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High Heels und Turnschuhe
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eBook209 Seiten3 Stunden

High Heels und Turnschuhe

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Über dieses E-Book

Mit gepackten Koffern steht sie im leeren Haus und wartet darauf, dass der Tag anbricht, um zur Tür hinauszumarschieren. Alles will sie hinter sich lassen.
Vor dem Neuanfang verarbeitet Vera Wettin Erinnerungen, nimmt Abschied. Denkt zurück an das Stück Heimat, das die Großmutter ihr vermittelte, an ihren Vater, den sie erst bei einem Treffen kennenlernte, an Schulzeit, Heirat und die eigenen Kinder.
Die Vorfreude auf die neue Zeit in Florida ist nach dem unsteten Leben in Europa groß, Amerika die Erfahrung wert.
Es ist schön und aufregend, in der Welt herumzureisen. Doch die Zeit, wieder irgendwo anzukommen, wird ebenso zurückkehren. Und als „Meisterin der Anfänge“ freut sich Wettin bereits auf das, was nach Amerika kommt ...
„Meine Geschichte ist meine Geschichte, ich kenne sie gut“, kommentiert sie ihre interessante Biografie.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Nov. 2017
ISBN9783837220896
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    Buchvorschau

    High Heels und Turnschuhe - Vera Wettin

    Vera Wettin

    High Heels und Turnschuhe

    Roman

    AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

    FRANKFURT A.M. • LONDON

    Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.

    Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

    ©2017 FRANKFURTER LITERATURVERLAG

    Ein Unternehmen der

    FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE

    AKTIENGESELLSCHAFT

    Mainstraße 143

    D-63065 Offenbach

    Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

    E-Mail lektorat@frankfurter-literaturverlag.de

    Medien- und Buchverlage

    DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

    seit 1987

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

    Websites der Verlagshäuser der

    Frankfurter Verlagsgruppe:

    www.frankfurter-verlagsgruppe.de

    www.frankfurter-literaturverlag.de

    www.frankfurter-taschenbuchverlag.de

    www.publicbookmedia.de

    www.august-goethe-von-literaturverlag.de

    www.fouque-literaturverlag.de

    www.weimarer-schiller-presse.de

    www.deutsche-hochschulschriften.de

    www.deutsche-bibliothek-der-wissenschaften.de

    www.haensel-hohenhausen.de

    www.prinz-von-hohenzollern-emden.de

    Dieses Werk und alle seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

    Nachdruck, Speicherung, Sendung und Vervielfältigung in jeder Form, insbesondere Kopieren, Digitalisieren, Smoothing, Komprimierung, Konvertierung in andere Formate, Farbverfremdung sowie Bearbeitung und Übertragung des Werkes oder von Teilen desselben in andere Medien und Speicher sind ohne vorgehende schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und werden auch strafrechtlich verfolgt.

    Lektorat:Annette Debold

    ISBN 978-3-8372-2089-6

    Erster Teil

    Es ist sieben Uhr am Abend, ich sitze in der Küche; Sven, mein Mann, ist nicht zu Haus, er ist im Kino, zusammen mit einem alten Freund, und wird vor Mitternacht nicht zurück sein. Ich blicke aus dem Fenster in den großen Garten, in dem immer wieder eine Katze herumläuft, die ich nicht kenne. Sie hat ein orangefarbenes Fell. Eine hübsche Katze. Ich frage mich, zu wem sie gehört.

    Heute war wieder ein Tag der Abschiede. Abschiede, die aber nicht wehtun. Solche Abschiede machen mich froh und traurig zugleich. Froh, weil ich mich nun von jemandem trenne, der mir nicht wirklich wichtig war und ist. Traurig, weil ich denke, dass ich mich schon viel früher hätte verabschieden sollen. Warum also erst jetzt, einige Wochen, bevor ich gehe? Warum habe ich erst jetzt einen Schlussstrich gezogen unter Beziehungen, die mir nichts bedeuten? Beziehungen zu Menschen, die mir doch immer fremd geblieben sind und die ich nur nicht aufgegeben habe, weil ich nicht jemand sein wollte ohne andere Menschen, selbst wenn es Menschen waren, mit denen mich nichts mehr verband. Es waren Kompromisse, mehr nicht.

    Ich kenne jemanden, der hatte sich einmal den kleinen Finger gequetscht, und zwar so heftig, dass ihm der Arzt zu einer Amputation riet, wovon mein Bekannter aber nichts wissen wollte. Der Finger war verkrüppelt und zu nichts mehr nutze, aber er wollte sich partout nicht von ihm trennen. Bald begann der Finger zu schmerzen, und mein Bekannter musste Schmerzmittel nehmen. Es zog sich hin, die Medikamente wurden immer stärker, bis er sich endlich entschloss, den Finger doch abnehmen zu lassen. Wie erleichtert war er, als er keine Schmerzen mehr hatte und keine Medikamente mehr nehmen musste! Er bereute nun, dass er das nicht schon früher getan hatte.

    Mir geht es wie ihm. Meine „Freunde", sie waren wie dieser Finger meines Bekannten: Ich konnte mich nicht dazu entschließen, mich von ihnen zu trennen, obwohl ich nichts von ihnen hatte; sie waren da, mehr nicht. So wie dieser Finger. Man traf sich, man verbrachte Zeit miteinander, und hinterher war man leer und hatte das Gefühl, Zeit vertan zu haben. Vielleicht hatte ich mich zu sehr an sie gewöhnt. Vielleicht hatte ich auch Angst vor der Einsamkeit. Und je mehr ich mich im Laufe der Zeit veränderte, desto klarer wurde mir, dass sie nicht zu mir passen. Als ich ihnen endlich Adieu sagte, da war es wie ein tiefes Einatmen von klarer kalter Luft: Die Lungen füllen sich, und es tut zuerst ein kleines bisschen weh, aber nur ganz kurz, dann spürt man, wie gut einem diese klare kalte Luft tut.

    *

    Jetzt sehe ich wieder die orange Katze im Garten. Plötzlich hält sie inne und schaut mich an, blickt durch die große Fensterscheibe direkt zu mir, ein paar Augenblicke lang. Ich vergesse zu atmen und sitze bewegungslos da. Als sie weitergeht, bin ich sicher, dass sie nicht mehr zurückkommen wird. Ich schaue ihr hinterher, und fast bin ich ein bisschen traurig.

    Nun dauert es also nicht mehr lang, und ich bin weg. Zusammen mit Sven, meinem Mann. Weg von hier, von diesem Haus, dieser Straße, diesem Land, sogar diesem Kontinent. Weg von dem, was mich alles mit meinem alten Ich verbindet. Ich fange ein neues Leben an – diese Formulierung passt tatsächlich so genau, dass es schon fast komisch ist. Ich lasse alles hinter mir. Andererseits: Mein neues Leben, es hat schon angefangen, als ich begann, mich zu ändern, als ich mehr und mehr erkannte, was ich wirklich will und was nicht, als ich immer weniger bereit war, Kompromisse einzugehen.

    Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören. Wo hatte ich das neulich gelesen? Ich will jetzt wissen, von wem das stammt, stehe auf, gehe zum Computer, der auf dem Wohnzimmertisch steht, und google den ersten Satz. Treffer. Hermann Hesse hat’s gesagt, der Schriftsteller. Aha. Mir gefielen sie gleich, diese Sätze: Ich bin längst dabei, die Welt zu zerstören, die nicht die meine ist. Ich kämpfe mich aus dem Ei. Ich fange von vorne an. In ein paar Wochen geht es nach Amerika, genauer gesagt nach Florida. Mein „Lebenswechsel" bedeutet für mich auch: Ortswechsel. Das eine geht nur mit dem anderen. Das alte Ich ist hier verortet, alles hier ist voller Geschichten und Erinnerungen. Mein neues Ich gehört nicht hierher, es gehört woandershin.

    Die Zeit bis zum Aufbruch, sie ist geprägt von einer ganz eigenen Leere: Ich habe mich innerlich schon von nahezu allem getrennt, was mich mit dem Leben hier verbindet, aber ich bin ja noch immer hier und warte nur darauf, dass es losgeht. Ich stehe gleichsam mit gepackten Koffern in einem leeren Haus und warte nur darauf, dass der Tag anbricht und ich zur Tür hinausmarschieren kann.

    *

    Drei Tage zuvor. Ich bin in der Stadt unterwegs und habe einiges auf dem Zettel – ich muss in die Reinigung, brauche eine neue Bluse und muss wegen des bevorstehenden Umzugs noch zum Einwohnermeldeamt, um einige Unterlagen abzuholen. Zuerst gehe ich in die Reinigung. Vor mir stehen zwei junge Männer, beide haben mindestens ein Dutzend Hemden über dem Arm. Ich hoffe, dass es schnell geht, denn ich habe es etwas eilig, außerdem mag ich diesen typischen Chemiegeruch von Reinigungsgeschäften nicht und bin immer froh, wenn ich wieder draußen bin. Einmal dreht sich einer der Männer um, wir schauen uns an, und ich bemerke, wie er mich binnen eines Sekundenbruchteils mustert. Der Mann lächelt, vielleicht eine Sekunde zu lang. Ich lächele zurück, etwa eine Sekunde zu kurz, sodass er gar nicht erst auf falsche Gedanken kommt. Dann geht die Tür auf, es bimmelt, und jemand kommt also herein, ich drehe mich nicht um, sondern halte nach der Frau Ausschau, die die Kleidung entgegennimmt und vor einigen Minuten im hinteren Teil des Ladens verschwunden und seitdem aber nicht wieder aufgetaucht ist. Ich höre sie irgendwo lachen, einer der Männer mit den Hemden stöhnt und blickt auf seine Uhr, als mir plötzlich das Parfum der Frau, die hinter mir steht, in die Nase steigt. Seltsam, was ein Duft mit einem anstellen kann: Von einer Sekunde auf die andere bin ich wieder fünf, sechs, sieben Jahre alt, sehe mich im Garten spielen und rennen, mit meiner besten Freundin Klara, die ein paar Häuser weiter wohnte; es ist Sommer und sehr heiß, wir sind den ganzen Tag draußen. Dann, am Abend, sehe ich mich auf dem Schoß meiner Großmutter sitzen, sehe mich mit den Fingern durch ihre dichten langen Haare fahren, die hier und da schon etwas grau sind; sie lächelt und fragt mich, was ich heute so gemacht habe, und ich erzähle ihr also vom Tag und studiere dabei ihre Falten im Gesicht. Vor allem aber rieche ich ihr Parfum, von dem ich bis heute nicht weiß, wie es heißt. Aber diesen Duft werde ich nicht vergessen, dieser Duft gehört zu meiner Großmutter wie ihre Stimme, wie ihr Gang, wie ihr Blick; er ist untrennbar mit ihr verbunden, bis zum Ende meines Lebens. Dieser Duft, er ist ein wichtiger Teil meiner Kindheit, denn meine Großmutter ist es ebenso, und meine Großmutter ist eben auch dieses Parfum, dieser Duft. Und genau der liegt nun, wo ich in der Reinigung stehe, in der Luft. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Augen schließe und ihn tief einsauge. Wie lang ist es her, überlege ich, dass ich zum letzten Mal dieses Parfum gerochen habe? Vor einiger Zeit, als ich irgendeine Parfum-Reklame im Fernsehen sah, fiel mir der typische Duft meiner Großmutter wieder ein, und ich dachte daran, dass es dieses Parfum vermutlich gar nicht mehr gibt. Und da ich nicht weiß, wie es heißt, kann ich auch nicht in einen Laden gehen und mal nachschauen, ob man es noch kaufen kann.

    Ich drehe mich um, um zu sehen, wer da hinter mir steht, und dann erschrecke ich, weil es keine alte Dame ist, wie ich angenommen habe, sondern eine Frau, etwa in meinem Alter. Ich erschrecke, weil es in meiner Vorstellung so gar nicht zusammenpasst – dieser Duft und diese Frau, das überfordert mich jetzt ein bisschen. Die Frau, fällt mir auf, hat einen Leberfleck am Hals, etwa doppelt so groß wie ein Fingernagel. Plötzlich bin ich an der Reihe, die beiden Männer mit den Hemden sind verschwunden, ohne dass ich es bemerkt habe, die Frau hinter der Theke lächelt und hält mir geduldig ihren Arm hin, um mir meine Sachen abzunehmen, offenbar wartet sie schon ein paar Augenblicke. Ich war völlig in Gedanken versunken. Die Frau hinter mir kichert. Ich reiche der Dame hinter dem Tresen die Bluse hinüber, nehme den Zettel, den man mir aushändigt, und verlasse den Laden. Draußen stehe ich unter dem Vordach der Reinigung und überlege, was ich jetzt noch erledigen muss. In dem Moment kommt die Frau mit dem Parfum heraus, sie sieht mich und nickt mir flüchtig zu. Es ist kurz nach drei, ich habe noch manches zu tun, außerdem hat es inzwischen etwas zu regnen begonnen. Die Frau spannt ihren Schirm auf – ein knallroter Schirm mit großen gelben Punkten – und macht sich auf den Weg. Ich habe zwar weder Zeit noch einen Regenschirm, aber ich denke gar nicht lange nach und gehe ihr nach.

    *

    Im Abstand von etwa fünf, sechs Metern folge ich ihr, nicht zu dicht, sie soll mich schließlich nicht bemerken, aber doch so, dass ich ihr Parfum noch wahrnehmen kann. Sie trägt eine enge Jeans und dazu einen auffälligen rot-weiß gemusterten Mantel und erinnert mich damit an ein sehr bekanntes Bild von Gerhard Richter, dem Maler, auf dem eine junge Frau mit einer rot-weißen Strickjacke (oder ist es auch ein Mantel?) abgebildet ist. Sie wendet sich dabei von dem Betrachter ab, sodass man nur ihren Hinterkopf sieht. Das Ganze sieht aus wie eine Fotografie, aber Richter hat es eben doch gemalt und nicht fotografiert.

    Die Frau vor mir geht ziemlich flotten Schrittes die Straße hoch Richtung U-Bahn-Station, sodass ich Mühe habe, ihr zu folgen. Ich überlege: Soll ich sie ansprechen und fragen, wie ihr Parfum heißt? Sicherlich würde sie sich wundern, wenn ich auf einmal vor ihr stünde und sie anspreche, sie würde mich vermutlich wiedererkennen, sodass klar ist, dass ich ihr von der Reinigung gefolgt bin. Andererseits hätte sie bestimmt Verständnis, wenn ich ihr von meiner Großmutter erzählen würde. Verrückt, aber was ich will, ist wieder zurück zu den Erinnerungen an meine Kindheit, die in den ersten sieben Jahren ziemlich glücklich war; ich will wieder zurück zu meiner Großmutter, und ein bisschen gelingt mir das auch, nun, wo ich hinter der Frau hermarschiere. –

    Ich wohnte zusammen mit meiner Großmutter im unteren Teil der Villa, einer Gründerzeitvilla, die mein Großvater gebaut hatte, mit einem Garten so groß, dass man sich darin verlaufen konnte. Meine Mutter wohnte oben, ich sah sie aber praktisch nur morgens und abends, tagsüber war sie unterwegs, sie traf sich mit Freunden, ging reiten oder tanzen und vertrieb sich mit vielerlei Hobbys die Zeit. Wo waren die Männer des Hauses? Es gab sie hier nicht, mein Großvater war gestorben, als ich ein Jahr alt war, mein Vater verschwand im selben Jahr, denn es stellte sich heraus, dass er sich in Bezug auf Frauen nicht nur für meine Mutter interessierte. Sie schmiss ihn raus, und ich wuchs also in einem reinen Frauenhaushalt auf. Wir hatten keinen Mangel, mein Großvater hatte bis zu seinem Tod zusammen mit seinen vier Brüdern ein Unternehmen geleitet, das als Hersteller von Produkten für Agrartechnik sehr erfolgreich war und bis heute ist. Gegründet wurde es vor über einhundert Jahren von meinem Urgroßvater, einem strengen Herrn; es hieß, dass seine Kinder beim Essen nur stehen durften und schweigen mussten. Er hatte acht Kinder, sechs Jungen und zwei Mädchen; mein Opa, der Vater meiner Mutter, der früh starb, war der Älteste (und Schlaueste) von ihnen, er war es auch, der als Einziger studieren durfte und später, zusammen mit vier seiner Brüder, die Firma groß und erfolgreich machte. In den Achtzigerjahren war es dann die dritte Generation – die meiner Mutter –, die der Firma zu noch mehr Erfolg und Ansehen verhalf. Aber es waren stets die Männer, die das Sagen hatten. Die Frauen hatten nichts zu melden. Ich hatte mich nie gefragt, warum meine Mutter nicht arbeitete; Kinder stellen sich nun mal keine Fragen über Dinge, die für sie ganz natürlich sind, weil sie damit aufwachsen und es nicht anders kennen; Fragen kommen erst später. Tatsächlich war meine Mutter studierte Ingenieurin, was damals, in den Sechzigerjahren, durchaus ungewöhnlich war, sie durfte dann aber in dem Unternehmen ihres Vaters nicht arbeiten, weil Frauen dort nicht erwünscht waren. Und es war ihr auch verboten, bei einem Konkurrenzunternehmen zu arbeiten. Einmal erzählte sie mir, dass sie in der Firma ein Praktikum absolviert hatte (das durfte sie dann doch, aber mehr war nicht drin), und das Verrückte war, dass sie in dieser kurzen Zeit sogar einige Erfindungen gemacht hat, die der Firma sehr nützlich waren und die sie obendrein patentieren ließ. Aber dann war Schluss. Frauen waren nicht erwünscht. Meine Mutter kam für eine Anstellung in der Firma ihrer eigenen Familie nicht infrage.

    Wie gesagt, es fehlte mir an nichts, im Gegenteil, es hieß bisweilen sogar, ich wäre ein wenig zu verwöhnt. Vielleicht war ich das tatsächlich. Auf jeden Fall war ich glücklich – ich hatte ein eigenes großes Zimmer in einem großen Haus, ich hatte viele Freunde, ich hatte eine wunderbare Großmutter, die gut roch und immer für mich da war, und eine Mutter, die mir abends gern ein Geschenk mitbrachte, zum Beispiel eine Puppe, die Pipi machen konnte, wenn man ihr vorher ein bisschen Wasser in den Bauch verabreicht hatte, oder eine Schneekugel mit einer Katze, die einen Regenschirm in der Hand hielt, und wo es zu regnen anfing, wenn man die Kugel schüttelte. Solche Sachen.

    Mit Klara, meiner besten Freundin, verbrachte ich unendlich viel Zeit; mit ihr und den anderen Kindern aus der Nachbarschaft. Oft war ich den ganzen Tag draußen, niemand machte sich Gedanken, wo ich steckte, und erst am späteren Nachmittag trudelte ich wieder ein. Da, wo wir wohnten, nämlich in einer kleinen Stadt in Norddeutschland, fuhren nicht viele Autos, unser Haus lag in einer ziemlich ruhigen Gegend, und damals war man als Eltern noch um einiges sorgloser als heute.

    Wenn ich an meine Kindheit bis zum siebten Lebensjahr zurückdenke (und genau das tat ich ja jetzt, wo ich der Frau mit dem Parfum folgte), ist das ein einziger langer schöner Tag draußen, im Garten, auf der Straße oder bei Freunden, ist das Räuber und Gendarm und Verstecken spielen. Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, aber meine Mutter erzählte mir, dass sie mich oftmals, wenn ich irgendwann müde und vor allem verdreckt heimkehrte, mitsamt meinen schmutzigen Kleidern in die Badewanne steckte ... Und natürlich meine Großmutter. Sie nimmt viel Platz ein, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke.

    *

    Plötzlich ist die Frau weg, jedenfalls sehe ich sie nicht mehr. Ich war einfach zu sehr in Gedanken versunken und habe nicht aufgepasst. Herrje, wo kann sie sein? Dann entdecke ich sie in einem Schuhladen, oder besser gesagt in einem Geschäft, wo Schuhe repariert werden. Den Geruch dieser Läden wiederum liebe ich, diese Melange aus Leder und Klebstoff. Aber ich habe keine Schuhe zum Reparieren, und so gehe ich ein paar Schritte weiter und warte

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