Das Zufallsprinzip. Vom Ereignis zum Gesetz
Von Hartmut Kuthan
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Das Zufallsprinzip. Vom Ereignis zum Gesetz - Hartmut Kuthan
Hartmut Kuthan
Das Zufallsprinzip
Vom Ereignis zum Gesetz
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2016
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
1 Glücksspiele
2 Die Kunst des Vermutens
Jakob Bernoulli
Wahrscheinlichkeit, Zufall und Notwendigkeit
Bernoullis goldenes Theorem
De Moivre und die Glockenkurve
Das Inferenzproblem
3 Zufall und Gesetzmäßigkeit
Statistische Stabilität
Gregor Mendels Vererbungsregeln
Das Galton-Brett
Fluktuationen: Symptome des Zufalls
Irrfahrten und Brown’sche Molekularbewegung
4 Instabile Atomkerne und rätselhafte Quanten
Radioaktiver Zerfall
Die Quantennatur des Lichts
Unbestimmtheitsrelationen und Quantenzufall
5 Chaos und Zufall
Ein neues Paradigma
Das Ende des Laplace’schen Dämons
Deterministisches Chaos
Der Schmetterlingseffekt
6 Axiomatisierung der Wahrscheinlichkeit
Kolmogorows Axiome
Interpretationen der Wahrscheinlichkeit
Wahrscheinlichkeit – eine physikalische Eigenschaft?
Das fehlende logische Bindeglied
Seltene Ereignisse und Zufall
7 Von Mises’ Kollektivs
Regellose Folgen
Bernoulli-Folgen und Kollektivs
Die Monte-Carlo-Methode
Kryptographie
8 Information und Zufälligkeit
Shannon-Entropie
Eine neue Theorie der Information
Algorithmische Zufälligkeit
Nicht-berechenbare Zufälligkeit
9 Irrtümer und Fehlschlüsse
Das Ideal: präzise Begriffe
Zufällige Auswahl und Verteilung
Wahrnehmung von Zufallsfolgen
Zufälligkeit – Fakt oder Fiktion?
Anhang 1: Die Binomialverteilung
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Register
Vorwort
Wissenschaftliche Theorien benötigen adäquate Begriffe. Das gilt auch für Theorien, deren Ziel die quantitative Beschreibung unsicherer Ereignisse ist. Wissenschaftliche Begriffe können der Alltagserfahrung entlehnt sein, erfahren dann jedoch in der Regel eine Präzisierung und einen damit verbundenen Wandel ihrer ursprünglichen Bedeutung. Hiervon bilden die Begriffe Wahrscheinlichkeit und Zufall keine Ausnahme. Beide Begriffe sind eng mit der Herausbildung der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik, heute zusammen als Stochastik bezeichnet, sowie der Informationstheorie verknüpft.
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist eine relativ junge Wissenschaftsdisziplin: Von ihrer anfänglich exotisch anmutenden Außenseiterrolle stieg sie in nur drei Jahrhunderten zu einer mathematischen Disziplin von größter Bedeutung für die Naturwissenschaften auf. Die wechselseitige Befruchtung von Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistik und Naturwissenschaften nahm an der Wende zum 20. Jahrhundert an Intensität zu; sie gipfelte schließlich in einem neuen Weltbild.
Für die Gründungsväter der Wahrscheinlichkeitsrechnung war die im 20. Jahrhundert erfolgte Ablösung des deterministischen Weltbildes, das der Laplace’sche Dämon eindrucksvoll widerspiegelt, nicht vorhersehbar. Die entscheidenden Impulse lieferten revolutionäre Entwicklungen in der Atomphysik, die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzten. Besiegelt wurde das Ende des auf dem Kausalitätsprinzip beruhenden Weltbildes der klassischen Physik durch die von Werner Heisenberg 1927 entdeckten quantenmechanischen Unbestimmtheitsrelationen. Mit der Quantentheorie haben Wahrscheinlichkeitsgesetze in der Beschreibung physikalischer Phänomene eine fundamentale Rolle eingenommen – gegen den hartnäckigen Widerstand von weltberühmten Physikern wie Albert Einstein.
Der Triumph des stochastischen Paradigmas blieb nicht auf die Physik begrenzt. Bereits in der von Charles Darwin und Alfred Russel Wallace 1859 begründeten Evolutionstheorie wurden ungerichtete, zufällige Veränderungen der Organismen postuliert. Exemplarisch für Zufallsprozesse in der Biologie wurden indes genetische Prozesse, insbesondere die Vererbung von diskreten Merkmalen auf nachfolgende Generationen, die zuerst 1865 von Gregor Mendel beschrieben wurde.
Unser modernes naturwissenschaftliches Weltbild ist fundamental stochastisch und chaotisch. Dadurch wird das Verstehen der Rolle und Bedeutung der Wahrscheinlichkeit und des seit dem Altertum große Faszination ausübenden Zufalls umso vordringlicher. Einen Königsweg gibt es hierfür nicht. Aber das jahrhundertelange Ringen um die Klarheit dieser Begriffe beschert lehrreiche Einsichten.
Diese Gesichtspunkte hatte ich vor Augen, als ich daranging, den vorliegenden Streifzug durch das Reich der Wahrscheinlichkeit und Zufälligkeit zu unternehmen. Ausgehend von den Anfängen der quantitativen Beschreibung der Unsicherheit bei Glücksspielen, werden die vielfältigen Facetten des Zufalls und der Wahrscheinlichkeit im historischen Kontext beleuchtet. Im Vordergrund stehen hierbei begriffliche Aspekte, die in Lehrbüchern und Monographien gewöhnlich stiefmütterlich behandelt oder gänzlich ausgespart werden. Besonderes Gewicht habe ich auch auf die enge Verzahnung mit der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften gelegt. Mit der gewählten elementaren Darstellung verbinde ich die Hoffnung, die interdisziplinäre Thematik leichter zugänglich zu machen.
März 2012 & 2016
Hartmut Kuthan
1 Glücksspiele
Würfel und Spielregel – sie sind die Symbole für Zufall und Naturgesetz.
Manfred Eigen und Ruthild Winkler¹
Die Wiege der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist das Glücksspiel. Der Briefwechsel zwischen Blaise Pascal (1623-1663) und Pierre Fermat (1607-1665) im Jahre 1654 über zwei vom Chevalier De Méré angeregte Wahrscheinlichkeitsprobleme des Würfelspiels gilt gemeinhin als das Geburtsjahr. Das ist historisch gesehen nicht korrekt – bereits deutlich früher haben sich vor allem italienische Mathematiker, Naturforscher und spielbegeisterte Laien mit speziellen Aufgaben über Glücksspiele befasst; bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wurden bereits elementare Grundlagen für die Berechnung von Wett- und Gewinnchancen gelegt. Besonders erwähnenswert: das 1525 von dem leidenschaftlichen Spieler, Arzt und Mathematiker Girolamo Cardano (1501-1576) verfasste „Liber de ludo aleae" (Buch über Würfelspiele), das nach dem Tode des Verfassers 1576 im Nachlass aufgefunden wurde, aber erst 1663, ein Jahr nach Pascals Tod, in Lyon veröffentlicht wurde. Cardano hat offenbar als Erster den Quotienten aus der Anzahl der günstigen zur Anzahl aller möglichen Fälle verwendet, ohne freilich von Wahrscheinlichkeit zu sprechen.²
Der als Vater der modernen Naturwissenschaften gefeierte Galileo Galilei (1564-1642) hatte sich 1623 ebenfalls mit einer kleinen Schrift „Sopra le scoperte dei dadi" (Über Entdeckungen zum Würfelspiel) zu Problemen des Spiels mit drei Würfeln zu Wort gemeldet. Er fand die korrekte Lösung, dass die Augensumme 10 durch 27 von insgesamt 216 verschiedenen Würfelergebnissen, die Augensumme 9 dagegen nur durch 25 von 216 Ergebnissen realisiert werden kann. Bemerkenswert ist, dass Galileo Galilei einen empirischen Bezug andeutet, nämlich dass Spieler festgestellt hätten, dass das Eintreten der Augensumme 10 etwas leichter zu erreichen sei.³ Galileis Drei-Würfel-Ergebnisse hatte auch Cardano bereits gefunden.
Wie in der Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften nicht selten festzustellen, wurden wegweisende Theorien von zwei oder mehreren Personen unabhängig voneinander aufgestellt. Das Phänomen der unabhängigen Mehrfacherfindung wurde im Mittelalter, und noch Jahrhunderte darüber hinaus, durch zögerliche Veröffentlichung, unter anderem wegen der verbreiteten Geheimhaltung neuer Ergebnisse, und den oft schwierigen Zugang zu Veröffentlichungen gefördert. Das trifft auch auf die Anfänge der Wahrscheinlichkeitstheorie zu. Der holländische Mathematiker und Physiker Christiaan Huygens (16291695) hatte während seines Besuchs 1655 in Paris Kenntnis von den Würfelspielberechnungen Pascals und Fermats erhalten. Da diese ihre neuen Methoden aber streng geheim hielten, konnte er im Vorwort seiner Abhandlung mit Recht behaupten, dass er gezwungen war, den Gegenstand von den Grundlagen aufwärts selbst zu entwickeln. Die Abhandlung wurde 1657 von seinem Lehrer Frans van Schooten (16151660) aus dem Holländischen ins Lateinische übersetzt und erschien unter dem Titel „De ratiociniis in ludo aleae" (Über die bei Glücksspielen möglichen Berechnungen). Huygens brachte im Vorwort seiner Abhandlung die Priorität von Pascal und Fermat zum Ausdruck – ein keineswegs selbstverständliches, nobles Verhalten.⁴
Mit Kommentaren und Lösungen versehen, wurde Huygens’ Abhandlung im ersten Teil von Jakob Bernoullis (1655-1705) berühmter „Ars conjectandi (Mutmaßungskunst) 1713 erneut veröffentlicht. Huygens’ systematisch aufgebaute Arbeit basiert auf einem intuitiv gebildeten Begriff der „expectatio
(Hoffnung oder Erwartung) in einem „rechtmäßigen", das heißt fairen Spiel. Seine Definition des Erwartungswertes entspricht nicht dem heute üblichen mathematischen Begriff, der den Begriff der Wahrscheinlichkeit voraussetzt; den modernen Begriff führte Abraham de Moivre (1667-1754) ein.⁵ In den Aufgaben und Beispielen der Huygen’schen Abhandlung dreht sich alles um die Berechnung von Gewinnchancen in „Spielen, welche allein vom Glück entschieden werden" und deren Ausgang ungewiss ist.
2 Die Kunst des Vermutens
Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet.
Johann W. von Goethe¹
Jakob Bernoulli
Pascal, Fermat und Huygens hatten keinen explizit definierten Begriff der Wahrscheinlichkeit gekannt. Dies war auch noch der Stand, als Jakob Bernoulli zwischen 1680 und 1685 seine Untersuchungen zur Wahrscheinlichkeitsrechnung aufnahm.
Die „Ars conjectandi sive stochastice, so der vollständige lateinische Titel, erschien 1713, acht Jahre nach dem Tod von Jakob Bernoulli in Basel. Diese Abhandlung erlangte ihre herausragende Bedeutung für die Entwicklung der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik vor allem durch die im Teil IV enthaltenen Ideen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff, zum Problem des statistischen Schließens (Inferenz) und, in ganz besonderem Maße, durch ein berühmtes Theorem, für welches Siméon-Denis Poisson (1781-1840) die Bezeichnung „Gesetz der großen Zahlen
prägte.² Bernoulli kommunizierte 1703 seine Theorie mit Gottfried W. Leibniz (1646-1716), der verschiedene Einwände vorbrachte. Der schwer kranke Bernoulli ignorierte letztendlich Leibniz’ Bedenken, diskutierte aber die wesentlichen Einwände im Teil IV der „Ars conjectandi."
Jakob Bernoulli hinterließ die „Ars conjectandi" unvollendet. Das Werk wurde schließlich in der ursprünglichen Fassung gedruckt; Jakobs Bruder Johann und sein Neffe Nikolaus I. hatten die Aufforderung der Verleger, das Manuskript zu vollenden, abgelehnt. In deutscher Sprache erschien das klassische Werk erst knapp 200 Jahre nach der Erstveröffentlichung. Die spätere hohe Wertschätzung der „Ars conjectandi" bestand offensichtlich nicht von Anfang an – in einer zweibändigen Ausgabe der Abhandlungen Bernoullis aus dem Jahre 1744 wurde die „Ars conjectandi" nicht aufgenommen. Wer war dieser Mann, der die Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihre Anwendung auf ein neues, fruchtbares Fundament stellte?
ABBILDUNG 1: Titelblatt der Ars Conjectandi (1713). ³
Jakob Bernoulli, geboren am 27. Dezember 1655 in Basel, war vor allem ein genialer Mathematiker. Zum Mathematiker wurde er, in dem er sich gegen den Willen des Vaters – und daher notgedrungen als Autodidakt – mit Mathematik und Astronomie befasste. Sein Studium der Philosophie schloss er 1671 mit einem Magistergrad, das der Theologie fünf Jahre später mit einem Lizentiat ab. Aber seine große Passion, die er mit mehreren Bernoullis der berühmten Baseler Gelehrten-Familie teilte, waren die Mathematik und angrenzende Gebiete. Mit seinem zwölf Jahre jüngeren Bruder Johann, den er unterrichtete und der ihm 1705 auf den Baseler Lehrstuhl der Mathematik nachfolgte, trug er wesentlich zur Ausgestaltung der Leibniz’schen Infinitesimalrechnung bei. Jakob Bernoulli initiierte Untersuchungen zur Variationsrechnung, die später von Leonhard Euler (1707-1783) und Joseph L. Lagrange (17361813) weiterentwickelt zu großer Bedeutung gelangte, und gilt als Begründer der Methode der vollständigen Induktion und der mathematischen Statistik. Letzteres vor allem durch seine Ideen zur Inferenz und sein bahnbrechendes „goldenes Theorem".⁴
Wahrscheinlichkeit, Zufall und Notwendigkeit
Anfang des 18. Jahrhundert gab es noch keine Zersplitterung in Fachdisziplinen. So ist es nicht verwunderlich, dass in dem bei Weitem bedeutendsten, vierten Teil der „Ars conjectandi" allgemeine Betrachtungen und Feststellungen über Unsicherheit von Wissen und Erkenntnis, Notwendigkeit und Zufälligkeit, aber auch über das Beurteilen von juristischen Sachverhalten sowie Entscheiden und Handeln unter Unsicherheit weiten Raum einnehmen. Tatsächlich sind vier der insgesamt fünf Kapitel des vierten Teils nicht-mathematischer Natur. Um einen Eindruck von der Originalität der Darlegungen zu vermitteln, werden nachfolgend mehrere Passagen zitiert.
Begriffe bilden das Rückgrat einer Theorie. Gleich im ersten Kapitel überrascht Bernoulli mit einer Definition des Begriffes Wahrscheinlichkeit:
Die Wahrscheinlichkeit ist nämlich ein Grad der Gewissheit und unterscheidet sich von ihr wie ein Theil vom Ganzen.⁵
Die Grade der Gewissheit, und damit die Wahrscheinlichkeitswerte, bewegen sich zwischen 0 und 1, wobei der absoluten Gewissheit 1 zugeordnet wird. Dies ist ersichtlich die Definition eines subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriffes. Sie ist indessen keineswegs neu, sondern wurde schon von Leibniz in früheren Schriften kommuniziert.⁶ Neu dagegen ist die explizite Angabe eines Wahrscheinlichkeitsbegriffs in einem Werk, das sich mit der mathematischen Behandlung ungewisser Ereignisse und Aussagen befasst. Wie die spätere Entwicklung zeigt, sind subjektive Wahrscheinlichkeitsbegriffe heute noch vertretbare Interpretationen der mathematischen Wahrscheinlichkeit.
Nach der Begriffsbestimmung der Wahrscheinlichkeit behandelt Bernoulli die Modalitäten „möglich, „unmöglich
und „moralisch gewiss":
Möglich ist das, was einen, wenn auch sehr kleinen Theil der Gewissheit für sich hat; unmöglich ist dagegen das, was