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...als ob sie Emma hießen: Eine Nachbetrachtung
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eBook379 Seiten4 Stunden

...als ob sie Emma hießen: Eine Nachbetrachtung

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Über dieses E-Book

Frau sein, Theater leiten, älter werden – die frühere Prinzipalin spürt all dem sehr persönlich nach. Liebt E. das Theater? Frägt man einen Fisch danach, ob er das Wasser liebt? Ihr erstes Theater schuf sie sich unter dem Esstisch der Eltern, ein Refugium des Kindes in den Kriegsjahren. Nach ersten Jahren als Schauspielerin zog es sie bald von der Bühne hinter die Kulissen. Erst hier konnte sie ihr gesamtes Potenzial entfalten – bis hin zur Rolle der Theaterleiterin. Doch wie gestaltet sich das Leben einer Frau, die nicht an der Seite eines Partners unsichtbar sein will? Mit welchen Vorurteilen ist sie konfrontiert? Emmy Werner hat ein Buch geschrieben, das Mut zeigt und Mut macht, zum Lachen anregt und dem Weg einer eigenwilligen Frau nachsinnt.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum28. Aug. 2018
ISBN9783701745913
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    Buchvorschau

    ...als ob sie Emma hießen - Emmy Werner

    Hans.

    WURZELN UND FÄHRTEN

    Geboren 1898

    Der Vater. Hineingeboren in eine recht seltsame Familiensituation. Die Vorfahren seit vielen Generationen in Wien ansässig, seine Großeltern väterlicherseits angesehene Buchbinder, der Großvater Armenrat und »Bürger von Wien«, ein hoher Ehrentitel damals. Die Liebe seines Sohnes Karl zu einer gewissen Berta Hölzensauer aus ärmlichem Haus lehnte er jedoch strikt ab und entzog dem Paar jedwede Unterstützung. Hätten die beiden nach den ersten drei unehelich geborenen Kindern nicht doch noch geheiratet, hieße E. jetzt wohl Hölzensauer. Namen waren niemals Schall und Rauch, davon war sie überzeugt, sie konnten sogar Karrieren beeinflussen – siehe die Namensänderungen von Künstlern und Politikern …

    Fünf Kinder gingen aus dieser geächteten Ehe hervor, die die jungen Eheleute mangels Hilfe der hartherzigen Eltern nur mit Ach und Krach ernähren konnten. Als der Ehemann jung an Lungenentzündung starb, musste seine Witwe alleine für die Familie sorgen und arbeiten gehen – damals noch etwas Diskriminierendes für eine Frau. Drei Kinder musste die Witwe nun in eine Lehre weit weg von daheim schicken, eine Tochter zu Pflegeeltern in Böhmen geben, und das jüngste Kind, der Hans, kam im Alter von nur drei Jahren in eine Art Waiseninstitut.

    Ein Leben lang hatte ihn die Erinnerung an diese Zeit bedrückt, obwohl es ihm dort nicht schlecht gegangen war: keinerlei Misshandlungen und jeden Tag ein großes Stück Rindfleisch mit Gemüse. Aber fort sein von zu Hause, von der Mutter, das war so traurig gewesen. Nächtelang hätte er in den Kopfpolster geweint, erzählte er später seiner Tochter E. Daher wäre er auch nie auf den Gedanken gekommen, seine Kinder in einem Internat, welcher Art auch immer, fremden Erziehern gänzlich auszuliefern. Seiner Mutter sollte er das allerdings als erwachsener Mann niemals vorwerfen, sondern Verständnis für ihre Notsituation haben, denn es hatte damals ja keine Sozialhilfen, keine Kindergärten, keine Beratung gegeben, rein gar nichts. Sie hatte für ihn eben nur das Beste gewollt, indem sie ihn dorthin gab, wo er gut zu essen, ein warmes Zimmer und eine solide Ausbildung bekam, denn von den wohlhabenden Schwiegereltern erhielt sie nach wie vor keinerlei Unterstützung.

    Allerdings kam Hansens Großmutter, in Pelze gehüllt, alljährlich zu Weihnachten in einer Kutsche zu dem Waisenhort und verteilte Gaben an die armen Kinder, darunter auch an den kleinen Enkelsohn Hans. Warum hatte sie ihn denn nicht zu sich genommen, ihr eigenes Enkelkind, sollte E. später immer wieder betroffen fragen?

    Hans maturierte später an der Handelsakademie und musste sofort danach mit erst achtzehn Jahren als Soldat einrücken. 1898 Geborene waren besondere Opfer der Kriegswut der Machthaber gewesen – sie mussten als Soldaten in den Ersten und in den Zweiten Weltkrieg. Es stieß ihm außer einer kleinen Verletzung glücklicherweise nichts zu in diesem Kriegsirrsinn. Nach dem Krieg wurde er Bankbeamter, schrieb alles noch händisch, jede Kontoführung, jede Überweisung, jede Zahlenkolonne fein säuberlich mit Feder und Tinte.

    Seine große Liebe galt jedoch der Kunst, vor allem der Oper. Da seine Mutter inzwischen als Garderobiere am Kaiser-Jubiläums-Stadttheater, der späteren Volksoper, arbeitete, das 1898, im Geburtsjahr von Hans, eröffnet worden war, konnte er jetzt am Stehplatz beinahe täglich seine geliebten Opern hören, die er auch fast alle auswendig lernte. Dieses Theaterhaus war ihm zu seiner zweiten Heimat geworden und das sollte seinen weiteren Lebenslauf mitbestimmen, denn oben von der Galerie aus verfolgte er mittels Operngucker besonders aufmerksam auch die Ballettvorführungen.

    Eine blutjunge schwarzhaarige Balletteuse, ein wunderschönes Mädchen, war ihm bald schon aufgefallen. Atemberaubende Beine hatte die Maid – die ihr auch bis ins hohe Alter erhalten bleiben sollten – und eine grazile Figur. Dieses Zaubergeschöpf würde einmal E.s Mutter werden, die Volksoper gleichsam zu ihrem eigenen Ursprung. Sechzehn Jahre alt war das Ballettmädchen damals, als Hans es zum ersten Mal sah. »Dies Bildnis, so bezaubernd schön« wollte jedoch, als er es eines Tages beim Bühnentürl abpasste, zuerst gar nichts von ihm wissen, es war nämlich sehr keusch erzogen worden. Irgendwann musste es aber dann doch gefunkt haben, sonst könnte die Familiengeschichte gar nicht weitererzählt werden.

    Die junge Tänzerin war das uneheliche Kind des damals sehr bekannten Architekten Eduard Prandl und der damals siebzehnjährigen Rosa, die er 1904 geliebt, verführt und geschwängert hatte. Er war damals in den Dreißigern, Sohn eines Golddrahtziehermeisters und kinderlos verheiratet gewesen. Rosa war aufgezogen worden von einer Pflegemutter, ihres Zeichens Futtermittelgroßhändlerin und Gasthausbesitzerin auf der Simmeringer Heide, nahe der Teerfabrik, denn Rosas leibliche Mutter hatte ihr ebenfalls uneheliches Töchterchen sofort nach der Geburt in Pflege gegeben, wie es damals oft bittere Notwendigkeit war, zu der wohlhabenden Futtermittelhändlerin eben, die Kinder über alles liebte, aber keine eigenen bekommen konnte. Sie war eine wunderbare gütige Frau, eine in der Familie später dann legendäre Ahnin, ein Ahndl. Ihre Nachfahrin sollte einen Stempel, geprägt mit »Emma Kunst«, noch lange hüten wie einen Schatz.

    Emma Kunst

    Emma Kunst war demnach Pflegemutter sowohl für Rosa als auch für deren kleine Tochter, Spross des Architekten, die Frau Kunst nun ebenfalls liebevoll großzog. Dass dieses Mädchen – quasi ihr Adoptivenkelkind – dann ihren Vornamen Emma bekam, war nur selbstverständlich gewesen. Sie muss den ihr anvertrauten Kindern unendlich viel Liebe gegeben haben, denn sowohl Rosa als auch ihre Tochter hatten zeitlebens nur zu ihr eine tiefe Mutterbeziehung gehabt. Nichts da mit der oft überschätzten Stimme des Blutes. Der Herr Architekt stand zwar zu dem Kind, hatte aber, obwohl er gut verdiente mit seinen Bauten – einige in den Kurstädten der Monarchie, in Wien mehrere Wohnhäuser und das wunderschöne Apollotheater, auch das Johann Straußtheater (später Scala genannt) –, so ziemlich alles verjankert, wie man in Wien sagt. Großmutter Kunst hätte zwar sein Geld, das er ihr heimlich zusteckte, damals gar nicht gebraucht, aber es ging ihr ums Prinzip: »Hat er’s Vergnügen g’habt, soll er jetzt auch was zahl’n dafür!«

    Das kleine Mädchen mit den ungarisch / böhmisch / wienerischen Wurzeln wurde wie ein Komtesschen in weißen spitzenbesetzten Kleidchen aufgezogen. So schwach und klein war es bei der Geburt gewesen, dass es in ein mit Watte ausgekleidetes Körbchen gelegt und in das sanft vorgeheizte Backrohr geschoben werden musste. Nach ein paar Monaten wurde es eines Nachts plötzlich sterbenskrank. Schnell war es noch fotografiert worden, um wenigstens ein Bild des Babys mit den riesengroßen schwarzen Augen zu haben, falls es nicht überleben würde. Wie durch ein Wunder hatte es die Darmentzündung mittels deftiger Hausmittel dann doch unbeschadet überstanden. Dieses angeblich so zerbrechliche Wesen, zu früh geboren und so schwach auf der Brust, ist dann übrigens siebenundneunzig Jahre alt geworden. Die Belastbarkeit von kleinen, angeblich allzu zarten Menschenskindern ist oft erstaunlich.

    Sie hat lebenslang viele Geschichten erzählt aus ihrer Kindheit. Simmering war damals noch ein Land-Bezirk gewesen mit Wiesen, Gärten und Gehöften. Und Pferden, Pferden, Pferden. Für Futtermittelhändler waren sie die Grundlage ihres Wohlstandes, denn Futtermittel für Pferde wurden gebraucht wie später Benzin für Autos.

    Rosa, die nur sporadisch in Simmering auftauchte, war eine sehr schöne junge Frau geworden und schleppte daher auch stets eine Armada von Verehrern hinter sich her. Einer ihrer glühendsten war der Schriftsteller Peter Altenberg, der sie auch heiraten wollte, was wiederum sie nicht wollte, weil er so viele andere Frauen gleichzeitig beglückte, vor allem die sehr jungen. Leider hatte sie später auch alle seine wunderbaren Briefe an sie verbrannt.

    Rosa hätte die eine oder andere tolle Partie machen können, hat sich aber dann ausgerechnet einen Ehemann ausgesucht, der aus einer arrivierten Artistenfamilie stammte und selbst Jongleur war. Einer seiner Brüder war Impresario und sogar Direktor (!) des Apollotheaters, ein anderer Bruder der Star einer Rollschuhfahrertruppe. Rollschuh fahren war sehr beliebt in den Programmen der Varietés, von denen es damals zahlreiche gab in Wien, die Femina in der Johannesgasse etwa, das Ronacher auf der Seilerstätte, das Colosseum in der Nußdorfer Straße. Das prächtigste Varietétheater aber war jenes Apollotheater in Wien Gumpendorf.

    Akkurat in diesem Etablissement, das der Vater ihres unehelichen Kindes erbaut hatte, ist die schöne Rosa dann als Partnerin ihres Artistengatten Viktor aufgetreten, hatte ihm bei seinen Jongliernummern assistiert, mit kurzem Röckchen, Schürzchen, Spitzenhäubchen. Von ihren Tourneen – die Honorare reichten damals gerade fürs tägliche Leben – schickte sie hin und wieder Postkarten und kleine Andenken. Ihr Kind wusste sie ja in guten Händen.

    Mit und nach dem Ersten Weltkrieg kam jedoch auch für die Ziehgroßmutter Emma Kunst die finanzielle Katastrophe. Der erste Mann war gestorben, der zweite Mann war gestorben, Haus und Hof, Pferde und Gesinde waren dahin, das Geld wertlos geworden. So stand sie mit dem Mädchen, das die Hauptschule gerade hinter sich gebracht hatte, bitterarm und mutterseelenallein da. Sie mussten in eine winzige Bassenawohnung beim Simmeringer Friedhof ziehen und hatten kaum das Nötigste zum Überleben. Die Situation schien trostlos und ohne irgendeine Perspektive für das junge Mädchen. Als Emma Kunst jedoch eines Tages entdeckte, dass dieses Mädchen tänzerisches Talent hatte, gelang es ihr durch viele Bittgänge, es als Elevin beim Volksopernballett unterzubringen. Und die Fünfzehnjährige war dann tatsächlich mit großer Begeisterung Tänzerin geworden. Sie sollte später auch gerne allerlei erzählen aus dieser Zeit: von ihrem großen Schwarm, dem berühmten Tenor Richard Tauber, dem sie allzu gut gefallen hätte, vor dem sie jedoch auch auf der Hut gewesen wäre – oder von Leo Slezak, jenem wunderbaren Sänger, der nicht nur eine großartige Stimme, sondern auch einen großartigen Bauch hatte, mit dem er immer jene Leute wegschubste, die ihm gar zu nahe kamen.

    Die Ballettmädchen mussten trotz kärglicher Gage alles selbst beisteuern: Kleider, Wäsche, Schminke, Bühnenschmuck. Das Theater hatte ja keine Subventionen oder Sponsoren, der Theaterdirektor musste alles aus seiner eigenen Tasche bezahlen! Als die Tänzerinnen einmal für eine Aida-Aufführung Ohrgehänge tragen sollten, schnitt sich das arme Simmeringer Mädchen zu Hause Klunker vom Glasluster ab und legte sie sich mit Zwirn um die Ohren. Prompt fiel das viel zu schwere Gehänge mitten im ägyptischen Tanz runter, eine Kollegin trat barfuß drauf, schnitt sich in die Zehe, schrie laut in die Musik hinein »auweh« und die Urheberin der Malaise bekam eine Rüge samt Geldstrafe.

    Wenn nach einer langen Abendvorstellung die letzte Straßenbahn schon weg war, musste die blutjunge Tänzerin zu Fuß nach Hause gehen. Vom Währinger Gürtel bis nach Simmering! Emma Kunst holte sie dann immer ab und begleitete sie die eineinhalb Stunden, damit ihr nur ja nichts passierte. Wenn sie erschöpft und mit schmerzenden Füßen zu Hause ankamen, wartete oft nur ein Teller mit kargem Essen, das eine nächstenliebende Nachbarin spendiert hatte. Erst mit ihrem Verehrer Hans kam die junge Tänzerin aus dieser Not heraus – ins Schlaraffenland!

    Als Noch-Bankbeamter verdiente Hans gut, verwöhnte sie und päppelte sie auf. Ausgehungert, wie sie war, konnte dieses zarte Geschöpf sogar zwei gebratene Enten hintereinander verschlingen. Sie hat gegessen und gegessen, meistens im Theatercafé Bradl vis-à-vis der Volksoper. Dort musste sie allerdings immer mit dem Gesicht zur Wand sitzen, damit sie nur ja kein anderer Mann ansehen konnte, während ihr eifersüchtiger Verehrer Schach spielte. Seltsamerweise hatte sie das damals als Liebesbeweis angesehen. »So tramhapert wie ich junges schafsgeduldiges Ding war, das gibt’s ja gar net!«, sollte sie Jahrzehnte später verärgert sagen. (»Tramhapert« bedeutet in Träumen gefangen.)

    Nachdem sie gestorben war, fand die Tochter Briefe des Vaters an ihre Mutter, als sie beide jung verliebt waren. Diese Briefe verblüfften sie. Dass der eher spröde Vater solche Liebesbriefe hatte schreiben können, ließ sie zwischen Rührung und Pikiertheit schwanken. Sie erklärten aber nachträglich das bis ins hohe Alter durchaus erotische Klima zwischen den beiden.

    Vier Jahre lang hatten die Eltern einander schon »erkannt« gehabt, wie die Bibel ein Gspusi nennt, als 1925 ganz schnell geheiratet werden musste. Die junge Frau war nun keine Tanzfee mehr, sondern im sechsten Monat mit einem Bübchen schwanger, der werdende Vater auf Jobsuche, weil er des Schreibens von Zahlenreihen in der Bank endgültig überdrüssig geworden war. Gerade jetzt waren sie also arm wie Kirchenmäuse. Die Kirche in Maria Enzersdorf war Ort der Trauung und zugleich das Hochzeitsreiseziel. Mit Großmutter Emma Kunst teilten sich die Jungvermählten ein einziges Schnitzel als Hochzeitsschmaus. Zu mehr hatte es nicht gereicht.

    In eben dieser kleinen Kirche sollten die beiden fünfundzwanzig Jahre später ihre Silberhochzeit feiern. Mit allem Drum und Dran, mit Musik, Wein und Gesang. Die Mutter trug ein elegantes Kleid und einen schicken Filzhut samt Filzfeder. Im Fiaker kam sie vorgefahren – und verlor vor der wartenden Gästeschar beim Aussteigen das durch einen gerissenen Hosenbund ins Rutschen geratene Unterhöschen! »No, no«, sagte der Vater, »nicht gar so hitzig, junge Frau!« Die Mutter hob es gelassen auf, stopfte es in ihre Handtasche und stand dann hoserllos vor dem Altar. Der Pfarrer wusste nichts davon …

    Nach der Hochzeit und der Geburt des Sohnes Robert gab es damals zwei große Ziele für die kleine Familie: Der Vater sollte sich beruflich verändern, und die Familie in eine besser gelegene Wohnung ziehen können. Simmering hatte auch nach und nach seinen ländlichen Zauber verloren, die alte Vorstadt hatte sich in die industrielle Zeit hinein gewandelt. Anstelle der großen Wiese vor dem Haus war nunmehr ein riesiges Umspannwerk.

    1935 – Großmutter Emma Kunst war nach liebevoller Hauspflege inzwischen verstorben – waren beide Ziele erreicht: Der Vater arbeitete nun besser bezahlt im Wiener Musikverlag Figaro, und es gab endlich auch eine neue, größere Wohnung unmittelbar neben der Volksoper! Zwei Zimmer, Küche mit Fließwasser, ein winziges Kabinettchen und das WC nicht mehr am Gang, sondern innen – der reinste Luxus damals. Die Bassena hatten sie endlich hinter sich gelassen. Architekten des Eckhauses in der Währinger Straße, erbaut 1880, waren Hermann Helmer und Ferdinand Fellner, dieselben, die auch das Deutsche Volkstheater in Wien 1889 gebaut hatten. Aus dem Tapezier- und Möbelsalon des Hausherrn, des Wiener Stadtrates Carl Schuh, entstand an der Ecke das Kaffeehaus Orleans, das nach dem Ersten Weltkrieg in Café Weimar unbenannt wurde.

    Die Dreißigerjahre wurden zu sehr guten Jahren für die junge Familie. Die Mutter ging oft mit Freundinnen ins Dampfbad oder ins Kaffeehaus, der Vater noch öfter in seine geliebte Volksoper. Sorgen oder Entbehrungen hatten sie damals keine mehr. Was fehlte, war lediglich das sehnlichst erwartete zweite Kind. Obwohl die Mutter mit dem ersten eine schwere Hausentbindung gehabt hatte, und zwar mithilfe des verstörten, aber tapferen Kindesvaters – »Haben Sie gute Nerven?«, hatte ihn der eilends herbeigeholte Arzt gefragt –, wünschte sie sich längst schon ein zweites, das aber nicht und nicht kommen wollte. »Nur net brummen, wird scho kummen«, hatte eine Tante gesagt, es kam jedoch trotz Nichtbrummens weiterhin nichts.

    Dem Vater Hans öffneten sich zusätzlich neue Türen. Im Verlag hatte man ihm probeweise eine Melodie zum Textieren gegeben, und das war zum Startschuss für seinen eigentlichen Beruf geworden, dem eines Schriftstellers. Allmählich konnte er mit Liedern etwas dazuverdienen, etwa mit Es steht ein alter Nussbaum draußt in Heiligenstadt, ein Hit damals. Es ging der Familie gut, das sieht man auch auf den Fotos, alle waren ziemlich gut genährt. Alles wäre vollkommen gewesen, hätte der Vater nicht durch seine warnenden Kassandra-Rufe die gute Stimmung verdorben: »Da kommt was auf uns zu! Seht ihr das denn nicht? Seid ihr denn alle blind?«

    Er war entsetzt gewesen über die Bücherverbrennungen der Nazis und die Entwicklungen in Deutschland, eines Tages brachte er das frühe Buch des »Führers«, Mein Kampf, nach Hause. »Das müssten alle lesen, erbärmlich schlecht geschrieben, aber brandgefährlich!«, rief er. Der Freundeskreis hielt das Elaborat für Blödsinn, der sei ja narrisch, dieser Adolf, so ein lächerliches Mandl! Der Vater jedoch war in Sorge, er spürte die aufgeheizte Stimmung. Würde es zu einem Umsturz, am Ende gar zu einem Anschluss Österreichs an Deutschland kommen?

    Die Mutter hatte bald danach dann ein anderes, ein gesundheitliches Problem: Sie sollte sich einer Operation wegen eines Uterusmyoms unterziehen, der OP-Termin war sogleich festgelegt worden. Der vorsichtige Vater riet zu einer zweiten Konsultation, diese bestätigte zwar die erste Diagnose, ja, sie hätte ein kleines Myom, aber schwanger sei sie auch. Wahltante Grete, die einstige Ballettkollegin und nunmehr Ballettschulleiterin, hatte der Mutter wundersame Gymnastikübungen beigebracht, angeblich hätten diese den Knick in ihren Eileitern gelöst! Jeder Beginn ist zufällig?

    Die Freude war groß, aber kurz. Ausgerechnet mitten im von politischem Grauen und offen ausgebrochenem Hass belasteten März 1938 erfuhren die Eltern, dass es wieder Nachwuchs geben würde, dreizehn Jahre nach dem Sohn, Jahre, in denen sie die Hoffnung auf ein zweites Kind längst aufgegeben hatten. Einen ungünstigeren Zeitpunkt, um ein Kind in die Welt zu setzen, gäbe es gar nicht, fand der Vater. Ein Krieg würde kommen, er selbst würde einrücken müssen und der Sohn Robert wahrscheinlich auch. Beide würden sie dann fort sein und die Mutter allein mit einem kleinen Kind zurückbleiben. Sei’s drum. Sie wollten dieses Kind unbedingt haben. Das Mädchen – zum Dank erhielt es ebenfalls Frau Kunsts Vornamen – kam im September in der sogenannten deutschen Ostmark auf die Welt, gezeugt und empfangen jedoch noch in Österreich. Immerhin.

    Geboren 1938

    So viele Gedenkjahre sind mit der Zahl Acht verbunden: 1918, 1938, 1968, 1988, 2018 … Der im Jahr 1938 geschändete Heldenplatz etwa würde sehr, sehr lange brauchen, um sich von der moralischen Last der Nazi-Jubelmassen zu befreien. »Aber«, sagte der Vater oft, »wer redet über all jene, die am Heldenplatz damals nicht dabei waren? Die zu Hause geblieben sind, so wie wir? In stiller Verzweiflung oder Resignation? Das waren auch viele damals. Mehr als die anderen …« Mitgefangen, mitgehangen. Aus Österreich zu stammen, sollte lange noch bedeuten, in einen Topf mit den Verbrechern der Nazizeit geworfen zu werden. Jahrzehnte später, als islamistische Terroristen weltweit zuschlugen, sollte genau dasselbe auch völlig unschuldigen Muslimen passieren.

    Der Vater hatte zwei jüdischen Freunden dringend geraten, Österreich rechtzeitig zu verlassen. Der eine hatte seinen Rat befolgt, der andere nicht. Er hatte nicht glauben können, dass ihm irgendwer etwas zuleide tun wollte, denn »er hätte ja auch niemandem etwas zuleide getan …« Man hatte nie erfahren, was mit ihm geschehen war.

    Eine absurde Episode ereignete sich damals auch in E.s Familie: Der Vater wurde vor die Reichsschrifttumskammer – was für ein Wort! – zitiert, und zwar wegen eines seiner Liedtexte:

    »Das ist die Wiener Spezialität, dass man als Wiener net untergeht.

    Unser Sinn is’ zu leicht, samma froh – kommt ein Erdbeben, dann kommt’s sowieso …«

    Was denn das heißen solle, fragte der Verhörende, »dass man als Wiener net untergeht«? Und was bedeute »Kommt ein Erdbeben, dann kommt’s sowieso«? Der Vater brachte teils psychologische, teils seismologische Argumente vor, die nolens volens geschluckt wurden. Säuerlichen Blickes. Paranoid seien sie, die Nazis, humorlos und saudumm, murmelte der Vater, als er heimkam, und das sei eine besonders gefährliche Mischung.

    E.s großes Lebensglück war es, in einem Antinazi-Umfeld aufgewachsen zu sein. Nicht allen Kindern war das vergönnt damals. Die Eltern hatten einen großen Freundeskreis, durchwegs kinderlos, was dem kleinen Mädchen viele Wahltanten und Wahlonkel in einer wunderbar umhegten Kindheit bescherte. Aus Mangel an anderen Sprösslingen wurde es zum Verwöhnungsobjekt schlechthin. Auch viele kunstnärrische Arbeitskollegen des Vaters gingen stets im Hause ein und aus, gewesene, aktive oder verhinderte Künstler und Künstlerinnen. In diesen Kreisen gab es weniger Anfälligkeit für das Böse, zudem waren ja auch viele jüdischer Abstammung. Das kleine Mädchen passte bei diesen Besuchen immer gut auf, was da so gesprochen wurde. Hatte die Ohren penibel gespitzt. Es konnte sich an Gespräche und Begebenheiten noch lange danach erinnern, selbst wenn ihre Mutter das nicht für möglich hielt, denn es wäre ja damals erst drei Jahre alt gewesen. Dennoch hatten sie sich eingebrannt in ihr Gedächtnis, wie so manche andere frühe Szene auch. Bildhaft, manchmal erschreckend genau.

    Das Gewitter am Land etwa, als der Vater sie buckelkraxen (= huckepack) trug und ängstlich mit ihr ins Sommerquartier galoppiert war, einen überquellenden Bach entlang. Oder ihr Überkritzeln des Titelbildes von Ginzkeys Kinderbuch Hatschi Bratschis Luftballon mit dem Zauberer und seinen wilden Stielaugen, vor denen sie sich so sehr fürchtete. Einige Buntstiftstriche über die Augen, und der Schrecken war gebannt. Welch eine hilfreiche Abwehr! Nicht alles Unangenehme ließ sich später so einfach überkritzeln. Obwohl: Die fiesen Gesichter mancher Politiker auf Zeitungsfotos sollte sie später auch als Erwachsene quasi unsichtbar machen, indem sie sie einfach zerriss, herausriss und zerknüllte …

    An eine Schallplattenaufnahme samt Trichter, die die Mutter Anfang der Vierzigerjahre als Geburtstagsgeschenk für den Vater in einem privaten Tonstudio organisiert hatte, erinnerte sie sich auch noch genau. Mama sang wunderhübsch ein Lied des Vaters, Bruder Robert sprach ergriffen einen klassischen Monolog, und das Töchterchen sagte von Onkel Erich verfasste Zeilen auf:

    »Singen kann ich leider nicht, darum sprech’ ich ein Gedicht; zwar bin ich keine große Dame, ganz unbekannt ist auch mein Name; ich hab’ dich lieb für alle Zeit und die Platte dir geweiht«.

    Es rührte E. zu Tränen, als sie ihr Stimmchen Jahrzehnte später dank der Computertechnik wieder hören sollte. Auch weil sie sich daran erinnerte, wie schlimm die Zeiten sehr bald danach geworden waren.

    Sie hatte schon als kleines Kind gespürt, dass es da irgendetwas gab, wovor sich alle fürchteten. Irgendeine Gefahr. Nur wusste sie nicht, wo diese lauerte. Einmal hatte sie den Vater mit einer Tuchent über dem Kopf im Bett hockend entdeckt, er hörte einen ausländischen Sender, was streng verboten war, worauf die Mutter erschrocken rief: »Der Papa inhaliert, er hat Husten!« Das Kind deutete daraufhin die seltsam knarrenden Geräusche als das Rasseln aus Papas Bronchien.

    Aus Tuscheleien wie »Pst, das Kind hört zu« wurde sie nicht recht klug. Sie ahnte nur, Nazi, das war irgendetwas Diffuses, vor dem sichtlich alle Angst hatten. Einmal erzählte sie ganz aufgeregt, sie hätte einen Hund gesehen, der sei auch ein Nazi gewesen. Gab’s jetzt sogar schon Hunde mit Parteiabzeichen?, rätselten die Eltern. Es hatte sich jedoch um einen Blindenhund mit einer Plakette des Roten Kreuzes gehandelt, schwarz, weiß, rot. Sah halt so ähnlich aus für das Kind. Eine Abneigung gegen Abzeichen jeder Art sollte ihr davon bleiben, sie wollte sich niemals irgendetwas anstecken lassen, sondern lieber sagen, auf wessen Seite sie stand, wogegen und wofür sie war. Auch Uniformen aller Art gegenüber war sie durch die Kriegserfahrungen immer misstrauisch geblieben.

    Für den Vater waren die mit Uniformen verbundene Gleichmacherei, der Stechschritt und der Kadavergehorsam die Grundübel vieler Katastrophen. Er zitierte gerne Goethe, wonach die Uniform den Charakter verdecke. Wieso begingen ganz normale brave Männer, kaum hätten sie eine Uniform an, grässliche Taten und würden dann in Zivil wieder zum freundlichen Wirt, zum hilfsbereiten Buchhalter? Dennoch hatte der Vater in beiden Weltkriegen Uniform tragen müssen. Dagegen gab es kein Sichwehren, außer man war ein Held. Es hätte nicht zu wenige Gerechte gegeben, meinte er, sondern zu wenige Helden. Das Heldentum eines Franz Jägerstätter oder der Geschwister Scholl, die alles für Gerechtigkeit und Wahrheit zu opfern bereit gewesen wären, dieses Heldentum könne man jedoch nicht von jedem einfordern. Geringster Widerstand und die Vernaderung eines rabiaten Parteianhängers genügten damals schon, um grausame Sanktionen nach sich zu ziehen. Samt Sippenhaftung.

    Es gab ein Ereignis, das den Vater ein Leben lang nicht losließ: Sein sechzehnjähriger Sohn Robert hatte eines Tages während des prononciert nationalsozialistisch geprägten Unterrichts laut gerufen, das Deutsche Reich sei ein Verbrecherregime, es geschehe großes Unrecht und der Krieg würde unzählige Tote bringen. Daraufhin wurde sein Vater sofort zur Schulleitung beordert. Vorher hatte er noch zu seinem Sohn gesagt, er verstünde dessen gerechte Wut, aber sie lebten in einer Diktatur, und nur durch eine sogenannte weiße Lüge könnten sie jetzt überleben, sonst würden sie beide eingesperrt, und die Mama stünde mit dem kleinen Kind alleine da. Dann entschuldigte er in der Vernehmung das »Vergehen« seines Sohnes als pubertäre Entgleisung und beteuerte, er habe nicht die geringste Ahnung, woher der Sohn solch eine schreckliche Meinung hätte. Tatsächlich kam er mit diesen Ausreden davon. Der Sohn allerdings wurde sofort danach zum Arbeitsdienst nach Sankt Oswald eingezogen. Immer und immer wieder sagte der Vater später leise, dass er damals eben nicht wie ein Held gehandelt hätte, sondern den Schergen gegenüber die vom Sohn rausgeschriene Wahrheit verleugnet hätte, um die Familie zu schützen.

    Diese Geschichte hatte E. bei aller tiefen Verehrung für jene, die aktiven Widerstand geleistet hatten, doch versöhnlicher werden lassen gegenüber den damaligen Nicht-Helden und Nicht-Heldinnen.

    Die Eltern hatten die Tochter jedoch später auf ihrem Weg vom behüteten Nesthäkchen zur erwachsenen Frau durchaus zu Widerspruch ermutigt, dazu, sich nichts gefallen zu lassen, sich zu wehren, wo es notwendig und gerechtfertigt war. Trotz ihrer elterlichen Sorge, sie könne sich eines Tages allzu viel ›zumuten‹, wie sie es nannten. Dreizehn Jahre lang gewartet hatten sie auf dieses Mädchen, nun wollten sie, dass es ihm gut ginge und ihm nichts Schlechtes zustieße.

    Der prägende Schlüssel für E.s gesamtes Leben: Sie war ein erwünschtes und ersehntes Mädchen. Bereits als kleines Kind sei sie recht selbstbewusst gewesen, erzählte man ihr später. Auf einem Foto schaut sie als Dreijährige mit kritischem Blick in die Kamera, als beobachte sie akribisch die Arbeit des Fotografen, und wehe, das Ergebnis würde nicht entsprechen. Früh schon hatte sie kleine Lieder und Darbietungen »aus dem Stegreif« in den diversen Geschäften präsentiert und konnte neben Applaus stets auch eine Belohnung lukrieren, ein Stückchen Käse, ein Kipferl und natürlich ihre geliebten sauren Essiggurkerln, die ihr lieber waren als jedes Zuckerl. Die Kleine war ein gehätscheltes Kind im heimatlichen Grätzel, alle wussten, wie sehr und wie lange die Mutter auf ein Mäderl gewartet hatte. »Na, jetzt haben Sie ja endlich Ihr Mäderl, Ihre kleine Prinzessin!« Sehr oft bekam das Kind das zu hören. Wieso Prinzessin?, dachte es. Wo war denn der Prinz?

    In der Familie hatte das endlich eingetroffene Mädchen tatsächlich die Position einer Prinzessin – in all der gegebenen Bescheidenheit eben. Die Wohnung war ihr

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