nach dem Rechten.«

    Schulterzuckend fuhr der Angestellte mit seiner Arbeit fort. »Bitte schön, dann halten wir diesen alten Käse eben für die Nachwelt fest, als ob die im Zeitalter von Game of Thrones und Fifty Shades Interesse an lateinischem Wirrwarr hätten. Mir egal, Hauptsache, die Kohle stimmt.« Als die Finger seiner rechten Hand den alten Ledereinband des nächsten Buches berührten, kribbelten die empfindlichen Kuppen kurz auf, doch ehe er darüber nachdenken konnte, war es auch schon vorbei. »Na gut, dann wollen wir dich mal in dein digitales Gefängnis verfrachten, du Liber Malorum, was auch immer in dir stehen mag. Gib mir dein erstes Kapitel, dann darfst du wieder schlafen.« Vergnügt pfeifend, konzentrierte er sich auf seinen Computerbildschirm, während der Scanner die ersten Worte einsog.

    2

    Und lauf nicht vom Weg ab …

    Ein wenig zu hastig eilte Vernita an den wartenden Menschen neben der Kaffeeausgabeschlange des Bistros vorbei und drängte sich zwischen ihnen zu dem Tisch hindurch, an dem ihre Freundinnen saßen. »Sorry, Mädels, ich bin zu spät, Big D bestand darauf, unbedingt kurz vor der Mittagspause den Einsatzplan für morgen erneut durchzugehen.« Keuchend schälte sie sich aus ihrem Mantel und ließ sich auf den einzigen noch freien Stuhl plumpsen.

    »Wenn er je mitbekommt, dass du ihn großen Teufel nennst, frisst er dich bei lebendigem Leib.« Jenna stopfte sich grinsend ein nicht gerade mundgerechtes Blatt Salat in den Mund.

    »Bist du wieder gerannt? Du kriegst noch ’nen Herzinfarkt von so viel Sport.« Lächelnd nippte Eyris an ihrem Proteinshake, woraufhin Vernita angewidert den Mund verzog.

    »Machst du wieder mal eine Diät?«

    »Ich möchte nicht darüber reden.«

    »Du solltest dir wirklich einen neuen Job suchen«, warf Jenna kauend ein. »Der Polizeidienst ist viel zu gefährlich für so ein Fliegengewicht wie dich.«

    »Willst du dir nicht etwas zu essen bestellen? Etwas Fettiges, mit viel Kalorien?« Eyris sah sie hoffnungsvoll an.

    Kopfschüttelnd winkte Vernita den Kellner herbei, um einen doppelten Cappuccino zu ordern.

    »Schatz, Koffein ist nicht unbedingt das, was du momentan brauchst«, sagte Eyris mahnend. »Oder schläfst du wieder besser?«

    »Nein, es ist eher schlimmer geworden«, erwiderte Vernita leise. Bereits als Kind hatte sie mit schweren Migräneanfällen kämpfen müssen, die ihr im Lauf ihrer fünfundzwanzig Jahre zu ihrem Leidwesen erhalten geblieben waren. Seit etwa zwei Wochen kamen die Attacken jedoch häufiger, was ungewöhnlich war. Die Schmerztabletten, die stets ihre einzige Rettung waren, halfen zudem kaum noch. Neu waren auch die Albträume, die sie seit etwa demselben Zeitraum plagten, sodass sie nicht wusste, wann sie das letzte Mal richtig durchgeschlafen hatte. Vernita fühlte sich permanent erschöpft und ausgelaugt, als hätte sie schwere körperliche Arbeit verrichtet, doch sie schob es auf die zunehmenden Einsätze in den letzten Tagen. Es hieß ja bekanntlich, das Verbrechen schlafe nie, doch es schien auf Speed zu sein. Die Kriminalitätsrate war auf ein ungewöhnliches Niveau angestiegen.

    »Die Träume?«, fragte Jenna sanft.

    »Sie machen mich wahnsinnig. Ich habe Horrorfilme schon immer gehasst. Warum zur Hölle träume ich nur auf einmal von all diesen schaurigen Wesen?« Vernita atmete tief durch und ließ die Schultern sacken. Mancher Traum erschien ihr so realistisch, dass sie die Angst nach dem Erwachen nicht immer unter Kontrolle bekam. Seit einigen Tagen schlief sie nur noch mit Licht, nachdem sie von einem Monster, dass nur aus Zähnen und Klauen zu bestehen schien, in Stücke gerissen worden war. Diese Kleinigkeit erwähnte sie ihren Freundinnen gegenüber jedoch lieber nicht.

    »Vielleicht ist das auch nur der Wink mit dem Zaunpfahl, dass du dir endlich einen Kerl suchen sollst, der dich auf andere Gedanken bringt, falls du weißt, was ich meine.« Grinsend zwinkerte Eyris ihr zu und Vernita verdrehte lächelnd die Augen.

    »Ihr seid doch irre«, murmelte sie, während sie irritiert bemerkte, dass der Lärmpegel um sie herum in dem Bistro zunahm. Die Gäste steckten die Köpfe zusammen und sahen erschrocken auf ihre Handys. Immer wieder blickten sie sich ungläubig an und Vernita versuchte neugierig, etwas von den Wortfetzen mitzubekommen.

    »Hallo? Hast du mir zugehört?«

    Entschuldigend schaute sie Eyris an. »Da scheint etwas passiert zu sein«, sagte sie und nickte hinüber zu den inzwischen teilweise aufgestandenen Gästen, die nach und nach, das Telefon ans Ohr haltend, hektisch hinausrannten und ziemlich erschrocken aussahen. In dem kleinen Raum verstand man das eigene Wort kaum noch. »Verzeihung, wissen Sie, was los ist?«, fragte sie die Bedienung, die gerade ihre Bestellung brachte.

    »Haben Sie es denn nicht mitbekommen? In der Innenstadt ist vor etwa fünfzehn Minuten ein Wald aufgetaucht.«

    »Wie meinen Sie das, da ist ein Wald aufgetaucht?« Verstört strich sie sich ihre kupferroten langen Haare zurück und kniff ihre grünen Augen zusammen. Wollte er sie etwa auf den Arm nehmen?

    »Haben Sie kein Handy?« Er wandte sich um und rief der Frau hinter der Theke zu: »Selma, wirf die Glotze an und such die Nachrichten!« Dann sah er wieder zu Vernita. »Ein Wald. Mitten in der Stadt. Einfach so. Ist das zu glauben?« Immer wieder murmelte er diese Worte vor sich hin, während er zu Selma zurückging und angespannt auf den Fernseher blickte.

    Durch das Gewusel und die Lautstärke verstand Vernita nichts, sodass sie verwirrt und staunend ebenfalls langsam zur Theke ging. Fassungslos blickte sie auf das Luftbild, das laut Einblendung live aus dem Hubschrauber des Fernsehsenders übertragen wurde. Und auf dem anstatt des Bankerviertels und der gesamten Innenstadt ein riesiger Wald zu sehen war. Ein Wald! »Großer Gott!«, flüsterte sie und ging näher, um etwas zu verstehen.

    »… erschien vor etwa zwanzig Minuten aus dem Nichts diese Grünfläche in dem Areal, in dem sich eigentlich New Rise City Downtown befinden sollte. Die Wolkenkratzer, das Wahrzeichen unserer Stadt, sehen wie Trümmer nach einer Bombardierung aus. Die Geschäfte hingegen, selbst die Menschen, sie scheinen verschwunden zu sein, haben sich einfach in Luft aufgelöst. Unser Hubschrauber fliegt so tief wie möglich, doch die Baumkronen sind zu dicht, um durch sie hindurchsehen zu können. Niemand weiß, was das zu bedeuten hat, aber wir hoffen, bald Antworten zu bekommen. Die Einsatzkräfte des New Rise City Police Departments sind bereits unterwegs. Unbestätigten Angaben zufolge soll sich auch das Militär eingeschaltet haben …«

    »Verdammt!«, sagte Vernita ächzend, das war ihr Stichwort. Anstatt versteinert vor dem Fernseher eines Bistros zu stehen, sollte sie ihren Hintern schnellstmöglich aufs Revier bewegen. Rasch rannte sie zum Tisch zurück, an dem ihre Freundinnen noch immer saßen und mit entsetzter Miene Nachrichten auf ihrem Smartphone verfassten. Eilig schnappte sie sich Mantel und Tasche, warf ein paar Münzen auf den Tisch und sagte: »Mädels, es tut mir leid, die Arbeit ruft, wir telefonieren später.« Dann rannte sie hinaus und drängte sich, so gut es möglich war, zwischen den herumstehenden Menschen hindurch. Sie bezweifelte, dass Jenna und Eyris sie überhaupt wahrgenommen hatten, aber darauf konnte sie nun keine Rücksicht nehmen. Big D hatte sicherlich schon alle Kollegen zusammengetrommelt, und wenn sie nicht umgehend auftauchte, bestünde die sehr wahrscheinliche Möglichkeit, bald einen Kopf kürzer zu sein.

    So schnell ihre Beine es ihr erlaubten, rannte Vernita die fünf Gehminuten zum Revier zurück, wobei ihr Herz ungewöhnlich schnell schlug. Der kurze Sprint konnte unmöglich dafür verantwortlich sein, denn da es keinen Mann oder eine Familie in ihrem Leben gab, verbrachte sie ihre Freizeit überwiegend im Fitnessstudio oder bei Dick, ihrem Kampfsporttrainer. Da sie aufgrund ihrer geringen Größe von vielen männlichen Kollegen nicht ernst genommen wurde, versuchte Vernita sich deren Respekt während der oft körperlich anstrengenden Einsätze zu verdienen, bei denen sie dank des Trainings eine gute Figur machte. Jares, ihr Partner, hatte neulich während der Geburtstagsfeier eines Kollegen vor allen anderen gesagt, dass er sich in einer Gefahrensituation niemanden außer sie an seiner Seite wünschte und die armen Schweine bedauerte, denen Vernita den Arsch versohlte. Sie war nie glücklicher gewesen als in diesem Moment, in dem die Kollegen ihr anerkennend zunickten, denn nach all den kräftezehrenden Monaten schien sie endlich angekommen zu sein.

    Und nun nötigte ihr dieser lachhafte Lauf sämtliche Energie ab? Das konnte nicht sein. Vielleicht hatte sie sich etwas eingefangen und wurde krank, sie schien jedenfalls nicht auf der Höhe zu sein. Wahrscheinlich war es auch nur der Schlafmangel, die Albträume der letzten Tage hatten ihr wohl mehr zugesetzt, als sie angenommen hatte.

    Sobald sie jedoch beim Revier angekommen war, hatte sie keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn bei dem Anblick stoppte sie abrupt und sog tief die Luft ein. Big D hatte alle Einsatzkräfte zusammengetrommelt, die er bekommen konnte. Vor dem Gebäude tummelten sich unzählige Kollegen, andere sprangen bereits in die Fahrzeuge und rasten mit Blaulicht davon. Dieser Wald war offenbar zum Feind erklärt worden. Vernita setzte zum Weitergehen an, als ihr plötzlich schummrig wurde und ihre Haut unangenehm zu kribbeln begann. Was war denn nun schon wieder?

    »Ver, da bist du ja endlich!«, vernahm sie durch den Schwindel die Stimme ihres Partners. »Schwing deinen winzigen Arsch endlich her, wir müssen los!«

    Einatmen. Ausatmen. Luft holen. Kleine Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen und in ihren Ohren lastete ein unangenehmer Druck.

    »Ver, zum Teufel, auf was wartest du?« Jares klang ungehalten, doch so gerne Vernita seiner Aufforderung nachgekommen wäre, augenblicklich kämpfte sie darum, nicht der Länge nach auf die Straße zu fallen. Verdammt, was war nur los mit ihr?

    »Was ist denn?« Jares schnippte mit dem Finger vor ihrem Gesicht und rüttelte sie leicht. »Du siehst beschissen aus. Wenn du ins Auto kotzt, mach ich das mit Sicherheit nicht sauber. Und jetzt komm endlich!«

    Nur langsam wurde ihre Sicht wieder schärfer, nahm das Pochen in den Schläfen ab und das seltsame Kribbeln auf ihrer Haut verschwand allmählich. Der Wald. Der Einsatz. Verflixt, sie musste sich konzentrieren! »Meine Waffe!«, rief sie ihm zu, bevor sie in das Gebäude rannte. Da sie aus der Mittagspause kam, hatte sie ihre Beretta natürlich im Revier gelassen, die sie nun eilig holen wollte. Drinnen hörte sie sogleich die tiefe Stimme von Big D durch die Büros hallen. Wie es aussah, war das Katastrophenmanagement aktiviert worden, was ihre Bauchschmerzen verstärkte. Das KM war eine eigenständige Behörde, die nur in absoluten Notfällen zum Einsatz kam. Dieser Wald war offenbar ein Notfall. Vernita versuchte, die quälenden Gedanken nicht zuzulassen, die sich nun in ihren Verstand drängen wollten. Wo kam das Grünzeug her, was war mit den Menschen in Downtown geschehen, was würde sie dort erwarten?

    »Reign, zum Teufel, was haben Sie noch hier zu suchen?«, schrie ihr Chef über die Köpfe der KM-Leute hinweg, die sich peinlicherweise nun allesamt zu ihr umdrehten. »Machen Sie, dass Sie fortkommen, wir brauchen jeden Beamten vor Ort!« Big D wandte sich wieder seiner Einsatztafel zu und Vernita eilte zerknirscht zu ihrem Spind, um die Beretta zu holen. Sie war definitiv nicht auf der Höhe heute, das bedeutete nichts Gutes. Gerade jetzt sollte sie alle Sinne beisammenhalten.

    »Na endlich!«, sagte Jares genervt, als sie zu ihm ins Fahrzeug stieg. »Die Runde Kaffee übernimmst du allein, ist schließlich deine Schuld.«

    Während er Gas gab, sah sie seufzend aus dem Fenster. Unter den Kollegen gab es seit Jahren eine Art Wette. Wer als Letztes am Einsatzort auftauchte, musste Kaffee für die ganze Einheit spendieren. Vernita und Jares waren noch nie in diese Verlegenheit geraten. Aber es gab für alles ein erstes Mal.

    Je näher sie Downtown kamen, desto schlimmer wurden die Magenschmerzen und das unangenehme Kribbeln auf ihrer Haut verstärkte sich erneut. Hitzewallungen setzten ihr zu und die Uniform klebte nahezu an ihrem Körper. Der erhöhte Puls brachte das Blut in den Ohren so stark zum Rauschen, dass sie die Worte ihres Partners kaum verstand, der anscheinend laut darüber sinnierte, wie ein Haufen Grünzeug aus dem Nichts erscheinen konnte.

    »Ver, hörst du mir überhaupt zu? Was ist denn heute mit dir?«

    Sein rasanter Fahrstil war Gift für ihren Magen, gequält rang sie sich ein Lächeln ab. »Hab mir wohl was eingefangen, alles gut.«

    »Scheiße, Frau, steck mich bloß nicht an!«, sagte er grummelnd und konzentrierte sich wieder auf die Straße.

    Sobald sie angekommen waren, sprang Vernita regelrecht aus dem Auto, um die frische Luft tief in die Lungenflügel zu inhalieren. Sie würde sich nicht die Blöße geben und sich vor den Kollegen übergeben. Als sie nach einigen Sekunden aufblickte, erstarrte sie. »Grundgütiger!«, murmelte sie entsetzt, während sie Jares folgte. Beamte aus allen Bezirken schienen zusammengekommen zu sein und sie hatten bereits mit der Arbeit begonnen.

    Obwohl die Grünfläche das Areal eines ganzen Stadtviertels hatte, wurde es in gebührendem Sicherheitsabstand mittels Absperrband eingezäunt, damit niemand in den Wald hineingehen konnte, solange sie nicht wussten, ob dieser ungefährlich war. Gefahrenvermeidung hatte Priorität vor allem anderen. Und je weniger Schaulustige sich hineindrängen konnten, desto ungestörter würden die Experten später Proben nehmen können. Vernita sah über die Schulter zurück und registrierte, dass der äußere Ring ebenfalls schon stand, die Sammelstelle für die Ermittlungen, ihre mobile Einsatzzentrale sozusagen. Verdammt, wenn sie keine Mittagspause gemacht hätte, müsste sie sich jetzt nicht vorwerfen, zu spät gekommen zu sein!

    Den Blick konzentriert auf die Bäume vor sich gerichtet, stellte sie fest, dass nicht einmal mehr zu erahnen war, dass sich hier vor einer halben Stunde noch Geschäftsgebäude befunden hatten. Keine Überreste waren zu sehen, wie etwa Fassaden- und Betonteile, die durch etwaige Wurzeln auseinandergerissen worden waren. So, wie sie es sich eigentlich bis eben noch vorgestellt hatte. Die Fundamente der Wolkenkratzer befanden sich dagegen tief im Inneren, dazu konnte sie jetzt noch nichts sagen.

    Im Augenblick war da jedenfalls nichts anderes als der dicht bewachsene Boden des Waldes und dicke Wurzeln, die sich tief in das Erdreich gruben, umhüllt von einer unwirklichen Stille, die für ihre Gänsehaut verantwortlich war. Vernitas Herz schlug noch schneller als ohnehin schon, je länger sie auf diesen unheimlichen Ort starrte. Intuitiv wusste sie, dass damit etwas nicht stimmte. Auch wenn sie ein Stadtkind war, so fremd war ihr die Natur nicht, dass ihr eines nicht auffiel: Keinerlei Geräusche drangen zu ihr. Kein Vogelgezwitscher, kein Quieken oder Rufen der Tiere, nicht einmal das Summen einer Fliege war auszumachen. Es wirkte, als wäre der Wald von etwas Bedrohlichem heimgesucht worden, das jegliches Leben darin ausgelöscht hatte. Wie in Trance duckte sich Vernita unter dem Absperrband hindurch und schritt, die Kollegen ignorierend, bedächtig näher. Als würde sie von einer unsichtbaren Macht, die sich tief verborgen hielt, angezogen werden, unfähig, sich dagegen zu wehren.

    »Hey, Ver, was tust du da?«

    Jares’ Stimme riss sie aus ihrer Entrückung. Erschrocken sah Vernita, dass sie kurz davor gewesen war, den moosbewachsenen Boden zu betreten. Sie schüttelte den Kopf, als würde sie sich dadurch wieder konzentrieren können, und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Ich war nur neugierig«, wiegelte sie ab und schluckte, als er die Augen verdrehte. Sie wollte lieber nicht wissen, was er heute von ihr dachte. Niemandem war es gestattet, in den Wald zu gehen, bis Big D das Go gab.

    »Reiß dich zusammen und komm mit, der Chef und das KM treffen gleich ein, dann gibt es eine neue Lagebesprechung.« Jares stapfte unter dem Absperrband zurück, geradewegs auf die Meute zu, die nur darauf wartete, endlich loslegen zu können.

    Die Spurensicherung hatte die Overalls bereits übergezogen, um Proben nehmen zu können, sobald sie das Zeichen bekamen, und die Spezialeinheit rüstete sich mit vollautomatischen Waffen. Vernita fröstelte es. Was erwarteten sie in diesem Wald vorzufinden? Wozu die Maschinengewehre? Bäume schossen erfahrungsgemäß nicht zurück.

    Gerade als sie sich ihrem Partner anschließen wollte, überkam sie erneut das merkwürdige Gefühl, diese unerklärliche Anziehung, die das Verlangen in ihr auslöste, umgehend in den Wald zu gehen. Als riefe sie jemand, mit schmeichelnder, sanfter Stimme, als lockte sie etwas. In eine Falle? Vernita wusste es nicht, sie dachte auch nicht darüber nach, denn jede Faser ihres Körpers wurde einzig von dem Drang beherrscht, dem Ruf zu folgen.

    Erneut in dieser Art Trance gefangen, drehte sie sich gemächlich um und starrte in das undurchdringliche Dunkel, das gähnend auf sie wartete. Das Prickeln auf ihrer Haut verstärkte sich zusehends, sodass es nun kleinen Stromstößen glich, die permanente Schmerzwellen aussandten. Aber das war nicht wichtig, nichts war augenblicklich wichtig, sie musste dort hinein, auf der Stelle. Sie blendete alles um sich herum aus: den Lärm, die Hektik, ihre Kollegen und Jares, der schrill nach ihr rief. Die Vernunft, die versuchte, zu ihr durchzudringen. Es gab nur noch diesen Wald und sie.

    Endlich sank ihr Fuß auf dem weichen Moosbett ein und mit einem Mal existierte die Welt hinter ihr nicht mehr. Es gab lediglich noch die Dämmerung und die Stille, in der sie ihren Herzschlag laut und deutlich vernahm, während jeder Atemzug einem keuchenden Wehklagen glich. Schritt für Schritt ging sie weiter, auf einem Pfad, der nicht wirklich war, sah das Dickicht für sie zurückweichen und stockte dennoch nicht. Die Realität verschob sich, die Gesetze der Physik nahmen eine Auszeit, denn Pflanzen lebten nicht auf diese Weise, sie bewegten sich nicht, trotzdem wirkte es so. Vernita wusste, dass sie nicht weitergehen sollte, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging, doch etwas zwang sie dazu, ein Ruf, einer tiefen Sehnsucht gleich. Sie dachte nicht darüber nach, warum es am helllichten Tag dunkel war, warum kein leises Getrappel davon zeugte, dass sich die Bewohner dieses Waldes ängstlich vor ihr versteckten. Befand sie sich womöglich noch im Auto und war sie während der Fahrt zum Einsatzort eingeschlafen und war das hier war nur ein weiterer ihrer merkwürdigen Albträume? Sie nickte kaum merklich. Das musste es sein. Nur ein weiterer Traum.

    Als das Gestrüpp sie schließlich freigab, stand Vernita auf einer kleinen Lichtung, zu der dieses unbestimmte Sehnen, einem Angst einflößenden Drang gleich, sie geführt hatte. Die Stelle hatte jedoch nichts mit den romantischen Plätzen gemein, an den sie bei ihren Joggingrunden immer wieder vorbeikam. Kein Lichtstrahl drang durch das Blätterdach hindurch und fiel sanft auf den mit jungen Sprießen übersäten Boden. Hier herrschte Finsternis. Nicht so durchdringend, dass sie die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte. Dennoch hatte diese sich bedrückend über ihr Gemüt gelegt, als versuchte sie, jeglichen Frohsinn und sämtliche positiven Gedanken aus ihr herauszusaugen. Dies war kein Ort, an dem sie lange verharren sollte, all ihre Instinkte drängten sie zur Rückkehr. Stattdessen starrte sie unentwegt auf die kleine Gestalt, die inmitten der Lichtung stand und zurückstarrte.

    Sie schätzte das kleine Mädchen etwa auf zehn Jahre, und während sie versuchte zu verstehen, was es hier zu suchen hatte, bemerkte sie, dass dieser seltsame innere Zwang nachließ, ganz so, als sei sie an ihrem Ziel angekommen. War das der Grund, warum sie in den Wald gehen musste? Dieses Mädchen? Weil sie es retten sollte? Der Traum wurde immer seltsamer. Vernita wollte zu ihm gehen, doch ihre Beine bewegten sich nicht, und als sie an sich hinabsah, stellte sie entsetzt fest, dass sich einige Baumwurzeln um ihre Knöchel geschlungen hatten und sie am Weitergehen hinderten. Was zur Hölle ging hier vor?

    »Hüterin!«, sagte das kleine Mädchen und die kalte, blecherne Stimme ließ Vernita frösteln.

    Wer war sie? Stumm musterte sie das kindliche Gesicht, das überhaupt nichts Verspieltes an sich hatte. Die wunderschönen Züge wirkten ernst, fast boshaft und hatten nicht das Geringste mit der Erscheinung des Kindes gemein. Das blonde Haar war zu zwei kecken, dicken Zöpfen geflochten. Über einem einfachen, weißen Baumwollkleid trug sie ein dunkelrotes Cape, dessen Kapuze sie sich augenblicklich vom Kopf zog. Es war zu düster, um die Farbe ihrer Augen zu erkennen, doch selbst von dieser Stelle aus fühlte Vernita das pure Böse, das aus ihnen blitzte. Das Mädchen senkte den Arm, über den sie einen Korb gestreift hatte. Vernita schluckte schwer. Die Schwingungen, die von dem Kind ausgingen, waren so bedrohlich, dass sich ihr sämtliche Härchen aufstellten. Zugleich nahm das lästige Prickeln zu und die Stromstöße übermannten sie nun in Wellen.

    »Wer bist du?«, fragte Vernita schließlich. Das Mädchen legte den Kopf leicht schräg und in ihren Augen blitzte es kurz auf. Nur einen winzigen Moment, doch Vernita hatte es gesehen. Rot und Unheil verkündend, genau wie bei den Kreaturen aus ihren Albträumen.

    »Du wurdest nicht initiiert. Interessant.« Völlig emotionslos starrten die kalten Augen sie unvermittelt an.

    »Wie meinst du das?« Noch nie waren ihre Träume derart intensiv gewesen, dass sie Todesängste ausstand, doch das Mädchen schürte ebenjene, verstärkte den Drang, endlich aufwachen zu wollen, von hier fortzukommen.

    »Sag mir, wie viel Zeit vergangen ist, seitdem deine Vorfahren mich, meine Brüder und Schwestern in dieses Gefängnis gesteckt haben!«, forderte das Kind sie nun auf.

    »Es sind noch andere Kinder hier?« Vernitas ohnehin viel zu schnell schlagendes Herz zog sich bei dem Gedanken zusammen, dass man so kleinen Seelen ein Unrecht angetan und sie eingesperrt hatte.

    »Ist es tatsächlich möglich, dass deinesgleichen uns vergessen hat?« Nun kam das Mädchen näher und schlich gemächlich um sie herum. Vernita kam es so vor, als schnuppere es sogar an ihr. »Deine Kleidung gleicht nicht der mir geläufigen. In welchem Jahrhundert erlauben sie wohl ihren Frauen Hosen? Äußerst interessant.« Erneut blieb die kleine Gestalt vor ihr stehen und musterte erwartungsvoll ihr Gesicht.

    Dabei musste sie, trotz Vernitas Größe von nur einem Meter neunundfünfzig, den Kopf in den Nacken legen. Der starre, undurchdringliche Blick ängstigte sie, doch noch beunruhigender war, dass dieses Kind keines zu sein schien. Weder verhielt es sich derart noch sprach es so. Und dann diese Augen. Als vereinte sich in ihnen sämtliche Bosheit und Niederträchtigkeit, starrten die Pupillen sie an, die nahtlos in die schwarzen Iriden übergingen. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Das Mädchen blinzelte und Vernita schrie entsetzt auf, denn die Lider bewegten sich seitlich, wie bei einem Reptil. »Wer bist du?«, fragte sie erneut entsetzt.

    »Nun, jetzt enttäuschst du mich, Hüterin. Schließlich wurden wir gezwungen, diese Gestalten anzunehmen, und doch bin ich dir nicht bekannt?« Das Mädchen drehte sich einmal um sich selbst, hob den Saum des Kleides an und lächelte, was noch beängstigender wirkte als sein kalter Blick. »Ich glaube, ihr nennt diese Erscheinung Rotkäppchen.«

    Dieser Traum wurde immer skurriler. Was wollte eine Märchenfigur, die plötzlich in einem Wald in der Innenstadt auftauchte, ihr sagen? Und weshalb nannte sie Vernita ständig Hüterin? Und warum zum Teufel hielten diese Wurzeln sie gefangen? Vielleicht sollte sie tatsächlich darüber nachdenken, einen Psychologen aufzusuchen, wenn sie endlich wieder erwachte.

    Plötzlich schnellte die kleine Hand des Kindes nach oben und drückte mühelos Vernitas Kehle zu – wie war das möglich bei der geringen Körpergröße des Mädchens? Röchelnd konzentrierte sie sich auf das Schlagen ihres Herzens, das einzige Geräusch, das sie hörte und das ihr helfen sollte, bei Verstand zu bleiben. Langsam tastete sie nach ihrer Waffe, obwohl ihr klar war, dass sie niemals ein Kind würde erschießen können, doch war es überhaupt eines?

    »Genug gespielt, du langweilst mich. Antworte mir, Hüterin! Warum bist du nicht gezeichnet?«

    So abrupt, wie das Mädchen angegriffen hatte, so schnell ließ es Vernita wieder los, doch im selben Augenblick schlangen sich die Wurzeln der umstehenden Bäume auch um ihre Handgelenke und rissen unsanft ihre Arme hoch, wobei sie abermals aufschrie.

    »Es beleidigt meine Intelligenz, dass du annimmst, ich sei derart einfältig.«

    Räuspernd versuchte Vernita, dem Ganzen einen Sinn zu geben. »Ich weiß nicht, wovon du redest. Welches Zeichen und warum nennst du mich ständig Hüterin?«, fragte sie krächzend.

    Mit verschränkten Armen musterte das Mädchen, das sich selbst Rotkäppchen nannte, sie erneut. »In welchem Jahrhundert befinden wir uns?«

    »Im einundzwanzigsten«, sagte Vernita heiser. Vergeblich versuchte sie, ihre schmerzenden Muskeln an den Schultern zu ignorieren, wurde jedoch von der Veränderung im bleichen Gesicht des Mädchens abgelenkt, auf dem sich schwarze Adern deutlich hervorhoben und abzeichneten. Nur ein Traum. Das hier war nur ein Traum.

    »Siebenhundert Jahre?«, kreischte die kleine Gestalt nun aufgebracht. »Siebenhundert Jahre waren wir gefangen?«

    Vernita schluckte. Nein, sie hatte sich das vorhin nicht eingebildet, denn nun leuchteten die Augen des Kindes deutlich in einem gefährlichen Rot und sie sprühten förmlich vor Zorn.

    »In all diesen Dekaden habt ihr Wichte uns also vergessen«, sagte das Mädchen fauchend. »Die Hüter waren sich ihres Schaffens offenbar zu sicher, wenn die Macht des Erbes nicht mehr weitergetragen wurde.« Dann hob sie den Zeigefinger an Vernitas Brust und der Schmerz, der sich daraufhin heiß in sie hineinbrannte, raubte ihr den Atem. »Wir sind zurück, Hüterin, und die Arroganz deiner Art hat dafür gesorgt, dass wir keinen Feind mehr fürchten müssen.«

    Der Fingernagel, der stetig wuchs und Vernitas Muskeln und Gewebe dabei zerstörte, bohrte sich tief in ihre Lunge. Die Welt um sie herum wurde schwarz, während das Rauschen ihres Blutes und der dröhnende Herzschlag ihre einzigen Zeugen waren.

    »Wo habe ich nur meine Manieren?«, sagte das Mädchen plötzlich und trat unerwartet einen Schritt zurück.

    Vernita lächelte, als der Schmerz nachließ, und betete, dass sie endlich erwachte.

    »Rotkäppchen muss sich nicht selbst die Hände schmutzig machen, denn Rotkäppchen hat einen treuen Begleiter!«

    Das niederträchtige Grinsen im Gesicht des Kindes, das nicht menschlich zu sein schien, entblößte spitze Zähne, die, inklusive der roten Augen und der schwarzen Adern im grotesken Zusammenspiel mit der unschuldigen Erscheinung, eine Panik in Vernita auslösten, die so tief in ihr verwurzelt schien, dass sie ihr fremd war. Sie hatte schlichtweg keine Ahnung gehabt, dass sie zu derartigen Gefühlen fähig war. Das markerschütternde Knurren, das daraufhin jede Faser ihres Körpers in höchste Alarmbereitschaft versetzte, schürte das Entsetzen, aber auch das seltsame Prickeln, von dem sie seit Tagen beherrscht wurde. Alles in ihr schrie: Gefahr!

    »Selbstverständlich möchte ich dir meinen Freund nicht vorenthalten«, sagte das Mädchen eisig und trat zur Seite.

    Vernita erstarrte beim Anblick der pechschwarzen Kreatur, die sich nun gemächlich aus den Schatten des Waldes schlich. Ihre Arme und Beine begannen unkontrolliert zu zittern. Ein Wolf, so groß wie ein Pferd, kam langsam und mit hochgezogenen Lefzen auf sie zu. Hasserfüllte Augen, die ebenso rot leuchteten wie die des Mädchens, fixierten sie bedrohlich, während sie, gefangen und nicht fähig zu fliehen, seine leichte Beute war. Die ausladenden Pranken senkten sich trotz der riesig erscheinenden Klauen völlig geräuschlos auf den Waldboden. Selbst in dem Dämmerlicht sah sie die Muskelpakete unter der Haut des Wolfes, die angespannt auf ihren Einsatz warteten.

    Unmittelbar vor

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