Lucile
Von Willi van Hengel
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Über dieses E-Book
Die zunehmenden Zweifel treiben die Protagonistin immer mehr in die Einsamkeit. Der Austausch mit Freuden findet für sie nur noch an der Oberfläche statt, denn alles könnte auch anders sein. "Über alles lässt sich streiten, über alles lässt sich lachen: also über nichts!" Das Erleben von Kontingenz ergreift auch ihr eigenes Ich. Sie fühlt sich von anderen nicht mehr gekannt, denn gekannt zu werden bedeutet, von der eigenen Existenz überzeugt zu sein, und diese Selbstgewissheit hat die Protagonistin verloren.
Schließlich erscheint auch die scheinbar Halt gebende Brieffreundin Lucile als imaginär: "obwohl ich gar nicht weiß, ob es dich wirklich gibt, dort in Paris oder irgendwo anders, außer als ein Wort."
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Buchvorschau
Lucile - Willi van Hengel
Lucile,
… beinahe eingenickt in dem klapprigen Gartenstuhl, eingetaucht in ein Schaumstoffkissen, versteckt mich der Schatten des Kirschbaums vor dem Licht der sengenden Sonne. Im Kopf die Bilder von einer Fischerhütte in Südfrankreich, an einer noch unentdeckten Küste; sie tragen mich in die Hände eines Tagtraums, so, als wäre ich wirklich da.
Ich erwache in diesem kleinen Haus und verspüre den Drang zu schreiben. Dir zu schreiben, als hätte ich neunundzwanzig Jahre darauf gewartet, kommt nun zum ersten Mal der Gedanke, dass meine Geburt einen Sinn gehabt hat. In der Küche nebenan ist André mit dem Obst fürs Abendessen beschäftigt. Er singt dabei und summt zu der Musik, die aus dem Kofferradio in den Raum steigt. Ich setze mich an den Holztisch am Fenster und schreibe deinen Namen auf ein Blatt Papier – das oberste eines kleinen Stapels –, schreibe Lucile und weiß, dass ich damit ein würdiges Versteck meiner Empfindungen gefunden habe, vielleicht das würdigste überhaupt.
Als ich vor einigen Tagen nach dem Abendessen mit André in der Küche saß, eine Ecke französisches Brot, etwas Schafskäse und einige Oliven und Tomaten auf dem Tisch, ein Glas Wein in der Hand, und nachdem er, der mit einer halb abgeschnittenen Tomate spielte – er schaukelte sie mit dem Zeigefinger hin und her –, mich gefragt hat, ob ich ein genialisches Dasein, mit allen nur erdenklichen geistigen und gefühlsmäßigen Abstürzen, begleitet von seltenen, jedoch dann gottähnlichen Aufschwüngen, einem zufriedenen, mit den Problemen des Alltags bekleideten Leben vorziehen würde, bis hin zu der Vorstellung eines hingebungsvollen und leidenschaftlichen Todes, da konnte ich nicht mehr länger umhin, nicht mehr länger verdrängen, dass ich im Grunde meines Herzens gar nicht weiß, was ich will – außer zu schreiben, dir zu schreiben. Das Schicksal und das Glück eines Lebens, sagte André, tun sich nur denjenigen auf, die ein Funkeln in ihren Augen entdecken, Sehende, die die Geschehnisse des Tages und der Nacht wie einen aufrüttelnden Traum empfinden, eine Geschichte also, die ihnen nicht gehören kann.
Ich antwortete ihm nicht, tippte lediglich von der anderen Seite des Tisches die halbe Tomate mit einer Fingerspitze an; ihr Wippen und mein verlegenes Lächeln genügten ihm.
Doch habe kein Mitleid mit mir, dass ich nicht in Südfrankreich in einem verschlafenen Fischerdorf sitze und den Wind genieße, sondern daheim bei meiner Mutter im Garten. Ich sitze hier mit Fieber und einer Sehnsucht – sie heißt André: die Kraft und Lust in jedem Wort, das ich denke und fühle – und an dich richten werde.
Ich wusste nicht so recht, wie ich beginnen sollte, vorhin, an diesem Tisch in Südfrankreich oder, vielmehr, im Garten meiner Mutter, im Schatten des Kirschbaums (sicherlich weißt du noch, dass er süße Früchte trägt, keine sauren; noch aber sind es grüne und harte Kugeln, die die Zukunft in sich bergen und bald Gegenwart geworden sein werden, reife rote und gelbblasse Gegenwart, die geschmeckt werden will und in ihrer Anmut danach verlangt, in sie hineinzubeißen, sie zu genießen, ihr Fruchtfleisch vom Kern abzuknabbern und diesen dann auszuspucken, ohne darauf zu achten, wo er landet). Wie beginnen, habe ich mich gefragt, mit welchen Worten, nach so langer Zeit. Oft habe ich in den letzten beiden Jahren (so lange schon ist es her, dass wir nichts voneinander gehört haben) vor einem leeren Blatt Papier gesessen, um dir zu schreiben … – über Liebe Lucile bin ich jedoch nie hinausgekommen. Stets habe ich den Laut meiner inneren Stimme vermisst, der notwendig ist, um einem Brief – und dann auch noch an dich – den Sinn zu geben, den er verdient. Ein Brief sollte die Öffnung des Herzens sein zu einem Gespräch, einem Gespräch mit dir, bei dem ich mir vorstelle, wie du in deiner Pariser Wohnung sitzt und dein Gesicht in meine Zeilen legst, wie du geduldig Wort für Wort mit einem Lächeln oder einem leichten Kopfschütteln begleitest, ohne ein Ende des Briefes herbeizusehnen.
Vielleicht wunderst du dich, warum ich dir schreibe, jetzt, nach zwei Jahren des Schweigens, zwei Jahre, in denen wir weder den Postboten mit der Zustellung eines Briefes, nicht einmal einer Postkarte (auf der unter deinem Namen Hallo Herr Postbote deine Frau wird gerade von einem anderen gevögelt steht), noch den Schaffner im Zug nach Paris oder nach Bonn geärgert haben. Irgendwie ist es immer noch wie früher, als ich die Gedanken und die Gefühle, die mich berührt haben, nur mit dir besprechen mochte. Nur in deiner Gegenwart empfand ich mich ernst genommen, fühlte ich mich verstanden und vor allem – aufgehoben.
Also, was zögerst du noch, habe ich mir gesagt, schreib ihr. Ich ahne, dass nichts zwischen uns verloren gegangen ist, kein Wort, oder ein Wurm, ein Stück Wurm, das Wort wäre, und das den Rest seines Körpers suchte, langsam daherkriechend und etwas aufgeregt in der Hoffnung, ihn wiederzufinden. Und in diesem Moment, allein, begann ich, meine Haare zu drehen und ihre splissigen Spitzen zwischen zwei Finger zu nehmen und auf meine Wange zu drücken, wie Nadelspitzen auf meiner Haut. Ich fühlte, von weitem und wohl verworren, dass ich etwas suchte, das passt, vielleicht einen Eigennamen; ja, einen Eigennamen als Standpunkt und Sichtweise auf etwas, als Haut um deine Meinung, und du bist mehr als nur das, was du zu sagen hast, mehr als die Laute deiner Gedanken, das meiste kann man eh nicht ausdrücken, zumindest nicht mit Worten – und genau das bist du. So habe ich dich gefunden, dich wiedergefunden, die Sanftheit deiner kleinen Nase, die leidenschaftliche Umarmung deiner Augen, deine Stimme, ganz unverdächtig, in meiner Erinnerung, erklärungslos und schön dein Name, Lucile.
Weißt du noch würde ich jetzt sagen, wenn du hier sitzen würdest, mir gegenüber, hier im Garten meiner Mutter, auf einem dieser alten Sommerklappstühle mit den geblümten Bezügen, die an sämtlichen Ecken aufgesprungen sind. Der vergilbte Schaumstoff wächst wie Unkraut aus den Löchern heraus; aber er wuchert nicht. Weißt du noch – wir würden sicherlich den ganzen Nachmittag in Erinnerungen schwelgen, über unsere Unerfahrenheit von damals lachen, von nichts eine Ahnung, und froh sein, dieses schreckliche Alter von siebzehn bis fünfundzwanzig überlebt zu haben.
Das allein würde genügen, um dir zu schreiben, Lucile. Aber das ist es nicht allein. Denn nicht nur, dass wir gemeinsame Erinnerungen, die gleichen Vokabeln der Vergangenheit in uns aufbewahren, sondern vor allem das Gefühl, dass sich ein anderer für mich und meine Worte interessiert und nicht nur zuhört und mit dem Kopf nickt und ach und echt und boah sagt, veranlasst mich, dir zu schreiben.
Verwunderlich, findest du nicht?
Du glaubst gar nicht, wie meine Freunde mich langweilen (die meisten zumindest), wie sie in ihrer mühsam zurechtgezimmerten Welt (sollte man nicht besser Hundehütte sagen) ihre Tage und Nächte verbringen. Es macht mich traurig, mitansehen zu müssen, wie schnell sie sich zufrieden geben mit den Freuden eines Hundelebens, und schneller noch bemüht sind, ihren Leichtsinn abzutragen, den man in jungen Jahren gar nicht genießen kann, weil man das Gegenteil, die Müdigkeit und den Blutmangel der Begriffe, noch nicht am eigenen Leib erfahren hat. Ich spüre, dass ich ihnen nicht mehr folgen will und auch immer weniger bereit bin, sie verstehen zu wollen. Das Spielerische ihres Daseins schwindet mit jedem Tag. Ich höre in dem, was sie sagen, kaum noch etwas Eigenes. Ich schmecke in ihren Worten nichts Erfrischendes, nichts Fleischliches mehr. Niemand von ihnen versucht zu fliegen; denn für eine gelungene Landung gibt es keine Garantie! Wäre doch wenigstens einer unter ihnen, der Lokomotivführer oder Schauspieler werden wollte; nicht einmal das. Was bleibt, ist der unscheinbare (abwaschbare) Fleck vor dem Nichts. Ich glaube, so haben wir es früher immer genannt: der abwaschbare Fleck Leben vor dem Nichts. Weißt du noch … Und plötzlich beginnt man seinen Schminkkoffer zu vermissen, denn irgendwann beginnt die Stunde, ab da man mit dem Kajalstift einen letzten müden Streifen Sonne aus sich hervorzuheben versucht, an eine Oberfläche, die nichts verbirgt – außer vielleicht sich selbst.
Sei mir nicht böse, ich weiß selbst nicht, warum ich so kompliziert denke, vielleicht ist das meine Art, vor der Realität zu fliehen, du kennst mich doch!?
derselbe Tag, eine Stunde später
Lucile,
spürst du, dass ich dich hierher erzähle, zu mir, wie ich mir einbilde, dass du hier vor mir sitzt, unter dem großen Kirschbaum (ich lege eine seiner Blüten ins Kuvert; vielleicht ist ihr Duft noch nicht ganz verflogen, wenn du den Brief und die Blüte in den Händen hältst), und dich die Sommerfliegen nerven, die auf deinen nackten Beinen herumkrabbeln, und wie du sie, ohne ein Wort darüber zu verlieren, mit dem Fuß und der Hand zu vertreiben suchst. Das erscheint mir wirklicher als das, was ich vermeintlich sehe, vermeintlich höre und rieche. Ich erzähle dich hierher, zu mir, und biete dir eine Tasse Kaffee an. Ich weiß noch, ohne Milch, nur mit Zucker, zwei Teelöffel. Wie eine alte Frau habe ich damals gesagt, weißt du noch, und du hast dich jedes Mal geärgert. Wie eine alte Frau würde ich wieder sagen und spüren, dass du dich – obwohl, oder gerade weil du nur ein müdes Lächeln dafür übrig hättest – immer noch über diesen Satz ärgern würdest. Ich erzähle dich hierher, Lucile, zu mir. Ganz langsam steigst du aus dem Blatt Papier, stehst auf und gehst in die Küche, um etwas zu essen zu holen, einige Scheiben Brot, etwas Käse, vielleicht findest du sogar den Kaviar im Kühlfach und träufelst ihn auf, vielleicht kommst du auch nur mit etwas Gebäck, Keksen und selbstgebackenem Kuchen meiner Mutter zurück, setzt dich hin und hörst mir zu, schüttelst ab und an mit dem Kopf und nickst, wenn es andere Worte, andere Bilder und Gesten sind, von denen ich dir erzähle, und sagst etwas, wenn es dir zu viel wird und du eine Erholung in deiner eigenen Stimme suchst.
Manchmal aber flattert dein Schweigen über mein Satzende hinaus, und deine Stimme reagiert nicht auf meine Zeichen, einen Punkt oder einen Absatz. Du sagst nichts, schaust mich nur an; und dennoch – das ist das Verwunderliche daran – gibst du mir nicht das Gefühl, mich mit deinem Schweigen allein zu lassen. Weder ringst du dir eine gequälte Antwort ab, noch scheinst du abwesend zu sein, abwesend mit deinen Gedanken, die in einem fernen Land auf den Schwingen der Phantasie landen. Du hast immer eine Ruhe und eine Gelassenheit ausgestrahlt, die ich bewunderte – und die ich nun vermisse, ebenso wie dein Lächeln in den Augen, die immer lächeln, auch wenn du sonst ganz anders drauf bist.
Früher habe