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Die Gewandmeisterin: Roman
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eBook328 Seiten4 Stunden

Die Gewandmeisterin: Roman

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Über dieses E-Book

Es wird wieder Theater gespielt in London in diesem eisigen Winter 1947. Doch der beliebte Schauspieler Charlie Grice ist nun tot. Seine Witwe Joan, die Gewandmeisterin, und ihre Tochter Vera sehen mit gemischten Gefühlen, wie ein anderer seine Glanzrolle übernimmt. Allzu nahtlos? Magisch lebensnah? Ein prickelnder Roman um Liebe, Tod und Trauer, tröstliche Kleider und schreckliche Uniformen.

• Ein Roman von erzählerischer Finesse, spielend zwischen Theater und Realität, Tod und Liebe.
• Faszinierend, überraschend und nicht ohne eine schaurige Note.
• Mit viel Theaterflair und leichtfüßig vermitteltem psychologischem Tiefgang.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Aug. 2018
ISBN9783772544071
Die Gewandmeisterin: Roman
Autor

Patrick McGrath

Patrick McGrath was born in London and grew up near Broadmoor Hospital, where for many years his father was a Medical Superintendent. He has lived in various parts of North America and spent several years on a remote island in the north Pacific. He moved to New York City in 1981. He is the author of The Grotesque Spider, Dr. Haggard's Disease, Asylum, and Martha Peake. He lives in New York and London and is married to actress Maria Aitken.

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    Buchvorschau

    Die Gewandmeisterin - Patrick McGrath

    Anmerkungen

    1

    Der Schauspieler Charlie Grice war tot. Es war ein Schock, und die wackere Gemeinschaft der Männer und Frauen der Londoner Theaterwelt hatte sich zur Trauerfeier eingefunden. Es war Januar 1947, ein bitterkalter Tag in Golders Green. Wir versammelten uns auf dem Vorplatz, und wir waren so viele, dass die Nachzügler nicht mehr in die große Kapelle passten und draußen bleiben mussten. Ein volles Haus; nun, Gricey hatte das wahrlich verdient. Aber ob er selbst sich für Golders Green entschieden hätte, das bezweifeln wir doch sehr. Seine Tochter Vera trug eine dunkle Sonnenbrille und einen schwarzen Pelzmantel. Ebenfalls Schauspielerin, sah sie zerbrechlich aus und klammerte sich die ganze Zeit über an den Arm ihrer Mutter. Joan Grice, so hieß die Mutter, trug gleichfalls Schwarz, und einen Schleier. Sie war nicht sonderlich beliebt, Joan, aber es fiel schwer, an diesem Tag kein Mitleid für sie zu empfinden. Offenbar war es eine gute Ehe gewesen.

    Uns ist zu Ohren gekommen, dass manche Joan Grice für schön halten. Eindrucksvoll, das ja, eine imposante Erscheinung. Ihr Haar war schwarz, ohne auch nur einen einzigen Silberfaden. Sie trug es streng nach hinten gekämmt, um, wie es hieß, der Welt noch besser mit sensengleicher Schärfe begegnen zu können. Ebenso groß wie ihr verstorbener Mann, schlank, das Gesicht blass und markant geschnitten, das Kinn immer hoch erhoben, wirkte sie wie aus hartem weißem Stein gemeißelt; der Gesamteindruck konnte dramatisch sein. Aber, ach – und wir sagen das nur höchst ungern – ihre Zähne waren grässlich! Bräunlich, mit schwarzen Verfärbungen an den Zahnhälsen, und mit Lücken dazwischen. Und wie bei so vielen Engländern war das vielleicht auch bei ihr der Grund für ihre mürrische Art, sprich, ihre tief verwurzelte Abneigung gegen jedes Lächeln. Aber ungeachtet ihrer scharfen Zunge war sie ein klar denkender Mensch, sogar wenn sie etwas getrunken hatte. Und sie war eine der besten Gewandmeisterinnen in ganz London.

    Sie selbst bevorzugte gute, schwarze Stoffe und klassische Schnitte, vielleicht mit einem Hauch Silber an Hals oder Handgelenken. Mit der Nadel konnte sie geschickter umgehen als die meisten, wenn sie musste, und schnell war sie noch dazu. Mit einem kleinen Pölsterchen hier, einem Besatz da, einer Falte, einem Abnäher, einer Anstecknadel – einem Stückchen Spitze – konnte sie das hoffnungsloseste Kleidungsstück in etwas Elegantes und Vornehmes verwandeln. Unter dem Mantel trug sie eine Kastenjacke mit breiten Schultern und einen schmalen Rock. Reine Seide an den Beinen.

    Joan war stolz auf ihre Arbeit und erwartete von allen, die ihr unterstanden, dass sie ihren hohen Maßstäben gerecht wurden. Sie hatte immer versucht, ihrem Mann die vernichtenden Äußerungen zu ersparen, mit denen sie andere, geringere Sterbliche traktieren konnte, nicht immer mit Erfolg. Aber wenn es die gemeinsame Tochter betraf – also wenn es um Vera ging –, war sie eine Löwin. Die meisten der Anwesenden waren ihr bekannt, allerdings gab es auch ein paar wenige – wir wussten, wer sie waren, oh ja –, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Sie sahen nicht aus wie Theatermenschen, aber schließlich hatte Gricey mit allen möglichen Leuten verkehrt, Kriminelle nicht ausgeschlossen. Sir John Brogue war da, ausnahmsweise in guter Verfassung, Joan hatte sich oft um seine Kostüme gekümmert, und da war Dame Anna Flitch, ganz in Weiß. Ein vages Lächeln auf dem schlecht gepuderten Gesicht, verteilte sie Lilien – wo um alles in der Welt hatte sie die in diesem Winter der Entbehrungen aufgetrieben? Ed Colefax war anwesend, und Jimmy Urquhart, der seinen Gefängnisaufenthalt offenbar unbeschadet überstanden hatte, ihre alten Freundinnen Hattie Waterstone und Delphie Dix – die ehemalige Revuetänzerin saß inzwischen im Rollstuhl – und Rupert, völlig abgebrannt, so hieß es, und natürlich viele von der alten Truppe, die, die den Krieg überlebt hatten – allein der Gedanke, dass Gricey das alles verpasste! Er wäre begeistert gewesen.

    Vera trug immer noch die dunkle Brille und klammerte sich an den Arm ihrer Mutter, als sie auf die Kapelle zugingen – es war nicht zu übersehen, dass das arme Mädchen zutiefst bekümmert war. So hochgewachsen und anmutig, stattlicher als ihre Mutter und doch an diesem Tag so zart, es konnte einem wirklich das Herz brechen, dachten wir.

    Veras Mann war Julius Glass, ehemals Theaterbesitzer, ein dünner Mensch mit fahler Haut, gute zwanzig Jahre älter als sie. Er nahm ihre linke Seite ein. Neben ihm ging Gustl Herzfeld, eine geflüchtete Jüdin, die er anscheinend vor den Nazis gerettet hatte – eine überaus interessante Person. Sie hatte Hattie erzählt, sie sei Julius’ Schwester, aber das bezweifelten wir. Offen gestanden fanden wir es unglaubwürdig. Julius sah ernst und wachsam aus und überragte seine Frauen wie eine Art gelber Fischreiher. Welche Gefühle Joan ihm an diesem Tag entgegenbrachte, ließ sich nur vermuten, aber uns war zu Ohren gekommen, dass Julius und Gricey nicht unbedingt auf bestem Fuß miteinander gestanden hatten – um es vorsichtig auszudrücken –, und es hieß sogar, Julius sei da gewesen, auf der Treppe, als er stürzte.

    Aber sie stellten nun einmal die Familie dar, und gemeinsam wurden sie nach vorne geleitet und nahmen ihre Plätze ein. Hinter sich hörte Joan das Gemurmel vieler Stimmen und hin und wieder ein leises Lachen. Wir alle hatten Gricey geliebt; zumindest einige von uns. Dann wurde der Sarg hereingebracht. Ach, gewiss der schwerste Augenblick. Er hatte seinen Auftritt von links, getragen von sechs kräftigen Männern. Ein krampfartiges Aufschluchzen von Vera, und Julius legte den Arm um sie. Joan dachte, sie würde ihn von sich abschütteln, aber stattdessen schmiegte Vera sich an ihn, als würden ihre Beine anderenfalls nachgeben und sie selbst auf dem kalten Steinboden zusammensinken, das arme Mädchen. Und es war kalt in der Kapelle, verdammt kalt, wir sahen, wie sich der Atem der Sprecher in der klammen Kälte der gedrängt vollen, dunstigen Kapelle in Dampf verwandelte. Für den späteren Tag war Schnee vorhergesagt. Oh weh, dachten wir, wir können uns auf einen weiteren verflucht kalten Winter gefasst machen.

    Dann traten sie der Reihe nach ans Rednerpult, um über den Mann zu sprechen. Es gab Anekdoten. Über seinen Kriegseinsatz als Sonderkonstabler im West End. Die Geschichten, die er erzählt hatte. Er war vor Ort gewesen, nachdem diese furchtbare Bombe in den Lüftungsschacht des Café de Paris eingeschlagen war, eine furchtbare Sache. Sie riss Snakehips Johnson in tausend Stücke. Hundertsechsundachtzig Menschen starben in jener Nacht in London. Nettigkeiten wurden in Erinnerung gerufen, moralische oder finanzielle Unterstützung, die er anderen in Zeiten einer Krise oder eines Verlusts hatte zukommen lassen. Finanziell, dachte Joan, und wo bitte war das Geld hergekommen? Es war nie besonders viel übrig gewesen.

    Wellen der Sympathie wogten von jenen im hinteren Teil der Kapelle zu denen, die ihm am nächsten gewesen waren, das spürte sie in diesem Augenblick, und ein Großteil davon galt Vera, deren Geschichte den Anwesenden bekannt war. So vielversprechend, eine strahlende Bühnenpräsenz, das sagten alle. Völlig verzweifelt. Sie hatte ihrem Vater natürlich sehr nahegestanden. Alles, was sie konnte, hatte sie von ihm gelernt, und jetzt? Am Boden zerstört.

    Als die Trauerfeier vorbei war und wir beobachteten, wie der alte Gricey in seinem Sarg nach hinten abging, durch die Vorhänge – in seinem Sarg, seinem Sarg ! – und wie sollen wir ohne ihn weiterleben ?, das müssen beide, Mutter und Tochter, gedacht haben –, war die Gefahr eines Zusammenbruchs am größten. Aber sie standen hoch aufgerichtet da, Vera jetzt ohne die dunkle Sonnenbrille, sodass wir ihre feuchten, geröteten Augen in dem bleichen, tragischen, selbst im Kummer schönen Gesicht sehen konnten. Sie hakte sich wieder bei ihrer Mutter ein, als sie langsam durch den Gang schritten, und im ganzen Haus blieb kein Auge trocken, alle Blicke waren auf diese beiden groß gewachsenen, langsam dahinschreitenden Frauen in Schwarz gerichtet, die Mutter aufrecht und schmal, die Tochter unsicherer, fast schien sie in ihrer Trauer zu schwanken. Wie königliche Hoheiten wandten sie sich nach rechts und links, boten mitleidigen und verweinten Gesichtern, die ihnen aus Dutzenden Garderoben und von unzähligen Applausauftritten, Premierenfeiern und durchfrorenen Proben in kalten Gemeindesälen mit Eis an den Fenstern vertraut waren, ein verhaltenes Lächeln. Das hier war unsere Welt. Wir verabschiedeten uns von einem der Unseren.

    Dann waren wir wieder auf dem Vorplatz. Julius hatte sein Haus für den Leichenschmaus angeboten, sogar für den Transport jener gesorgt, die kein eigenes Transportmittel hatten. Joan war nicht besonders glücklich darüber, das war klar, hatte aber nicht die Energie, dagegen zu protestieren, die Arme. Es ist ein weiter Weg nach Tipperary, noch weiter ist es von Golders Green nach Pimlico, aber wir fuhren los, Dutzende von uns, und als die Familie später zu uns stieß, nachdem sie Griceys Einäscherung beigewohnt hatte, war die Feier in vollem Gang.

    Unterm weiten Sternenzelt

    grabt mir meinen letzten Ort.

    Schauspieler sind wie Priester, oder vielleicht wie Leichenbestatter, hört man oft, denn wir leben mit dem Tod auf mehr als vertrautem Fuß. Wir alle sind auf der Bühne Tausende von Malen gestorben, und wir nehmen das keineswegs leicht. Allerdings nehmen wir es auch nicht allzu ernst. Was wir ernst nehmen, ist das Leid der Hinterbliebenen, und so waren wir zuhauf für den alten Gricey erschienen, und als Joan und Vera das Haus von Julius betraten, war es randvoll, Leute in jedem Zimmer – sogar im Garten hinter dem Haus, trotz der Kälte und der langen Fahrt, aber Vera hatte darauf bestanden. Sie wollte, dass der Leichenschmaus für ihren Vater im Haus ihres Mannes stattfand, so wie sie gewollt hatte, dass er in Golders Green eingeäschert wurde, und wer hätte es ihr abschlagen können? Sie hatte ihre Gründe, und ihre Mutter wusste, dass es keinen Zweck hatte, mit ihr zu diskutieren, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Selbst wenn es bedeutete, dass die Feier im Haus dieses Mannes stattfand.

    Als sich die Haustür hinter ihnen schloss und das Gewoge der Stimmen über ihnen zusammenschlug und sie weitergehen und Teil des Ganzen werden oder vielmehr die Hauptrollen übernehmen mussten, hörte Joan sie zum ersten Mal – leise, amüsiert, doch unverkennbar – die Stimme ihres Mannes.

    Reiß dich zusammen, Liebes. Das hier ist dein großer Auftritt.

    In der Küche reichte ihr irgendjemand einen großen Gin, aber sie war verwirrt, geradezu fassungslos, weil sie Griceys Stimme gehört hatte, und sie wollte mehr. Sie wollte ihn noch einmal hören, nein, sie wollte sich mit ihm unterhalten, daher verließ sie die Küche und ging nach oben ins Schlafzimmer von Julius und Vera und setzte sich aufs Bett. Aber nichts. Stille. Sie flehte ihn an, noch etwas zu sagen. Sie hörte die Rufe und das Lachen der vielen Dutzend Leute, die unten versammelt waren, nicht aber Gricey. Zum ersten Mal seit seinem Tod hatte sie das Gefühl, zu zerbrechen wie ein abgestorbener Zweig im Winter, erzählte sie uns später. Sie weinte jetzt, ebenso sehr aus Enttäuschung wie aus Kummer, und merkte nicht einmal, dass sie zitterte, bis sich die Tür langsam öffnete. Sie drehte sich um, erstarrt, unfähig, vom Bett aufzustehen – ohne zu wissen, was sie erwartete –, dann erschien ein Kopf in der Tür. Vera.

    «Hier bist du. Oh Gott, Mum, du bist ja halb erfroren.»

    Sie bot wirklich einen erbarmungswürdigen Anblick, vermutete sie, zitternd und weinend auf dem Bett, und es war ihr gar nicht recht, dass Vera sie so sah. Vera hatte ihre Mutter nur höchst selten einmal weinen sehen und betrachtete sie nun mit einer gewissen Neugier. Sie setzte sich neben sie aufs Bett und legte sanft die Arme um sie. Joan erzählte ihr, was passiert war, dass sie Griceys Stimme gehört hatte, und Vera sagte nicht, sie habe sie auch gehört, denn das hatte sie nicht. Sie hielt ihre Mutter einfach nur in den Armen und murmelte tröstliche Worte. Dann sagte sie, sie müssten wieder nach unten gehen, zur Feier, und damit hatte Joan nicht gerechnet, da Vera ihr vorher zu verstehen gegeben hatte, dass eine Feier das Letzte sei, was sie brauche, aber es war nun einmal die Totenfeier für ihren Vater. Und sie sagte zu ihrer Mutter, sie müssten sich wieder ins Getümmel stürzen. Oder, wie Gricey es ausgedrückt hätte – wie er eben gesagt hatte – : Reiß dich zusammen, Liebes. Das hier ist dein großer Auftritt.

    Und sie gingen nach unten in die Küche, wo irgendein betagtes weibliches Wesen zu Joan sagte, sie wisse genau, wie sie sich fühle, weil auch sie ihren Mann verloren habe.

    «Wann?», fragte Joan.

    «Weihnachten vor siebzehn Jahren, meine Liebe.»

    «So lange halte ich nie im Leben durch», sagte Joan. Und fragte die Frau, ob sie ihn immer noch vermisse.

    «Ja, meine Liebe, ja, das tue ich.»

    Und sie beugte sich ein Stück näher und fügte hinzu: «Ich habe ihm noch nicht gesagt, dass er gehen kann.»

    Dann umklammerte sie Joans Ellbogen, nichts als Talkumpuder, Gekicher, Mottenkugeln und Gin, und sagte, sie sei noch nicht mit ihm fertig.

    Mit ihm fertig?, dachte Joan. Für sie würde es auch kein Fertigwerden geben, nicht, bis auch sie tot war und sie beide, sie und Gricey, nur noch Lichtpunkte in den Köpfen derer waren, die sich an sie erinnerten. Ja, und mit jedem vergehenden Jahr würden sie schwächer leuchten, bis sie irgendwann so blass sein würden, dass es an Unsichtbarkeit grenzte, und verlöschten. Danach würde nichts mehr von ihnen übrig sein, dachte sie, nur Dunkelheit. Das bedeutet fertig, dachte sie.

    Ja, es war Januar, der 17. Januar 1947. Bis dato der kälteste Tag des Jahres. Das wirst du nie vergessen, wie könntest du auch?

    Gern weilt’ ich auf dieser Welt,

    geh nun gerne wieder fort.

    Später am Abend, als es anfing zu schneien, saß sie in der Wohnung in der Archibald Street, in der sie und Gricey fast dreißig Jahre gelebt hatten, am Küchentisch. Sie lag in Mile End, nur ein kleines Stück vom Friedhof und der St. Clement’s-Kirche entfernt. Joan hatte den Kopf in den Händen vergraben und ein flaues Gefühl im Magen. Kummer kommt in Wellen, das lernte sie allmählich, und in Stadien. Sie begann mit einer Auflistung all der Dinge, die geschehen waren, und es war schwer, keine Schuldzuweisungen vorzunehmen. Natürlich war es ihre Schuld, dessen war sie sich bewusst, sie hätte ihn retten müssen, obwohl er Gott weiß selbst in seinen besten Zeiten ein schwieriger Mensch gewesen war, und seit Neuestem hatte er Probleme gehabt, seinen Text zu behalten, und musste ihn jeden Morgen noch einmal durchgehen. Er hatte ein Engagement am Irving Theatre in St. Martin’s, wo er den Malvolio spielte, und ja, er hatte getrunken, er war wütend gewesen, und sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass es nie passiert wäre, wäre er nicht so wütend auf Julius Glass gewesen, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was genau die beiden Männer zueinander gesagt hatten, außer, dass es wahrscheinlich um Vera ging, und nach allem, was sie über Julius wusste, wäre jeder wütend auf ihn gewesen und durch die Hintertür gestürmt und, ach je – arme Joan – die Treppe hinuntergestürzt …

    Eine Woche später ging es ihr nicht besser. Sondern schlechter. Zwischen ihnen hatte es eine Weile, also gut, seit Jahren, wenn sie ehrlich war, nicht zum Besten gestanden, aber das änderte nichts an ihren Gefühlen. Sie hatte dem Mann ihr Herz geschenkt, und wenn er sich von ihr entfernt hatte, dachte sie, dann weil Männer das nun einmal taten. Er kam immer noch jeden Abend zu ihr nach Hause. Inzwischen war sie überzeugt, dass er keineswegs gestorben war. Nein, er war lebendig begraben worden. Sie hatte zugelassen, dass sie ihn lebendig begruben. Tatsächlich hatte sie ihn einäschern lassen, aber natürlich konnte sie nicht klar denken. Wieder war es spät, wieder konnte sie nicht schlafen, und sie war in die Küche gegangen, um sich noch einen Schluck Gin zu holen. Sie waren zwei Hälften eines Ganzen, dachte sie, sie und Gricey, untrennbar. Oder nein, unzertrennlich, selbst wenn sie getrennt waren. Selbst wenn er wegen eines Engagements nicht in der Stadt war, waren sie im Geist unzertrennlich gewesen. Und waren es immer noch. Sie versuchte, sich nicht zu lange bei dieser Vorstellung aufzuhalten, aber gelegentlich machte sie sich derart vehement bemerkbar, dass sie gezwungen war, sich damit zu beschäftigen. Einmal war es passiert, als sie nach Hause radelte. Da durchbrach ein plötzlicher Schrei, der aus ihrer Kehle gellte, die Dunkelheit, und natürlich galt er Gricey, der tot war – zumindest wurde das behauptet –, der sie zurückgelassen hatte, und nun musste sie sich um alles kümmern, das Leben, das weiterging, die Probleme ihrer Tochter, alles. Sie hatten ihn eingeäschert, sie hatte angefangen zu trauern, und jetzt war sie zum ersten Mal, wie es schien, nicht nur mit seiner Abwesenheit konfrontiert und mit einer Stille, die einst von diesem unvergleichlichen Mann ausgefüllt worden war, zärtlich, witzig, treu auf seine Art – er war nun einmal Schauspieler, diesbezüglich gab sie sich keinen Illusionen hin –, und unglaublich loyal. Nahmen die Qualitäten, die sie jetzt, wo er tot war, in ihm entdeckte, denn kein Ende? Was spielte es für eine Rolle, dass er ihr gegenüber gelegentlich kurz angebunden war, dass er launisch war, dass er einmal warm, einmal kalt war – er war der Mann, mit dem sie siebenundzwanzig Jahre zusammengelebt hatte, und sie selbst war auch nicht gerade ein unproblematischer Mensch. Und es war nicht nur er selbst, den sie vermisste. Es war sein sicheres, klares Gespür dafür, was man zu Vera sagen musste, wie ernst man ihre Krisen nehmen musste; und vor allem, wie man das Mädchen wieder auf den Boden zurückholte, wenn sie anfing, die Wände hochzugehen, was in letzter Zeit häufiger vorzukommen schien, in dieser düsteren, freudlosen Zeit der Kälte, der Sehnsucht, des Verlusts …

    Nein, Joans Problem bestand darin, dass er nicht da war, um ihr zu raten, und darüber war sie wütend, und es machte ihr Angst. Wann kam er denn nun nach Hause? Wann?

    Sie war völlig erschöpft in der Wohnung angekommen, hatte die Katze gefüttert und sich einen gehörigen Schluck Gin eingeschenkt. Sie war in sein Zimmer gegangen, wo seine Kleider im Schrank hingen und er manchmal auch geschlafen hatte – oft, wenn sie ehrlich war –, und sie hatte am Fenster gestanden und auf die Straße hinabgeblickt. Laternenmasten, Zäune, Pflastersteine, die Friedhofsmauern ein Stück weiter, und es schneite wieder. Eine Weile saß sie auf seinem Bett. Sie trank ihr Glas aus und beschloss, sich noch eins zu gönnen. Wieso auch nicht? Auf dem Weg zurück in die Küche merkte sie, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie wollte einfach nur seine verdammte Stimme noch einmal hören.

    Als sie am nächsten Morgen wach wurde, spürte sie die beiden großen Gins, die sie vor dem Schlafengehen getrunken hatte. Früher hatten sie und Gricey sich gelegentlich einen Cocktail genehmigt, waren manchmal in den Pub gegangen oder ins West End gefahren, wenn sie bei Kasse waren. Allein zu trinken war Joan immer erbärmlich vorgekommen, es hatte etwas so Verzweifeltes. Mit wem willst du reden? Mit dir selbst? In den ersten Tagen war sie versucht, sich jeden Abend bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, aber das würde nur in den Wahnsinn führen, oder, wenn nicht in den Wahnsinn, dann in eine Art zügellose Stumpfheit, die das Licht in ihren Augen und das Feuer in ihrem Hirn auslöschen würde, und was wäre dann? Dann würde sie auf keinen Fall mehr die Kostümschneiderei des Beaumont Theatre leiten, das wäre dann. Dabei war diese Arbeit ihr Lebensinhalt. Ohne sie konnte sie gleich ganz aufgeben.

    Aber gestern Abend hatte sie eine Ausnahme gemacht, die sie jetzt bedauerte. Sie wusste genau, was passiert war. Es lag daran, dass sie in seinem Zimmer gewesen war, an seinem Schrank. Ein fataler Fehler.

    Ja, wir wissen. Lächerlich. Überaus unklug. Reiß dich zusammen, Liebes, wie rührselig willst du auf deine alten Tage denn noch werden? Sie hatte Vera nichts davon erzählt, sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, was sie dazu sagen würde. Sie hatte sich vorgenommen, seine Sachen wegzugeben, aber inzwischen waren fast zwei Wochen vergangen, und sie waren immer noch da, seine Anzüge, Hemden, Schuhe, seine Unterwäsche, alles. Er hatte so viel besessen, trotz der Sparmaßnahmen und der Rationierungen, auch von Stoffen. Was so absolut destruktiv war, war die Tatsache, dass sie immer noch einen schwachen Abglanz des Mannes heraufbeschwören konnte, wenn sie die Nase an einen Kragen oder einen Ärmel presste, und das brachte sie jedes Mal völlig aus der Fassung. Dieses Haaröl – wieso derart fast nicht wahrnehmbare Spuren eines abgestandenen Dufts das Wesen eines Mannes heraufbeschwören konnten, dessen irdische Überreste augenscheinlich auf ein kleines Häufchen Asche reduziert worden und in ein Gefäß gekippt worden waren, das sie unter ihrem Bett verwahrte, das ging über ihre Begriffe. Aber es brauchte nur einen großen Gin, manchmal zwei, und sie machte es wieder, oh ja, und oh, sie riss sie heraus, sie legte sie bereit, als sei sie sein Kammerdiener oder seine Garderobiere, breitete sie auf dem Bett aus, während sie ihn im Geist die ganze Zeit dabei bewunderte, wie er mit ihr zusammen das Haus verließ, oder auch, wie er aus ebendiesem Zimmer kam und sie fragte, wie er aussah. Denn er war eitel, der gute alte Gricey, er liebte messerscharfe Bügelfalten und klare Linien, natürlich war er nur ein einfacher Junge aus Tottenham, aber es gefiel ihm, sich wie ein Gentleman zu geben – ein echter Theatermann eben –, und in der nächsten Sekunde warf sie sich auf das Bett und krallte sich in den Stoff und vergrub die Nase in Kragen und Manschetten, in Achselhöhlen und Schritt …

    Komisch, nicht?, sagten wir, dass es so oft die starken Frauen sind, die sich an diese komplizierten Männer wegwerfen, die es im Grunde genommen nicht wert sind.

    Sie saß im Mantel am Küchentisch und schnitt eine halbe Banane in dünne Scheiben (es kam nicht oft vor, dass es einem gelang, eine Banane zu ergattern) und trank ihren Tee. Die andere Hälfte würde sie später essen. Ein grauer, windiger Tag, jetzt schon sehr kalt. In fünf Minuten würde sie rübergehen und die Sachen wieder auf die Bügel hängen, das Zimmer aufräumen. So wie wenn man am Morgen danach den Schauplatz einer Orgie betritt. Die ersten Anzeichen der Dämmerung am Himmel, wenn das Gelage zu Ende ist und die Zecher nach Hause gegangen sind. Verderbtheit, dachte sie. Ausschweifung. Vera und Julius wollten, dass sie zu einer Art Gedenkvorstellung ins Irving mitkam, für Gricey, sich sein Was ihr wollt noch einmal ansah. Nein, das würde sie nicht tun. Sie war dem nicht gewachsen. Aber sie musste zur Arbeit. Wir sehen sie jetzt so, wie wir sie in jenem Winter oft sahen, ganz in Schwarz, Mantel, Handschuhe, Hut, Strümpfe, auf ihrem hohen schwarzen Damenfahrrad von Raleigh mit dem am Lenker befestigten Korb und der silbernen Klingel und dem Reflektor am hinteren Schutzblech, dessen untere Hälfte weiß war. Sie fuhr in würdevoller Haltung, den Rücken sehr gerade, die Augen auf die Straße vor sich gerichtet. Mile End, Whitechapel, Aldgate, dann die City, Holborn bis Shaftesbury Avenue, dann im Leerlauf runter zum Piccadilly Circus, ein kleiner Schlenker um die Ecke zum Beaumont. Ihre Handzeichen waren von makelloser Präzision, die Sittsamkeit ihres Abstiegs eine Augenweide.

    «Morgen, Mrs Grice», murmelten ein oder zwei müde Stimmen, als sie die Werkstatt betrat, wo die Dampfbügeleisen zischten und die Nähmaschinen surrten. Sirr-Pause-Sirr-Pause machten sie. Tap-tap-tap-tap. Die Fenster waren beschlagen, gingen aber sowieso nur auf eine Wand hinaus, hier im Souterrain, dem untersten Teil des Gebäudes. Unsere Dämmerwelt, sagte sie dazu. Wieso war es hier drin immer so düster? Sie hatte hellere Glühbirnen verlangt, aber nein, selbst das Licht war in dieser dunklen neuen Welt rationiert, und manchmal hatten sie so gut wie gar keins, kein Wunder, dass alle blind wurden, über ihre Singer gebeugt, Augen, Hände, Schultern am Ende des Tages völlig hinüber.

    «Morgen, meine Damen. Esther, ist Miss Convilles Mieder schon fertig?»

    Sie bereiteten eine neue Inszenierung vor. Haus Herzenstod von George Bernard Shaw.

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