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Einheit: Die hermetischen Grundlagen der Wissenschaft
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eBook500 Seiten6 Stunden

Einheit: Die hermetischen Grundlagen der Wissenschaft

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Über dieses E-Book

Was haben hermetische Weisheit, Neuplatonismus oder die Lehren des Tibetischen Totenbuches mit Einstein, Heisenberg oder der Quantenphysik zu tun? Viel mehr, als die meisten Menschen zu vermuten geneigt sein dürften.
Die großen Weisen und Wissenden der Antike oder der Renaissance waren fast immer Mystiker und Wissenschaftler. Erst seit wenigen hundert Jahren herrscht jene unheilvolle Trennung zwischen spirituellen Erfahrungen auf der einen und sogenannten wissenschaftlichen Erkenntnissen auf der anderen Seite. Wenn man allerdings in die Lebensgeschichten etwa der großen Physiker schaut, dann erkennt man verblüfft, wie prägend ihre inneren Erfahrungen für ihr Denken waren.
Dr. Leon Marvell zeigt in seiner fesselnden Dokumentation in beeindruckender Weise auf, wie die Erkenntnisse der großen Wissenden aus den vergangenen Jahrhunderten die Erkenntnisse und Forschungsergebnisse der Neuzeit beeinflusst – und teilweise vorweggenommen haben!
Ein faszinierender Rückblick in die Geschichte der abendländischen Weisheitstradition und ein visionärer Ausblick auf die Entwicklung einer neuen Wissenschaft der Zukunft!

SpracheDeutsch
HerausgeberCrotona Verlag
Erscheinungsdatum8. Mai 2020
ISBN9783861911906
Einheit: Die hermetischen Grundlagen der Wissenschaft

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    Buchvorschau

    Einheit - Leon Marvell

    Vorwort

    Hin und wieder trifft man auf ein Buch von so verwegener Ambition, dass man nicht so recht weiß, was davon zu halten ist. Zuweilen mag einem der Gedanke kommen, es sei ein ludisches Werk, eher ein Spiel- als ein Arbeitsergebnis. Wenn man dann weiterliest, wird einem klar, dass darin, gerade wegen seiner Bandbreite und seiner Ambition, echte Erkenntnisse stecken – dass der Autor über Jahrhunderte und Kontinente hinweg eine Landkarte entwirft, wie wir sie noch nie gesehen haben, dass hier eine neue Verbindung aus Moderne und Altertum vorliegt. Ein solches Buch ist Einheit.

    Es trifft zweifellos zu, dass wir in einer Zeit leben, in der uns praktisch das gesamte Menschheitserbe in einer Art und Weise zugänglich ist, wie dies bisher noch nie möglich war. Wir leben in einer Art Sonnenuntergangsära, in der sich alle möglichen Farben über den Himmel ziehen. In Einheit schöpft Leon Marvell diese Eigenheit unserer Zeit in ihrer ganzen Tiefe aus; frei flottierend bewegt er sich zwischen zeitgenössischer Physik und Informatik, Film und antiken Denkweisen, insbesondere Platonismus und Hermetik, um zu zeigen, dass der menschlichen Kultur bestimmte Muster innewohnen, die nicht nur die ferne Vergangenheit, sondern auch unsere Gegenwart und Zukunft erklären. In diesem Buch geht es um Muster, um das, was Ioan Culianu als „Bausteine" von Religion und Kultur bezeichnet hat; es ist ein Buch nicht über irgendwelche, sondern über die Ideen.

    Mit „die" Ideen meine ich natürlich Platonische Ideen und Platonische Metaphysik. Auch wenn der Platonismus heutzutage an den Hochschulen weitgehend in Ungnade gefallen ist, könnte die Platonische Metaphysik tatsächlich jedoch für vieles, was unsere angeschlagene, orientierungslose, ja verlorene Welt der Geisteswissenschaften plagt, das Gegenmittel darstellen. Im vorliegenden Werk hebt unser Autor nur auf die Bedeutung der Platonischen Metaphysik ab, wobei er sich in erster Linie auf die hermetische Tradition konzentriert, doch immer deutlicher zeigt sich, dass hermetische und gnostische Strömungen in der Antike Teil der umfassenden Platonischen Familie sind, oder zumindest, dass sie sich mit dieser wesentlich stärker überschneiden als wir einst geglaubt haben. Wenn wir in Bezug auf die moderne Technik eine platonisch-hermetische Perspektive zum Tragen bringen, sehen wir die Welt, in der wir leben, auf völlig andere und erhellende Weise.

    Wie sollen wir die Relevanz einer hermetischen oder platonischen Sichtweise für die moderne Zeit verstehen? In welcher Beziehung könnte sie zu so unterschiedlichen Themen wie Tibetischer Buddhismus, heutige physikalische Theorien, Film, Biologie oder Kulturtheorie stehen? Gibt es Verbindungen zwischen antikem Denken und moderner Welt, die wir bisher noch nie gesehen haben? Dies sind die Fragen, denen Leon Marvell nachgeht und auf die er in Einheit erste Antworten vorschlägt.

    Zu behaupten, dies sei ein ungewöhnliches Buch – was Sie inzwischen sicher gemerkt haben – wäre untertrieben. Besser lässt es sich vielleicht anhand eines Gleichnisses verstehen: Es ist, als schlage der Autor mehrfach einen antiken Stein der Weisheit an ein hochmodernes Stück feinst geschmiedeten Stahls, wodurch ein üppiger Funkenschlag entsteht. Einige Funken fallen auf Fels, andere auf kalte Erde, wieder andere hingegen auf Zunder, und diese entfachen womöglich das eine oder andere Feuer. In diesem Gleichnis klingt natürlich Platons berühmte Beobachtung aus seinem Siebten Brief an, wonach Erkenntnis wie ein Funke vom einen auf den anderen übertragen wird. Mit seiner gedanklichen Dichte hier und Verwegenheit dort ist dies ein Buch, das Sie überraschen, fordern und provozieren wird. Viel Freude damit!

    Dr. Arthur Versluis

    Dr. Arthur Versluis, Leiter des Fachbereichs Religionswissenschaft und Professor am College of Arts and Letters an der Michigan State University, ist Chefredakteur der Zeitschrift Esoterica und Gründungspräsident der Association for the Study of Esotericism. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter Sacred Earth, Restoring Paradise, The New Inquisitions, Magic and Mysticism und Religion of Light.

    Vorbemerkung zur Neuauflage

    In der Stunde, da ich dies schreibe, geht ein neues Zittern durch die geistige Atmosphäre: Man muss nur den Mut haben,

    ihm ins Auge zu sehen.

    COMTE DE LAUTRÉAMONT (ISIDORE DUCASSE)

    Ich möchte allgemein bekanntgeben, dass in der Stunde, da ich dies schreibe, die Philosophie des Materialismus tot ist.

    Irgendjemand musste es ja einmal offen aussprechen, da kann genauso gut ich es tun.

    Noch bis vor Kurzem war ich überzeugt, dass der Satz „der Materialismus ist tot" wörtlich Jeffrey Kripal in einem seiner wunderbaren Bücher über alternative Formen der Spiritualität zuzuschreiben sei. Ich wollte das Zitat für die Vorbemerkung zu dieser Neuauflage von The Physics of Transfiguered Light (wie Einheit im englischen Original heißt, Anm. d. Ü.) verwenden. Doch leider konnte ich den genauen Wortlaut trotz größten Bemühens in keiner seiner veröffentlichten Schriften ausfindig machen.

    Daraufhin wandte ich mich per E-Mail an Professor Kripal und fragte nach, in welchem Buch das Zitat zu finden sei. Wie sich herausstellte, hat er einen derartigen Satz nie geschrieben – offenbar hatte ich mir dies nur eingebildet. Doch wir waren uns beide einig, dass er so etwas sehr wohl geschrieben haben könnte, da der Satz mit seiner heutigen Weltsicht völlig übereinstimmt.

    Eigentlich erscheint es geradezu anachronistisch, sich mit einem derart kühnen Satz hervorzuwagen.; denn gewiss ist doch allgemein bekannt, dass die alte atomare Sicht der Materie seit Anfang des 20. Jahrhunderts, insbesondere auf dem Gebiet der Quantenmechanik, längst zugunsten differenzierterer, abstrakterer und auch weniger eingängiger Vorstellungen von dem Stoff, der die Welt zusammenhält, aufgegeben wurde. Merkwürdigerweise gibt es allerdings immer noch Menschen, die trotz dieser (mittlerweile über hundert Jahre alten) Revolution im wissenschaftlichen Materieverständnis wider besseres Wissen an der Vorstellung festhalten, Materie bestünde aus kleinen unteilbaren Körperchen, die blindlings aufeinander krachen, und durch dieses zufällige Geschehen entstünde sowohl die Welt als auch unsere Wahrnehmung von ihr.

    In prägnanter Form erklärte Pierre-Simon Laplace im 18. Jahrhundert diese Philosophie des reduktiven Materialismus:

    Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen.¹

    Ein Jahrhundert später stütze sich Thomas Huxley – einer der leidenschaftlichsten Verfechter von Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Auslese – auf diese Philosophie des metaphysischen Materialismus, als er erklärte, die „Kenntnis der Moleküle des „kosmischen Dunstes*, wie er ihn bezeichnete, aus dem das Universum entstanden sei, könne einen in die Lage versetzen, „den Zustand der Tierwelt Großbritanniens im Jahr 1896 zutreffend vorherzusagen.² Es verwundert daher nicht, dass diese Philosophie eines „dumpfen Materialismus (wie Karl Marx sie einst bezeichnete) ein paar hundert Jahre später von den „neuen Atheisten" zur Untermauerung ihres ideologischen Programms und ihrer Überzeugung von einem evolutionären Naturalismus wieder heraufbeschworen werden sollte. Tatsächlich kopiert Richard Dawkins, einer der bekanntesten neuen Atheisten, in seinem allerersten populären Werk Der blinde Uhrmacher mehr oder weniger die Ansichten von Laplace und Huxley und formt sie zur „Standarderzählung" der neodarwinistischen, reduktionistischen Version der Evolution des Lebens auf der Erde.

    In jüngster Zeit haben einige wenige mutige Denker die reduktionistische, materialistische Erklärung der Evolution des Lebens infrage gestellt. Insbesondere Thomas Nagel setzt in seinem Buch Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist die kritische Intelligenz eines hoch angesehenen Philosophen gegen die, wie er sagt, „höchst unplausible Idee, „dass das Leben, wie wir es kennen, das Ergebnis einer Reihe physikalischer Zufälle im Zusammenspiel mit dem Mechanismus natürlicher Auslese sein soll

    Mit dieser Vorbemerkung verfolge ich nicht das Ziel, die mit dem metaphysischen Materialismus verbundenen Probleme zu diskutieren, noch viel weniger, ausführlich eine Alternative zu formulieren – diese Möglichkeiten überlasse ich den Leserinnen und Lesern nach der Beschäftigung mit den Ideen in diesem Buch – sondern ich möchte die Aufmerksamkeit auf die naheliegenden Folgen einer gedanklichen Bindung an die materialistische Philosophie lenken: Die Entzauberung der Welt und der daraus folgende erschreckende Verlust unserer Verbindung mit dem lebendigen Universum, das wir bewohnen. So sagte der surrealistische Denker Pierre Mabille vor vielen Jahren:

    Je weiter die Menschheit ihr Wissen um und ihre Herrschaft über die Welt ausbaut, desto entfremdeter fühlt sie sich paradoxerweise dem Leben dieser Welt und desto mehr spaltet sie die Bedürfnisse des ganzen Menschen von der Information, die der Verstand liefert, ab. Zwischen den Wegen des Wunderbaren und denen der Wissenschaft besteht heute scheinbar ein deutlicher Widerspruch.⁴

    Der fortschreitende Verlust des Wunderbaren im Alltag ist die unvermeidliche Begleiterscheinung unserer Entzauberung, und leider stehen die Naturwissenschaften, die einst das Wunderbare unserer Welt offenbaren wollten, an der Spitze dieses Verlustes.**

    Der Soziologe Max Weber prägte den Begriff Entzauberung, um damit die menschliche Erfahrung zu beschreiben, die unmittelbar aus der radikalen Veränderung menschlicher Arbeit und menschlichen Lebens durch die industrielle Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts folgte. Weber zufolge war diese Entzauberung zumindest zum Teil das Produkt des wissenschaftlichen Fortschritts, und wenn sie auch nur einen Bruchteil der allgemeinen Intellektualisierung jener Zeit darstellte, so war sie doch zweifellos der wichtigste.⁵ Für Weber war die Rationalisierung der Arbeit die unausweichliche Folge der wissenschaftlichen Rationalisierung. Leider führt diese Rationalisierung nicht zu einer zunehmenden, allgemeinen „Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht⁶, sondern sie entzieht dem Leben vielmehr Sinn, Bedeutsamkeit und Geheimnis – und damit auch die Möglichkeit, das Wunderbare zu erfahren – weil sie ausschließlich der instrumentellen Vernunft und ihrer industriellen Handlangerin, der Technik, Priorität einräumt. Wie bei Laplace, Huxley und Dawkins wird alles unausweichlich auf seine Berechenbarkeit reduziert: Die Rationalisierung „bedeutet, … dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.

    Weber erkannte, dass „dieser ‚Fortschritt‘, dem die Wissenschaft als Glied und Triebkraft mit angehört, am Ende zu einer Art geschlagener Resignation und zum existenziellen Verlust dessen führt, was uns früher mit der Welt und miteinander verbunden hat. Zu Anfang des 21. Jahrhunderts hat die Triebkraft hinter der Verzauberung ihre Vorgehensweise geändert – weg vom frühen industriellen Kapitalismus und hin zum „flüssigen Kapitalismus eines globalisierten Korporatismus – doch wir sind gewiss nicht weniger abgeschnitten von der Erfahrung unseres kosmischen Erbes, unseres unveräußerlichen Rechts, wieder verzaubert zu werden.

    Einheit ist jedoch keine Polemik und kein Aktionsprogramm, mit dem wir den Sinn für das Wunderbare oder unsere verlorene Entzauberung wiedererlangen könnten. Es ist vielmehr ein Vorstoß oder eine erste Erkundung, ein Ideenabenteuer, um das „verbindende Muster" unter Beschäftigungen zu entdecken, die viele für offenbar völlig getrennt erachten: Naturwissenschaft, Philosophie und antikes Wissen. Meine Hoffnung ist, dass die Leserinnen und Leser dieses Werkes darin Wegweiser finden, mit deren Hilfe sie dieses Abenteuer fortsetzen und zu ferneren Gestaden führen können, als ich sie zu erreichen vermochte. Damit künden sie vom Beginn einer völlig neuen Art, unsere Welt wahrzunehmen und zu erleben.

    Danksagungen

    Eine ganze Reihe von Kollegen und Freunden haben mir beim Schreiben dieses Buches Unterstützung und Inspiration geschenkt. Insbesondere zwei Kollegen haben meine zu Beginn dieses Projekts vor vielen Jahren zweifellos überambitionierten Ideen und Forschungen gefördert: Professor Robert Hodge und Privatdozentin Jane Goodall.

    Diese Neuauflage wäre nicht entstanden, wenn nicht überraschend zwei neue Sterne am Firmament, oder zumindest in meinem kleinen Kosmos, aufgegangen wären: Ronnie Pontiac von der Zeitschrift Newtopia (sowie anderen singulären Erfolgen) und Jon Graham vom Verlag Inner Traditions, die sich beide darum gekümmert haben, dass das Licht nicht erloschen ist. Mein Dank an Sie beide.

    Schließlich haben die sechs wichtigsten Menschen in meinem Leben – Susan, Buster und Lucy sowie Yolande, Miranda und Bram – mir während des Schreibens und der Recherchen zu diesem Buch unschätzbar wertvolle Unterstützung und Liebe geschenkt. Für ihren Anteil an seiner Verwirklichung ist keine Würdigung je genug.

    * Die Vorstellung von einem kosmischen Dunst, aus dem das Universum hervorgegangen ist, wurde inzwischen aufgegeben, aber die Urknall-Theorie enthält praktisch eine ähnliche Idee: Dass nämlich das gesamte Universum einst in einem unendlich dichten Punkt (statt in einer dichten Dunstwolke), einer „Singularität", enthalten war, der bzw. die durch eine gewaltige, plötzliche Ausdehnung unseren Kosmos schuf.

    ** Natürlich offenbaren die Naturwissenschaften zuweilen auch heute noch unentdeckte Wunder, doch Staunen und Ehrfurcht sind normalerweise schnell vergessen und weichen eher instrumentalistischen Zielen.

    1

    Ideale Objekte und ihre Vorläufer

    Der Leitgedanke hinter diesem Buch lautet: Die Standarderzählung über die Entwicklung der Naturwissenschaften ist insofern falsch, als sie meint, während und nach der „wissenschaftlichen Revolution" des 17. Jahrhunderts seien hermetische Ideen aus dem modernen Weltbild getilgt worden. Gerade deshalb stellen bestimmte Gedanken innerhalb der hermetischen Tradition eine reiche Ressource dar und können, wenn sie zu heutigen wissenschaftlichen und kulturellen Ideen kritisch in Beziehung gesetzt werden, sehr wohl zur Entwicklung einer postmodernen Sicht eben dieser Ideen beitragen.

    Der moderne Diskurs über wissenschaftliche Forschungsgebiete wie Chaos- und Komplexitätstheorie, künstliche Intelligenz und Kognitionswissenschaften behandelt die Entstehung dieser Ideen größtenteils als einzig in ihrer Art, als neue Gedanken, die zu jung sind, als dass sie eine Geschichte haben könnten. Im Gegensatz zu dieser Auffassung behaupte ich, dass viele Aspekte dieser sogenannten neuen Ideen in Wirklichkeit sogar eine sehr lange Geschichte haben, mehr noch, eine Geschichte, die in einem einigermaßen überraschenden Denkmilieu zu finden ist. Dieses Milieu ist nämlich eben jenes, welches ich als Hermetik bezeichnen werde: Die Denktradition, die sich aus der Wiederentdeckung des Corpus Hermeticum und verwandter Texte im 15. Jahrhundert entwickelt hat.

    Den Nachweis dieser Geschichte will ich in erster Linie durch eine Untersuchung des sich verändernden Imaginären der Naturphilosophie führen. Zum Ausgangspunkt nehme ich mir dabei die Behauptung von Ioan Culianu, wonach „Magie und Wissenschaft … letztlich imaginäre Bedürfnisse [darstellen] und der Übergang von einer magisch geprägten Gesellschaft zu einer wissenschaftlich geprägten … sich vor allem durch einen Wandel des Imaginären*** erklären"¹ lässt.

    Doch was mich interessiert, ist nicht der „Moment der Veränderung. Der Übergang gegen Ende des 17. Jahrhunderts vom Vorwissenschaftlichen zu dem, was gemeinhin als Newtonsche Wissenschaft bezeichnet wird, ist inzwischen ein akademisch breit ausgetretener Pfad. Die (von mir so bezeichnete) „Standarderzählung der Wissenschaftsgeschichte vertritt im Grunde uneingeschränkt die Auffassung, dass der Übergang vom Vorwissenschaftlichen zur modernen Wissenschaft durch eine Art Disziplinierung und Verfeinerung der Vorstellungskraft entweder überhaupt erst ermöglicht, zumindest aber begleitet wurde. Eine disziplinierte Vorstellungskraft führt zu einem zutreffenderen Bild der Wirklichkeit, und eine entfesselte Vorstellungskraft führt zwangsläufig auf Abwege. Dieser These wohnt die modernistische Vorstellung inne, dass eine fortschreitende Verfeinerung des Bewusstseins (mit der materiellen Natur der Wirklichkeit als ihrem vektoriellen Zielpunkt) Hand in Hand geht mit der technischen Weiterentwicklung der Menschheit. Dieses lineare, deterministische Modell des rationalen Fortschritts wurde in den letzten Jahren zusehends fraglicher, und das vorliegende Buch zieht eine solche „Standarderzählung" ausdrücklich in Zweifel.

    Unser Begriff „Wissenschaftler (und die daraus folgende Entwicklung der Idee von der Wissenschaft als autonomer Disziplin) wurde erstmals Anfang des 19. Jahrhunderts geprägt; vor dieser Zeit wurden Menschen, die sich mit der Erforschung der natürlichen Welt befassten, als „Naturphilosophen betrachtet. Erfunden wurde das Wort „Wissenschaftler" von den Mitgliedern der britischen Royal Society in Anlehnung an das Wort „Künstler; die Logik dahinter lautete, wie ein Künstler Kunst hervorbringe, so bringe ein Wissenschaftler Wissenschaft hervor. Doch während der Aufstieg der modernen Wissenschaft oft auf das 17. Jahrhundert (die wissenschaftliche Revolution) datiert wird, haben sich die Denker jener Zeit selbst nie in diesem Licht gesehen. Sie haben ihre Arbeit vielmehr als die Beschäftigung mit Gesetzen betrachtet, die mindestens seit Parmenides‘ Zeit Gegenstand ständiger Forschung waren. „Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen, behauptete Newton, selbst wiederum den Naturphilosophen Bernhard von Chartres zitierend.²

    In einem ähnlichen Geist sozusagen spekulativer Anachronie schlage ich vor, dass entscheidend wichtige Instrumente zur Untersuchung heutiger wissenschaftlicher Ideen in Denkfiguren zu finden sind, die im Zusammenhang mit der vormodernen Naturphilosophie der Hermetik stehen. Mithin behaupte ich, dass eine „moderne Wissenschaft ohne jegliche vorwissenschaftliche Kontamination nie entstanden ist, und dass infolgedessen eine künftige postmoderne Wissenschaft die immer noch einflussreichen „esoterischen Aspekte, die bestimmten ihrer Ideen innewohnen, ebenso gut anerkennen kann. Darüber hinaus vertritt dieses Buch eine Herangehensweise, die an der Oberfläche recht paradox erscheint. In einem Umkehrschluss zu meinem vorangegangenen Satz behaupte ich, dass entscheidend wichtige Instrumente zur Untersuchung der vormodernen Naturphilosophie der Hermetik auch in Denkfiguren zu finden sind, die mit heutigen wissenschaftlichen Idealisierungen in Zusammenhang stehen. Damit behaupte ich, dass bestimmte zentrale Denkfiguren dem naturphilosophischen Diskurs dauerhaft eingebettet sind und innerhalb der Ideen sowohl der Hermetik als auch der heutigen Wissenschaft in ahistorischer, nichtlinearer Weise Bestand haben.

    Relativ unumstritten lässt sich feststellen, dass sich die Diskussion über die Bedingungen und Möglichkeiten postmodernen Denkens zum größeren Teil ums „Soziale und um die (vereinfacht gesagt, psychoanalytische) Charakterisierung des Einzelnen als soziales Konstrukt dreht. Einige der einflussreichsten modernen Wissenschaftskritiken kommen aus der „wissenschaftssoziologischen Tradition kritischer Wissenschaft, die das szientistische Weltbild einer ahistorischen, reinen Rationalität zugunsten eines Weltbildes ablehnt, das die prägende Funktion historischer und gesellschaftlicher Bedingtheiten beim Aufbau von Wissenspraktiken anerkennt. Diese Kritiktradition lehne ich zwar nicht ab, doch dieses Buch ist sicher nicht darin zu verorten.

    Wollte man als Ausgangsheuristik für die humanistische Analyse ein triadisches Modell hernehmen, so könnte es meinem Vorschlag nach folgendermaßen aussehen:

    Das Kosmische

    Individuum

    Gesellschaft

    Abbildung 1

    Während sich ein Gutteil des heutigen Diskurses in den Geisteswissenschaften auf den binären Gegensatz zwischen dem Individuellen und dem Gesellschaftlichen konzentriert, nimmt dieses Buch in erster Linie die Dyade aus Individuum und Kosmos in den Blick, oder genauer, es befasst sich unmittelbar mit dem konstitutiven tertiären Faktor des „Kosmischen. Mein Verständnis dieses letzteren Begriffs gründet sich auf dessen ursprüngliche pythagoreische Bedeutung als universelles ordnendes Prinzip und auf seine weitere Entwicklung im neuplatonischen und hermetischen Denken. Einfach ausgedrückt, bedeutet das Kosmische, dass es eine überpersönliche, nichtgesellschaftliche Struktur gibt, die schlüssiger aus sich selbst heraus und ohne Rückgriff auf reduktive Auffassungen innerhalb der Sozialwissenschaften zu erklären ist. Während die poststrukturalistische und postmoderne Theorie das Kosmische oft wie selbstverständlich zum Sozialen „verflacht (und dabei die Idee hervorbringt, dass eine kosmische, spirituelle Dimension des menschlichen Lebens in Wirklichkeit nur eine Maske ist, die ihren tatsächlichen psychoanalytischen, ödipalen Ursprung und/oder ihren Aufbau durch diskursive Machtstrukturen verdeckt), versucht dieses Buch das genaue Gegenteil. Ich betrachte das Kosmische als realen Bereich, der konstitutiv zum Menschsein dazugehört, als eine empirische Kulturtatsache.

    Ein sicherer Indikator für diesen Bereich des „Kosmischen" ist auf dem Erkenntnisgebiet zu finden, auf dem sich dieses Buch hauptsächlich bewegt. Im weitesten Sinne handelt es sich bei dem Erkenntnisgebiet, mit dem sich dieses Buch in erster Linie befasst, um das, was in der westlichen Philosophie als Panpsychismus bezeichnet wird. Panpsychische Thesen sind heute ziemlich aus der Mode gekommen, doch sie verfügen über eine bemerkenswerte Langlebigkeit und waren ein besonderes Denkinstrument der Kritik an der Cartesischen Philosophie, als diese im 17. Jahrhundert aufkam. Auch in jüngerer Zeit sind sie keineswegs „tot und begraben: Erwin Schrödinger, Freeman Dyson und Jean Charon (um nur drei „hochkarätige theoretische Physiker zu nennen) halten an verschiedenen Varianten der panpsychischen Hypothese fest. Im Kern besagt diese, dass Geist oder Bewusstsein in allen Aktualitäten auf der Welt vorhanden ist. Die scheinbar großen Sprünge zwischen Virus (einem Wesen mit „zwei Zustandsformen, manchmal kristallin und anorganisch, dann wieder organisch und lebendig) und Einzeller, zwischen Kakerlake und Küken, Berggorilla und Mensch werden nicht als solche, sondern vielmehr als fortlaufende Punkte auf einem kontinuierlichen und unendlichen Kontinuum betrachtet, das sich von (nach dem Verständnis der modernen Wissenschaft) lebloser, anorganischer Materie über den Menschen bis (aus hermetischer Sicht) hinauf zu den Himmelswesen erstreckt. Alle Körper und ihre elementaren Bestandteile (d. h. subatomare Objekte wie Elektronen) besitzen daher ein „Innenleben. Die panpsychische Hypothese erkennt keinen essenziellen, trennenden Bruch oder Unterschied zwischen dem Lebendigen und dem Nichtlebendigen.

    Die panpsychische Hypothese ist jener Teil des Bereichs des „Kosmischen, der sich jeden Punkt auf einem unendlichen Kontinuum der Körper (wobei die Idee des Unendlichen zu den definierenden Merkmalen des Kosmischen gehört) als „beseelten Moment vorstellt. Diesem Verständnis nach konstituiert sich Sein durch unendliche Teilung, wobei sich alle Teilungen in die harmonische Ordnung (Kosmos) der Dinge hinein auflösen.

    Schon eine Geschichte des Imaginären des Panpsychismus würde den Rahmen der meisten Bücher deutlich sprengen; um also mein Vorhaben, die Veränderung des Imaginären zu beobachten, erfüllen zu können, habe ich den Lichtstrahl meiner Untersuchung auf einen ganz bestimmten Fokus verengt: Die Morphologie dreier miteinander verbundener Denkfiguren, die einen feinstofflichen, hyperhimmlischen Gegenpart zur Körperlichkeit des Menschen darstellen, sowie ihre vermittelnde Funktion innerhalb der intellektuellen Ökonomie, wie sie die Hermetik artikuliert. Diese Denkfiguren sind Teil der mikro- und makrokosmischen Struktur, die, wie Culianu feststellt, zur „Kosmisierung der Menschheit führt und diese ausmacht.³ Die drei Figurationen sind: Das gnostisch-hermetische Mythologem des göttlichen Lichtfunkens in jedem Einzelnen; die Vorstellung vom „feinstofflichen Körper und die Idee der Anima Mundi oder Weltenseele. Diese drei sind morphologisch miteinander verbunden (das heißt, sie sind lediglich Varianten voneinander) und meiner Auffassung nach eine sehr frühe Form der Idee, dass sich Psyche durch die gesamte Natur zieht. Jedes Kapitel dieses Buches nimmt sich einen bestimmten Aspekt des alexandrinisch-hermetischen Begriffs der Anima Mundi und/oder ihrer zugehörigen Verortung, den feinstofflichen Körper oder das „fremde Licht" (Spinther) im Inneren zum Thema. Diesen Ideen wohnt eine Metaphysik des Lichtes inne, die in ferner Vergangenheit begonnen hat und unser Denken lenkt, sogar bis zu Einsteins Lichtgrenze (die durch die Lichtgeschwindigkeit auferlegte Begrenzung"), einer Vorstellung, die für jede Analyse der Physik-Theorie des 20. Jahrhunderts grundlegend ist. Der größere Teil dieses Buches widmet sich daher dem Entwirren des morphologischen Fadens der Begrenzung durch das Licht, für die diese Figuren stehen.

    Ende des 19. Jahrhunderts sagte der französische Mathematiker Lucien Poincaré: „Lange Zeit war es das mehr oder minder ausgesprochene Bestreben der meisten Physiker, alle möglichen Formen körperlicher Existenz aus Ätherteilchen zu konstruieren. ⁴ Man kann wohl mit einiger Sicherheit sagen, dass für Poincaré die fragliche „lange Zeit im 17. Jahrhundert begann und bis in seine Zeit andauerte. Umgekehrt legt eine Implikation dieses Buches nahe, dass die Idee, wonach Materie aus Äther besteht, oder vielleicht prägnanter, wonach Materie sich auf Raum reduzieren lässt⁵, sehr viel älter ist. Tatsächlich werde ich vorschlagen, dass ohne die Vorstellung von einer Anima Mundi die Entwicklung der „Feldtheorie" und der Begriff der Einstein-Minkowskischen Raumzeit nicht möglich gewesen wären.

    In Anbetracht des Vorhergehenden ist es unumgänglich, dass sich in diesem Buch vieles um die „großen philosophischen Fragen" dreht – im Prinzip um die Frage nach der Dualität von Geist und Körper sowie um die Beziehung zwischen dem Denken und dem Realen. Aber ich habe versucht, eine vertiefte Beschäftigung mit den vielen und sehr unterschiedlichen Auseinandersetzungen, die durch diese Fragen ausgelöst wurden und meine genannte Aufgabe nur verzerren würden, zu vermeiden. Angesichts der Art meiner These ist es allerdings unerlässlich und unvermeidlich, dass diese Fragen und Auseinandersetzungen in einem gewissen Umfang besprochen werden. Eine Untersuchung der Elemente und Veränderungen im Imaginären der Hermetik und der Naturphilosophie, die auf nichts anderes hinausliefe als ein Inventar morphologischer Übergänge innerhalb eines bestimmten Imaginären, wäre doch ein geistloses Unterfangen. Interessant ist ja gerade die Bedeutung dieser Verschiebungen sowie ihr Platz innerhalb der Strukturen, welche die jeweiligen Denkobjekte, die ich untersuchen werde, ausmachen.

    Ideale Objekte oder Geschichte in vier Dimensionen

    Von früheren Kritiken der progressivistischen Standarderzählung der Wissenschaftsgeschichte hebt sich dieses Buch vielleicht insofern ab, als ich ein Modell vorschlage, um das herum eine solche Kritik gewinnbringend eingesetzt werden kann: Das Modell des idealen Objekts. Die Theorie hinter der Setzung von idealen Objekten ist im ersten Teil dieses einführenden Kapitels enthalten. Die Anfänge einer Theorie der Vertigralität, in der das hermetische Prinzip der Interdependenz von Anthropologie und Kosmologie als hermeneutisches Instrument neu eingesetzt wird, werden in Kapitel Zwei ausführlich entwickelt. Im Moment möchte ich festhalten, dass der Begriff vertigral ein Neologismus ist, der zwei Worte umfasst: vertikal und integral. In diesem Neologismus ist also die Idee inbegriffen, dass die Geschichte des menschlichen Denkens eine integrale, nicht reduzierbare vertikale Dimension offenbart, die Metaphern miteinander verknüpft, welche das, was unten ist, mit dem verbinden, was oben ist, das Sublunare mit dem Himmlischen. Vertigrale Ideen und/oder Denkfiguren sind daher in jedem Diskurs sichere Anzeichen für das Vorhandensein des Kosmischen.

    Eine der berühmtesten (und einflussreichsten) vertigralen Fabeln im westlichen Denken findet sich in Buch Sieben von Platons Staat. Damit, dass sie zum Ausdruck bringt, wie die Menschheit um ein Begreifen des Kosmischen, der „größeren Welt", ringt und welche unvermeidlichen Grenzen einer solchen Suche auferlegt sind, nimmt sie im gesamten westlichen Denken nach wie vor eine zentrale Stellung ein.

    Platons Höhlengleichnis erzählt, dass mehrere Menschen in einer unterirdischen Höhle gefangen gehalten werden, das Gesicht auf die rückwärtige Wand gerichtet. Hinter den Gefangen befindet sich eine kleine Erhebung, auf der ein Puppenspiel aufgeführt wird; hinter dem Puppenspiel brennt ein Feuer; hinter diesem wiederum befindet sich der Eingang zu der Höhle. Aus der Sicht der Gefangenen besteht die Wirklichkeit aus einem flackernden Schattenspiel an der Wand, einem Schattenspiel, das durch die Bewegungen der Puppen und die der Schatten der Gefangenen zustande kommt. Weiter erzählt Platon, dass es einem der Gefangenen gelingt, sich aus seinen Ketten zu befreien, sich umzudrehen und die Ursache der zweidimensionalen Schattenwelt zu sehen: Das Feuer, das hinter ihnen verborgen ist. Doch nicht nur dies, er geht am Feuer vorbei und dann immer weiter. Schon bald kann er die Höhle ganz verlassen und die wahre Welt betreten – die dreidimensionale Welt, die von der wahren Lichtquelle, der Sonne, erhellt wird.

    In Erzählungen über die Entstehung der „Metaphysik des Lichtes" im Westen gehört diese Fabel Platons zu den meistzitierten, doch soweit ich weiß, hat nur ein Mensch diese Geschichte als die erste erkannt, in der die Wirklichkeit mit den Begriffen räumlicher Dimensionen beschrieben wird. Natürlich bezeichnet Platon seine beiden Welten nicht ausdrücklich als zweidimensional und dreidimensional, doch eine solche Beschreibung ist in seiner Allegorie sicher implizit enthalten. C. H. Hinton (1853-1907) war derjenige, dem diese Eigenheit in Platons Mythos erstmals auffiel. Hinton war Mathematiker und, wie viele andere um die Jahrhundertwende, fasziniert von der Idee einer vierten Dimension, die für unsere normale menschliche Wahrnehmung unsichtbar ist. Für Hinton sind wir alle wie die Gefangenen in Platons Allegorie. Genau wie sie die zweidimensionale Welt fälschlicherweise für die reale dreidimensionale Welt halten, ist auch unsere Wahrnehmung einer dreidimensionalen Welt in Wirklichkeit nur eine sehr ärmliche Sichtweise einer vierdimensionalen Wirklichkeit.

    Wie Platon selbst erkannte auch Hinton, dass man die Idee einer größeren Wirklichkeit hinter unserer begrenzten Wahrnehmung am besten mithilfe der Analogie beschreibt, wie die Wirklichkeit für jemanden aussehen würde, der in einer zweidimensionalen Welt lebt (in Platons Fabel wird diese zweidimensionale Welt durch das Schattenspiel an der Wand dargestellt). In seinem Aufsatz „Die vierte Dimension" (1904) bittet uns Hinton, uns ein Stück Folie vorzustellen, die horizontal im Raum aufgehängt ist. Wenn eine Spirale vertikal durch die Folie geführt wird, erscheint der Schnittpunkt als bewegter Punkt, der auf der Folienoberfläche einen Kreis beschreibt. Wären wir zweidimensionale Wesen, die auf der Oberfläche dieser Folie lebten, würden wir nur den Punkt wahrnehmen, der sich auf der Oberfläche bewegt (stellen Sie sich ein Auto vor, das in einer Wüstenlandschaft im Kreis fährt). Das tatsächliche Objekt, die Ursache dieses Phänomens (die dreidimensionale Spirale), wäre für die Bewohner einer solchen zweidimensionalen Welt unsichtbar. Hinton schreibt:

    In dem Film wird die permanente Existenz der Spirale als Zeitreihe erlebt – die Aufzeichnung des Schnitts mit der Spirale ist ein Punkt, der sich im Kreis bewegt. Wenn wir nun ein Bewusstsein annehmen, das so mit der Folie verbunden ist, dass der Schnitt der Spirale mit der Folie ein bewusstes Erlebnis hervorruft, sehen wir, dass wir auf der Folie einen Punkt haben, der sich im Kreis bewegt und sich seiner Bewegung bewusst ist, aber nichts von der realen Spirale weiß, deren aufeinanderfolgende Schnittpunkte mit der Folie durch diesen als Bewegung des Punktes aufgezeichnet werden.⁶ (Kursivierungen von mir.)

    Wenn ich meine Hand durch die Folienoberfläche strecken könnte, würde ein Bewohner dieser zweidimensionalen Welt eine Abfolge sich grotesk verändernder Formen und Farben sehen – zuerst würden vier Punkte erscheinen (meine Fingerspitzen), dann würden diese sich zu großen rosafarbenen Ovalen erweitern, kurz darauf würde ein weiteres Oval auftauchen (mein Daumen), dann würden plötzlich alle Ovale zu einem einzigen riesigen Oval, und danach schrumpfte dieses schnell zu einem Punkt zusammen (das heißt, wenn es möglich wäre, meine Hand von der Kontinuität meines Arms zu abstrahieren). Der zweidimensionale Bewohner der Folienoberfläche wäre niemals in der Lage, diese Abfolge veränderlicher Formen mit unserer „ganzheitlichen" Erfahrung einer dreidimensionalen Hand zu verbinden. Ähnlich dachte Hinton, wenn wir aus einer dreidimensionalen Welt plötzlich in eine vierdimensionale versetzt würden, wäre unser Erleben dieser Welt darauf beschränkt zu sehen, wie merkwürdig geformte dreidimensionale Objekte plötzlich auftauchen, anschwellen, Form und Farbe verändern und scheinbar willkürlich wieder verschwinden, ohne dass dies durch eine erkennbare Logik miteinander verbunden wäre.

    Die Vorstellung von idealen Objekten, die ich in diesem Buch anrege, entspricht der Vorstellung von Objekten, die in einem viertdimensionalen Raum existieren. Doch statt um eine Welt physikalischer Objekte handelt es sich dabei um einen „Problemraum von Ideen, Bildern und Begrifflichkeiten. Von zentraler Bedeutung ist die Vorstellung, dass Ideen und Begrifflichkeiten eine logische Dimension außerhalb der Zeit besitzen, sodass die Kraft bestimmter Ideen gewissen Individuen außerhalb materieller, kausaler Faktoren ersichtlich wird. Die Nützlichkeit der Vorstellung von einem viertdimensionalen idealen Objekt als hermeneutischem Instrument erweist sich daran, dass sie den Wissenschaftler davon befreit, die Existenz eines materiellen „Einflusses über vergleichsweise lange historische Zeiträume hinweg mühsam nachweisen zu müssen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Zeit unsere abgehackte Wahrnehmung viertdimensionaler Objekte ist, dann müssen wir sie zwangsläufig als eine Art Interferenz betrachten, die uns davon abhält, das „Gesamtbild" zu erkennen. Dann sind wir aufgefordert, uns vorzustellen, dass zusammenhängende Ideen in einem logischen Raum operieren, der (heuristisch und nur bis zu einem gewissen Grad) unabhängig ist von den Einschränkungen durch die Produktionskräfte, ideologischen Verschiebungen und materiellen Erfordernisse einer bestimmten Zeit. Damit will ich ganz gewiss nicht sagen, dass diese Standardwerkzeuge historischer Analyse aufgegeben werden sollten – das wäre ziemlich absurd. Die Vorstellung von idealen Objekten bietet lediglich ein weiteres Instrument, das nützlich sein könnte, um bestimmte Manifestationen in der Ideengeschichte vielleicht ein wenig umfassender zu erklären.

    Eine moderne wissenschaftliche Idealisierung könnte helfen, das Konzept eines idealen Objekts weiter zu verfeinern. Moderne Chaosmathematiker sprechen oft vom „Phasenraum eines Prozesses. Damit ist die mathematische Beschreibung aller möglichen Zustände des untersuchten Objekts oder Prozesses gemeint. Ein Punkt im dreidimensionalen Raum braucht zu seiner Beschreibung nur drei Koordinaten – sein Phasenraum ist minimal. Besitzt das Objekt, zum Beispiel ein Elektron, jedoch noch andere Eigenschaften außer einer statischen Verortung – Spin, Richtung, Geschwindigkeit und so weiter – dann ist eine größere Anzahl an Koordinaten erforderlich. Diese Koordinaten bestimmen die „Dimensionalität der Geometrie seines logischen Raums, und die Gesamtheit aller möglichen Zustände des Elektrons wird als der Phasenraum des Teilchens bezeichnet. Dieser Raum wird sodann zur Beschreibung „der übergreifenden Struktur der Gesamtheit der Objekte der untersuchten Art⁷, wie der Mathematiker Ian Stewart feststellt. Außerdem wird es „durch den Gebrauch des Wortes ‚Raum‘ … möglich, Analogien zum normalen Raum auszuschöpfen, zum Beispiel die Idee ständiger Bewegung.

    Eindeutig wird also in der mathematischen Idealisierung des Phasenraums Raum zu Zeit und Zeit zu Raum. Phasenraum ist außerdem fraktal: Ausgangs- und Endbedingungen und alle Zustände dazwischen sind jedem beliebigen „Moment", den man beobachten will, stets inhärent. Meine Verwendung des Begriffs ideales Objekt hält ebenfalls an diesem Zusammenbruch der Serialität fest, allerdings mit einigen wichtigen Einschränkungen.

    Auf meinem Analysegebiet (im weitesten Sinne, der Ideengeschichte) befasse ich mich eindeutig nicht mit idealisierten mathematischen Punkten („Koordinaten). Ich kann daher nicht versuchen, ein streng definiertes „Phasenportrait der Denkobjekte, die ich untersuchen werde, zu erstellen; dies wäre eine geeignete Aufgabe für einen Geometer oder Topologen, wenn ein solches Projekt denn überhaupt möglich wäre. Selbstverständlich behaupte ich nicht, dass ein solches Projekt unmöglich wäre, doch es übersteigt ganz sicher die Möglichkeiten und Absichten dieses Werkes. Was ich hingegen versuchen kann, ist eine Skizze der groben Umrisse der meiner Auffassung nach vorhandenen Beharrlichkeit bestimmter Denkobjekte, die über eine Stabilität in der vierten Dimension verfügen, sowie ein Vorschlag, nach welcher Logik diese Objekte bei ihrem Auftauchen in bestimmten Momenten historischer Zeit definiert und gebraucht worden sind. Die drei entscheidenden, luminalen Denkfiguren, die ich in diesem Buch untersuche, sind Beispiele für solche idealen Objekte.

    Hier eine weitere Fabel, die formell Platons zu Beginn dieses Abschnitts beschriebenem Höhlengleichnis entspricht: Ein Herrscher lässt einen Elefanten vor eine Gruppe blinder weiser Männer bringen. Jeder soll beschreiben, was er vor sich hat. Ein Mann, der vor dem Elefanten steht, betastet dessen Rüssel und erklärt, das Tier sei eine riesige Python. Der Mann hinter dem Elefanten widerspricht ihm und sagt, es sei eine sehr kleine Schlange – er begreift den Schwanz des Elefanten. Alle blinden weisen Männer sind sich uneins über die Natur dessen, was sie vor sich haben, weil jeder aus seinem eigenen, vergleichsweise beschränkten Blickwinkel berichtet. Der Herrscher, der über eine „globale" Perspektive verfügt, sieht das Tier in seiner Gesamtheit. Ähnlich

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