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Zerrissenes Zwillingsherz: Historischer Roman Schauplatz Tirol/Südtirol/Venedig
Zerrissenes Zwillingsherz: Historischer Roman Schauplatz Tirol/Südtirol/Venedig
Zerrissenes Zwillingsherz: Historischer Roman Schauplatz Tirol/Südtirol/Venedig
eBook388 Seiten4 Stunden

Zerrissenes Zwillingsherz: Historischer Roman Schauplatz Tirol/Südtirol/Venedig

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Über dieses E-Book

Südtirol Ende des 15. Jahrhunderts. Mira und ihr Zwillingsbruder Karl wachsen in Partschins, einem Dorf in der Nähe von Meran, auf. Nach dem Hexenprozess, wo ihre geisteskranke, leibliche Mutter und ihre Ziehmutter, die "Stuaner Geada", vor den Toren Merans verbrannt werden, leben die Kinder bei der Henkersfamilie im spätmittelalterlichen Meran. Dieser Roman erzählt von der grausamen Calvenschlacht, von der schillernden Handelsstadt Venedig und den Anfängen eines neuen Zeitgeistes.
SpracheDeutsch
HerausgeberAthesia
Erscheinungsdatum15. Feb. 2018
ISBN9788868390235
Zerrissenes Zwillingsherz: Historischer Roman Schauplatz Tirol/Südtirol/Venedig

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    Buchvorschau

    Zerrissenes Zwillingsherz - Patrizia Trafoier

    18. MÄRZ 2013

    Es ist 7.17 Uhr. Ich sitze in einem überfüllten Kaffee. Mein I-Phone liegt vor mir auf dem Bartresen. Während ich auf meinen Espresso warte, checke ich zum zweiten Mal an diesem frühen Morgen meine Mails. Und in der Tat. Sie haben Post, tönt es mir entgegen.

    ‚Hab’s geschnallt‘, denke ich.

    Ich checke den Betreff und runzle die Stirn: ‚Zum Nachdenken. Für dich. Hab dich lieb.‘

    Mein Blick fällt auf den Absender. Zum Sichergehen. Ich möchte mir ja keinen Hacker ins Netz holen. Es scheint ungefährlich. Also öffne ich die Mail.

    ‚Ein Gedicht?‘ Ich schmunzle.

    Aber, nun gut. Ich werde es lesen. Aber nicht hier. Zu unbequem. Ich schnappe mir meinen eben servierten Espresso und verlagere mich samt Jacke, Tasche und I-Phone in den hinteren Teil des Cafés.

    ‚Hier ist es ruhiger‘.

    Ich setze mich auf einen der weich gepolsterten Sessel, lege meine Sachen ab und öffne nochmals die Mail.

    Still,

    die Zeit

    sie weiß es nicht,

    wann in Meran

    der Tag anbricht

    ‚Oooook?‘, denke ich. ‚Schwerer Stoff!‘

    Ich atme tief durch und versuche, mich vom hektischen Alltag zu distanzieren, mache Platz für eine andere Sichtweise. Mit einem zufriedenen Lächeln tauche ich schließlich ein, in den Sog aneinandergereihter Wörter, die mir das Tor zu anderen Sphären öffnen sollen …

    FLÜSTERLIED

    Für dich: Der noble Städte Schein

    verbirgt das wahre Sein

    in unsrer Zeit

    der kleinen Welt,

    geprägt von Technik, Schönheit, Geld.

    Geblendet vom erträumten Ruhm,

    taub dem, was wir uns selbst zuleide tun,

    rühmen wir uns unsres Seins, das wir angenommen,

    und sind der Wurzeln blind, die stetig leis’ verkommen.

    So ist’s an uns

    nicht mehr zu sehen

    und nicht zu verstehen

    der Güter Herkunftsland

    und des eignen, inneren Gewand.

    Wir sind der Zeit wohl keine Freud

    stehen wir zu fragen heut’

    dasselbe, wie einst er vor 100 Jahr

    so, was wohl in dunkler Zeit geschehen war?

    Als Kauze verschiedensten Gemüts zu beschreiben wussten das Wesen edlen Geblüts.

    Zu öffnen wagten des Geistes Tür

    und zu erreichen suchten des Menschen Kür.

    Wir streben nach dem einst’gen Gesinnungsgeist,

    der, getrieben von Freiheit und Gerechtigkeit einst,

    schönster Ideale zu Beginn,

    verschwand. Und mit ihm des Lebens Sinn.

    Welchen Weg zu gehen?

    Ich weiß es nicht.

    Ab vom oberflächlichen Gesicht.

    Der Geist erneut soll Früchte tragen.

    Der Mensch soll innerstes Träumen wagen.

    Doch das Amulett,

    das mahnt,

    lass nicht zu viel Zeit vergehn,

    sonst wirst du letzten Endes

    an deinem Ende stehn.

    Still,

    die Zeit,

    sie weiß es nicht,

    wann in Meran

    der Tag anbricht.

    Still,

    die Zeit

    sie weiß es nicht,

    wann in Meran

    der Tag anbricht.

    (Auszug aus dem Flüsterlied)

    MERAN, 1914

    ER schließt die Augen, atmet tief den Duft des Wassers, diesen erdigen, nassen Geruch. Seine Hände ruhen auf seinen angewinkelten Knien. Der Stein, an den ER sich anlehnt, fühlt sich rau an, und kalt.

    ER lauscht dem Rauschen der Passer; dem plätschernden und gurgelnden Geräusch der Wellen und Wasserschnellen, dem durch das Rauschen des Baches kaum vernehmbaren Stranden zarter Wellen auf dunkelgrauem Sand. ER lächelt.

    Sonnenstrahlen durchbrechen die Wolken. Sie sind warm, passend für diese Jahreszeit.

    Sie fallen auf seine zarte Gestalt.

    Still sitzt ER am Ufer der Passer, alleine.

    ER sieht adrett aus, mit seinen schwarzen Lackhalbschuhen und dem mit einem seidigen Gewebe bezogenen Revers seines Frackmantels. Das Schneeweiß seines gestärkten Hemdes blitzt darunter hervor. Über seiner Brust glänzt ein fremd anmutendes Amulett, das von einer goldenen Kette gehalten wird. Geheimnisvoll funkelnd wirft es das Licht der Sonnenstrahlen zurück.

    Gedankenverloren greift ER zu seinem Talisman, der ihn hierher zurückgebracht hat, in die Stadt seines Erfolgs. Dessen ist ER sich sicher. Sein Filzzylinder liegt neben ihm, weiß und elegant. Alles so, wie es die letzte Mode vorschreibt. Es wäre ein Fauxpas, nicht nach deren Richtlinien gekleidet zu sein. Zu edel die Besucher dieser Stadt, zu schick das Milieu.

    Hier aber traut ER sich, ihn abzulegen. Den Zylinder. Hier darf ER er selbst sein.

    Ohne ihn zitierende Zeitungsberichte, ohne das erwartungsvolle Klatschen des Publikums, ohne die verstohlenen Blicke fein gekleideter Damen in eng gebundenen Miederkleidern und mit feinsten Perlenketten, sich kokettierend Luft zufächelnd.

    Eigentlich ist es ihm zuwider, dieses elitäre Volk.

    Eigentlich ist sie ihm zuwider, diese elitäre Stadt mit ihren Promenaden, diesen wundervollen Promenaden, bepflanzt mit Mandelbäumen und wild duftenden Rosen, diese Stadt mit ihren feinen Damen in edlen Gewändern aus feinster Spitze und breiten Atlasgürteln um die schmale Taille, ihren italienischen Strohhut zurechtrückend, bedacht, den Kranz aus pastellblauen Atlasrosetten nicht ungünstig zu berühren. Gekonnt schwingen sie ihren Spazierstock, dessen edlen Griff antike Smaragde und Perlen zieren.

    Elegant haken sie sich ein bei dem noblen Herrn aus gutem Hause, auch er fein gekleidet mit Smoking und Zylinder.

    Gemeinsam promenieren sie durch die Stadt, flanieren entlang der Düfte verbreitenden Promenade, die Wandelhalle¹ hindurch, am eleganten Musikpavillon vorbei.

    In der Ferne besticht die schneebedeckte Zielspitze als faszinierendes Gegenstück zu der glamourösen Kulisse der Kuppel mit den tanzenden Musen des neuen, soeben fertiggestellten Kurhauses. Stolze Blicke, blasiertes Gehabe, schwerer Parfumduft, funkelnder Schmuck, Spitzzüngigkeit und falsches Gerede. Wie liebt ER diese Stadt. Wie ist sie ihm zuwider.

    ER öffnet die Augen. Es wird Zeit. Langsam erhebt ER sich. ER klopft den klebrig feuchten Sand aus seinem Gewand. Und seufzt. Ganz wird ER Hose und Mantel nicht sauber bekommen. Und erst die Schuhe!

    ER entscheidet sich für einen kurzen Spaziergang. Noch für einen Moment die Ruhe vor dem Sturm genießen und ganz nebenbei die Kleidung vom trocknenden Sand befreien.

    ER nimmt seinen Zylinder. Setzt ihn auf sein mit dicken glänzenden Haaren gekröntes Haupt. Langsam steigt ER die Böschung empor. Langsam und bedacht. ER möchte die Schuhe nicht noch schmutziger machen, als sie ohnehin schon sind.

    Oben angekommen greift ER in seine linke Manteltasche und holt seine weißen Handschuhe heraus. ER klopft sie ein paar Mal gegen seine innere rechte Handfläche, dann zieht ER sie über.

    ER blickt nach rechts. ER blickt nach links. Keine Menschenseele zu sehen. ER strafft seinen gestärkten Kragen, rückt den Zylinder in die richtige Position, streckt seine Schultern durch, verschränkt seine Hände auf dem Rücken und… promeniert; das kleine Stück Promenade entlang, durch das Bozner Tor hindurch, die Münzgasse² hinauf bis zur Pfarrkirche.

    ER bleibt kurz stehen. Blickt hinüber ins alte heruntergekommene Stadtviertel.

    Kein Vergleich zu den herrlichen Promenaden, dem schmucken Theater, dem Kurhaus.

    Als wäre dies eine andere Stadt. Als wäre dies eine andere Zeit. Ein Mädchen geht eiligen Schrittes die Gasse hinab. ER schätzt sie um die sechzehn Jahre.

    „Sie ist einfach gekleidet. Sie wird wohl auf dem Weg zur Arbeit sein. Vielleicht ist sie als Putzweib in einem der noblen Hotels beschäftigt", mutmaßt ER.

    Schüchtern wirft sie ihm einen verstohlenen Blick zu. ER lächelt, grüßt.

    Rasch senkt sie ihren Kopf, huscht lautlos an ihm vorbei. ER setzt seinen Weg fort.

    Entlang der Passeirergasse. ER blickt auf einfache, teils zerfallene Mauerfassaden, schmale, geschlossene Fensterläden, verschmutzte Wassergräben.

    „Mein Herr, Sie haben sich wohl verlaufen? Zum Kurhaus und dem Theater geht es in die andere Richtung!"

    ER blickt auf.

    Eng in eine Mauernische geschmiegt kauert ein in zerrissenen, schmutzigen Gewändern gekleideter alter Mann. Seinen mit ein paar wenigen grauen Strähnen behaarten Kopf ziert ein undefinierbares Gebilde, das wohl einst als Hut gegolten hatte, dessen Löcher aber dank dieses so fantasiereich scheinenden Herren mit allem gestopft wurden, was sich auf der Straße finden ließ, und nun mehr dem Auswurf städtischen Kehrichtes als dem einer Kopfbedeckung gleicht. Seinen Oberkörper kleidet eine alte, farblich nicht mehr erkennbare, grob gestrickte Jacke, über der er einen alten, an den Seiten mehrfach eingerissenen und wohl von der Straße aufgelesenen, knielangen Mantel trägt, einzig mit einem Knopf, der vom nicht unmerklich auffallenden Bauch gesprengt zu werden droht, zusammengehalten.

    Mit einer ausladenden Geste deutet der Mann auf ein heruntergekommenes, verfallenes Haus, das traurig und leer auf eine längst vergangene Zeit verweist.

    „Dies ist doch nicht der geeignete Rahmen für einen so edlen Herren, wie Sie es sind!"

    Irritiert blickt ER dem alten Mann in die Augen. Es gibt keinen Zweifel. Tatsächlich erdreistet sich dieser, sich über ihn lustig zu machen.

    „Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich mich täuschen sollte. Aber ich glaube kaum, dass wir uns schon einmal begegnet sind, geschweige denn, dass Sie sich in irgendeiner Weise ein Urteil über mein Tun anmaßen könnten."

    Der Alte mustert ihn spöttisch:

    „Und eben dieses haben Sie mir mit ihrem geschwollenen Gerede gerade bewiesen!"

    Unmerklich zieht ER seine Augenbrauen nach oben. In ruhigem Ton spricht ER zum Alten:

    „Mein Herr, Sie irritieren mich zunehmend und ich weiß beim besten Willen nicht, weshalb Sie so aggressiv auf meine Person reagieren!"

    „Mein ach so junger nobler Freund, wie gepflegt Sie sich auszudrücken vermögen. Und dies trotz meiner nicht wirklich liebevollen Anrede. Dabei möchten Sie mir doch am liebsten mein freches Maul stopfen."

    Zaghaft richtet sich der Alte auf. Seine alten Knochen scheinen ihn zu schmerzen.

    „Sehen Sie, es ist nicht Ihre Person, die mich verärgert, vielmehr ist es Ihre Erscheinung. Verstehen Sie mich nicht falsch. Blicken Sie auf dieses Haus. Etwas Putz, neue Fensterscheiben, neue Farbe an den Läden, eine neue Eingangstür. Und schon würde es einen recht passablen Eindruck machen. Der Eintritt indessen bliebe verwehrt. Schließlich soll niemand die nackten, verfallenen, jahrhundertealten Wände erblicken. Sie könnten ja etwas erzählen, das den Betrachter brüskieren könnte."

    „Ich verstehe nicht…"

    „Nein, mein Herr?"

    Der alte Mann tritt in das verfallene Haus und bittet ihn mit einer einladenden Geste hinein.

    ER zögert. Blickt nach links. Blickt nach rechts. Die Gasse ist menschenleer. Zaghaft tritt ER ein.

    ER blinzelt. Nur langsam nimmt ER seine Umgebung wahr. Es ist ein langer schmaler Raum. Kalt. Leer. Da und dort häuft sich der Schutt eingefallener Wände.

    ER würgt. Modriger Geruch, gepaart mit dem übelriechenden Duft verfaulender Exkremente, kriecht in seine Nase. Schnell presst ER seine Hand dagegen.

    Sein Blick fällt auf einen Mauervorsprung. ER geht hin. Streckt seine Hand aus. Lässt seine Finger die Mauerkante entlang gleiten. Plötzlich überkommt ihn ein kalter Schauer. Erschrocken zieht ER seine Hand zurück.

    „Was ist hier geschehen?"

    Der alte Mann nähert sich ihm. Er legt ihm eine Hand auf die Schulter. Leise flüstert er:

    „Spüren Sie etwas?"

    „Ich … ich weiß nicht. Ich möchte gehen."

    ER dreht sich abrupt um. ER möchte fliehen, aus diesem schauerlichen Raum.

    Der Alte hält ihn am Arm fest.

    „Nein, gehen Sie nicht. Ich habe so lange auf Sie gewartet."

    „Sie kennen mich doch gar nicht!"

    Der Alte hebt seinen Zeigefinger und pocht ihm kräftig gegen die Brust:

    „Doch, ich kenne Sie. Und Sie wissen es. Sie spüren es."

    Der Alte packt sein Gegenüber an den Schultern. Dieses ruft irritiert:

    „Ich glaube, Sie sind verrückt. Lassen Sie mich gehen!"

    ER schüttelt den Alten von sich ab und sucht den Ausgang. Der Alte ruft ihm nach:

    „Sie können nicht fliehen! Niemand kann vor seiner Vergangenheit fliehen!"

    ER zögert. Der Alte hat Recht. Irgendetwas hält ihn an diesem Ort. Irgendetwas ist da, ER fühlt es. Und es macht ihm Angst. ER fühlt, dass hier etwas geschehen ist. Dass hier etwas Schreckliches geschehen ist.

    Ein Teil von ihm will diesen Ort verlassen. Zurück auf die herrlichen, sonnenbeschienen Promenaden, zurück in das prunkvoll verzierte Theater, hinein in die elitäre Welt.

    Der Alte hat Recht. Sie ist oberflächlich. Diese elitäre Welt. Aber zumindest weiß ER, was ER von ihr erwarten darf. Hier jedoch weiß ER gar nichts. ER spürt nur etwas. Und das, was ER spürt, macht ihm Angst.

    Trotzdem kann ER die Schwelle nicht passieren, nicht hinaustreten in die staubige Stadtgasse, welche ihn mit ein paar Schritten zurück zur Pfarrkirche führen würde.

    ER spürt den Alten in seinem Rücken. Wartend. Drängend.

    ER richtet seine Stimme an den Alten. Sie zittert:

    „Ich bin noch nie hier gewesen!"

    „Wie nahe stehen Sie ihren Eltern?"

    „Wieso fragen Sie?"

    „Ich bitte Sie, mir nur meine Frage zu beantworten. Wie nahe stehen Sie Ihren Eltern?"

    „Was möchten Sie hören? Meine Eltern sind ein Teil von mir. Ich habe sie geliebt. Sie waren meine Familie."

    „Dann wissen Sie auch, was Sie mit diesem Ort verbindet."

    „Kennen Sie etwa meine Eltern? Waren sie schon einmal hier?"

    „Mein Junge, das weiß ich nicht."

    „Bitte, erzählen Sie mir, was hier geschehen ist."

    „Wieso glauben Sie, dass hier etwas geschehen ist?"

    Nun ist ER es, der nach der Hand des Alten greift.

    „Ich spüre es. Und ich bitte Sie, erzählen Sie, was Sie wissen."

    Der Alte blickt ihn prüfend an. Dann befiehlt er: „Setzen Sie sich und hören Sie zu!

    Es geschah hier, in diesen Räumen. In einer Welt, so fern der unseren. Es war die Zeit der beginnenden Aufklärung. Mit Wohlwollen atmeten die Menschen den neuen humanistischen Zeitgeist, der zaghaft aus Italien heraufströmte. Was die Fugger für die damalige Wirtschaft waren, das waren Kopernikus für die Astronomie, Leonardo da Vinci und Michelangelo für die Künste und Christoph Kolumbus für die Seefahrt;… aber, halt…"

    Der Alte unterbricht sich:

    „Ich eile zu sehr voraus. Denn, am Anfang unserer Geschichte war von diesem neuen Geiste noch nichts zu spüren. Jedenfalls nicht hier, in dieser Stadt. Während sich die Menschen anderswo langsam, aber sicher vom Mittelalter verabschiedeten, blieben die Leute hier ihrem alten Gedankengut treu ergeben. Eine Tatsache, die verhängnisvoll enden sollte…"

    Gedankenverloren schüttelt der Alte seinen Kopf.

    „… verzeihen Sie, ich schweife zu sehr aus. "

    Mit überlegter Stimme fährt er fort:

    „Nun, mein Freund, Tirol war ein reiches Land und wurde auch ‚Schatzkammer des Hauses Österreich’ genannt. Der Handel in Meran florierte,… noch. Dank der gut ausgebauten Wegstrecke wählten die meisten Händler, deren Wagenzüge über den Reschen- und Brennerpass rollen mussten, den Weg durch unsere Stadt; und die Städter verdienten am Durchzugshandel,… noch. Manche Händler blieben einige Zeit in der Stadt und nahmen am örtlichen Marktgeschehen teil. Andere zogen, nachdem die Zugpferde wieder versorgt waren, weiter. Meran konnte sich sehen lassen. Auch, wenn die Stadt ihre Vormachtstellung an die Residenzstadt des Königs und späteren Kaisers Maximilian I³, an Innsbruck, verloren hatte. Außerhalb der Stadt lebten die Leute als Bauern, betrieben Landwirtschaft und Viehzucht. Und wenn der Ertrag zu gering war, arbeiteten sie zusätzlich als Knappen im Bergbau in einem der nah gelegenen Erzstollen, da zur damaligen Zeit Tirol reiche Silbervorkommen aufweisen konnte.

    In diese Zeit, nun, wurde ein Zwillingspaar hineingeboren …"

    Der noblen Städte Schein

    verbirgt das wahre Sein

    in uns’rer Zeit

    der kleinen Welt,

    geprägt von Technik, Schönheit, Geld.

    (Auszug aus dem Flüsterlied)

    1 Wandelhalle: ein 90 m langer und 4 m breiter überdachter Spazierweg mit schmiedeeisernen Dachträgern und Holzplafond. Die Innenwand schmückt heute eine Reihe von Wandgemälden.

    2 Münzgasse, heute Leonardo da Vinci Straße. Bis 1882 hieß die Gasse Münzgasse, da sich die Münzprägestätte an deren Ausgangspunkt am Pfarrplatz befand. Zwischenzeitlich wurde sie in Postgasse umbenannt.

    3 Maximilian I von Habsburg, 1459 – 1519, auch der letzte Ritter genannt, war römischdeutscher Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1508 – 1519) und alleiniger Herrscher aller damaligen habsburgischen Territorien.

    MERAN – MCDXCVIII

    Ende des 15. Jahrhunderts

    „Mira, warte auf mich!"

    Doch Mira wartete nicht. Mira wartete nie. Sollte er sie doch einholen. Sie rannte so schnell sie ihre Beine tragen konnten; auf und ab; über Steine und ausgewaschene Pfade. Hie und da musste sie aufpassen, um nicht auszurutschen und in den Schlamm oder in eine der vielen Pfützen zu fallen, die der ausgiebige Regen der letzten Tage gebildet hatte. An der Blumenwiese angekommen blieb sie stehen. Aufatmend blinzelte sie in die Sonne. Sie öffnete ihr weißes Haarband. Sofort verfing sich der Wind in ihren langen, braunen, lockigen Haaren. Sie streckte Arme und Körper gegen den hellblauen Himmel. Wie wohl das tat. Lachend drehte sie sich im Kreis. Schneller, immer schneller, bis sie rückwärts ins weiche Gras fiel, ihr blasses Gesicht wärmehungrig zur Sonne gereckt.

    Die warmen Strahlen benetzten ihre Haut, ihr Haar, ihren Körper. Es war herrlich!

    Endlich war wieder Frühling. Es war Ende April. Der Regen hatte aufgehört und die Sonne schickte ihre ersten frühsommerlichen Boten. Der leichte Wind fing die von den Bäumen fallenden Blüten auf und ließ sie durch die Luft tanzen. Zart verströmten sie ihren Duft, der sich mit dem von nassem, sprießendem Gras vermischte.

    Mira erhob sich und begann zu laufen. Sie lief und lief. Sie lief über die Wiese, sprang zwischen den hohen Obstbäumen hindurch, bis hin zur alten Scheune. Erst dort blieb sie kurzatmig stehen.

    Schnell blickte sie sich um. Dann trat sie langsam ein. Die Tür knarrte. Innen war es kühl. Es roch nach modrigem Heu, das noch vom Vorjahr übrig geblieben war. Zögerlich bahnten sich die Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Holzritzen. Mira ließ sich rücklings auf einen Haufen Stroh fallen. Sie streckte Arme und Beine weit von sich und schloss die Augen. Dies war ihr Lieblingsort, der Ort, der all ihre Sorgen, Ängste, aber auch ihre Träume kannte; ihre und die ihres Bruders Karl.

    „Du hättest auf mich warten sollen!"

    Karl stand in der Türe. Sein breiter Schatten ließ ihn noch größer erscheinen, als er war. Seine bunte, geschlitzte Kleidung verriet den erst Achtzehnjährigen als jungen Landsknecht im Dienste des Kaisers. Obwohl sie Zwillinge waren, ähnelten sie sich kaum. Mira war klein und zierlich, Karl groß und breit gebaut und er überragte seine Schwester um eine gute Kopflänge. Ihre ausgemergelten Körper und die ausgehöhlten Wangenknochen zeugten vom harten Winter, den die Kinder hinter sich hatten.

    Schwer lasteten ihre Sorgen, die sie mit den anderen Bürgern teilten, auf ihren Schultern.

    Denn die Angst vor einem bevorstehenden Krieg vor den Toren Merans war groß, wusste doch jedermann von der Kriegslust des Kaisers. Jüngst hatte Kaiser Maximilian Leonhard von Völs nach Meran bestellt, um die städtischen Verteidigungsbauten ausführen zu lassen. Als Ausgleich für die anfallenden Spesen wurde den Bürgern sogar eine kürzlich eingeführte Steuer erlassen, was jedoch keine wirkliche Erleichterung für die zahlungskräftigen Meraner bedeutete. Vielmehr schürte der bauliche Eingriff deren Angst und sie fragten sich, ob der langwährende Konflikt zwischen den Engadinern und dem Kaiser Grund dafür war. Schließlich wusste jeder, dass sich die Lage gefährlich zuzuspitzen drohte.

    Mira und Karl, deren schmerzende Wunden ihres tiefen persönlichen Verlustes noch nicht verheilt waren, sahen sich taub und willenlos den Machenschaften der Obrigkeit ausgeliefert; der politischen wie der familiären.

    Aber hier in der Scheune, eingebettet in sanften Wiesen vor den Toren der Stadt, konnten sie all ihre Probleme für eine kurze Zeit vergessen. Dieser war ihr geheimer Ort. Der Ort, an dem sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen konnten. Der Ort, an dem die Welt so war, wie sie es sich wünschten. Der Ort, an dem sie glücklich sein durften, ohne Gefahr zu laufen, dass jemand kam und dies zerstörte.

    Liebevoll blickte Karl auf seine Schwester herab.

    Mira war trotz ihrer hageren, blassen Gestalt für Karl das Schönste und Liebste. Er sah nicht die in braunen, fleckigen und löchrigen Lumpen gekleidete junge Frau. Er sah nur ihren Stolz und ihren Kampfgeist in den großen Augen blitzen. Wenn er bei ihr sein konnte, wurde auch der schlimmste Tag etwas erträglicher. Mit sarkastischem Witz schaffte Mira es, Karl immer wieder zum Lachen zu bringen und das Leben etwas erträglicher zu gestalten – dafür liebte er sie und das schon, seit er sich besinnen konnte.

    Die Beiden ahnten nicht, dass dies das letzte Mal sein würde, dass sie glücklich beisammen waren …

    ERSTER TEIL · MCDLXXIX

    neunzehn Jahre zuvor

    Verträumt schloss Walli ihre sonnenbeschienenen Lider; wohlig reckte sie sich im weichen Gras. Die alte Frau genoss die frühlingshafte Wärme, die ihre nackten Glieder liebkosend umschloss. Leise stimmte sie in das Lied der Vögel mit ein, die in neckendem Spiel, zwischen den Ästen der hohen Bäume hindurch flatterten und zwitschernd die warme Jahreszeit begrüßten.

    Tief atmete Walli die Luft, die nach nassem, vom vielen Regen der letzten Tage vollgesogenem und jetzt in der Sonne dampfendem Unterholz, feuchtem Moos und neu ausgetriebenen Birken- und Fichtenzweigen roch.

    Walli liebte diese friedliche Ruhe, die Ruhe des Waldes, ihres Waldes, dessen hohe Bäume im Sommer Schutz vor der drückenden Hitze boten, während die Winter dank des mediterranen Klimas dieser im südlichen Teil Tirols gelegenen Bergkette meist schneearm und relativ mild verliefen. Ja, sie liebte diese Ruhe, fernab der Menschen.

    Mit einem zarten Lächeln auf ihren mit den Jahren faltig gewordenen Lippen döste sie ein.

    Plötzliche, alarmierende Laute holten Walli forsch aus ihrem Tagtraum. Sie waren ihr so wohl vertraut, dass sie ruckartig emporschoss:Fleckl!

    Ihre treue, schon etwas in die Jahre gekommene Bergziege schenkte Walli immer noch freigiebig ihre nährende und in so manchem harten Winter lebensrettende Milch und entpuppte sich zudem über die Jahre als ausgezeichneter Wachhund. Sofort schlug sie Alarm, wenn sich ein Fremder Wallis Hütte näherte.

    Eilig zog sich Walli ihren Umhang über und stieg von der steilen Plattform herab, die der Hütte, mit deren Anbau sie den Wohnraum der natürlich in den Fels führenden Höhle erweitert hatte, als Dach diente. Von den lästernden Partschinser⁴ Dorfbewohnern wurde ihr linkisch zusammengebautes Heim, das sich im unwegsamen, steilen Gelände an der Süd-Westflanke eines knapp 2300 m hohen Berges unweit von Meran befand, auch häufig „dr Stuaner Geada ihrer Hexnhütt" genannt; wobei der Name sich auf ihre verstorbene Ziehmutter bezog, die jedoch nur in der Höhle selbst gehaust hatte.

    So waren die Menschen; Gewohntes legten sie ungern ab.

    Walli hatte gelernt, mit diesen und anderen Gehässigkeiten der Menschen ihr gegenüber zu leben.

    Viel musste sie sich über die Jahre von den Dorfbewohnern gefallen lassen. Eine Hexe sei sie, so wie einst Gertraud, ihre Ziehmutter, an die sie sich in so mancher Stunde liebevoll erinnerte. Furchtbare Gewitter sollen die beiden Frauen zusammengebraut haben; von Würmern, Mäusen und Ratten, welche sie mit Zaubersprüchlein herbei zu locken verstanden, sollen sie sich ernährt haben; mit dem Teufel sollen sie im Bunde gestanden und sich auf so manches lustige Stelldichein mit ihm eingelassen haben.

    Einmal, als nach einem starken Unwetter beinahe das gesamte Dorf Partschins mit der unterhalb des Ortskerns liegenden Kirche St. Helena in der Töll zerstört wurde, kamen die Dorfbewohner zu ihr hinauf, beschimpften sie aufs Gröbste und warfen mit Steinen nach ihr und ihren Tieren. Walli blieb nichts Anderes übrig, als ihre beiden an einer Hanfleine angebundenen Ziegen zu befreien und in den dichten Wald zu flüchten. Den Wald kannte sie so gut, dass sie ihre Verfolger bald schon abzuschütteln vermochte. Als sie nach zwei Tagen wieder zu ihrer Hütte zurückgekehrt war, hatten die Dörfler das Wenige, das Walli besessen hatte, zerstört oder verbrannt. Die beiden Ziegen aber hatten treu auf ihre Herrin gewartet.

    Am Schlimmsten war für Walli damals der Verlust ihrer Heilkräuter gewesen. Eine reiche, mühsame und zeitaufwendige Ansammlung verschiedenster Kräuter, dank derer sie schon so mancher Dorfbewohnerin, die in Nöten gekommen ihre Hilfe aufsuchte, beistehen konnte.

    Bis weit ins Etschtal hinab und in den Vinschgau hinauf erzählten sich die Leute mit vorgehaltener Hand von Wallis umfangreichem Wissen über Heilkräuter und deren Anwendung bei Krankheiten und anderen Nöten. Viele Frauen waren es gewesen, die ihre Angst vor der vermeintlichen Hexe hinunterschluckten und hilfesuchend zu ihrer Hütte emporstiegen. Und kaum eine musste unverrichteter Dinge wieder ins Dorf hinabsteigen.

    In guten Zeiten wurde Walli mit Naturalien belohnt. So bekam sie auch schon mal eine Legehenne samt Hahn geschenkt. Eine Gabe, die ihr das winterliche Überleben im Wald sehr erleichterte. Einmal, nach dem Besuch einer von ihrem Liebhaber geschwängerten reichen Bürgersfrau, deren Mann hohes Ansehen genoss, bekam sie sogar eine große ‚Hamme‘⁵ Speck, frisch geschorene Schafwolle und einen jungen Ziegenbock geschenkt.

    In schlechten Zeiten dagegen freute sich Walli über dankende Worte und Versprechungen, die jedoch immer wieder vergessen wurden.

    Mit festem Schritt ging Walli auf ihren nicht geladenen Besuch zu. Schließlich kam sie nah vor der Frau zu stehen. Mit wissendem Blick betrachtete sie das junge Ding, dessen Körper die verräterischen Zeichen einer Schwangerschaft zeigte. Ein altes zerrissenes Hemd war seine einzige Kleidung. Abgemagert, blass und schmutzig stand Ursula mit gesenktem Haupt vor Walli. Ihre dunkelblonden Haare hingen verschmutzt und strähnig herab. Zwei Lumpen hatte sie zum Schutz vor den spitzen Steinen um ihre Füße gewickelt. Schuhe besaß sie keine.

    Langsam hob Ursula ihr Gesicht. Ihr Blick war wirr, ängstlich und von Leid geprägt.

    Walli packte Ursula mit beiden Händen fest an deren Schultern und blickte der jungen Frau tief in die Augen. Ursula zuckte zusammen und senkte erschrocken den Kopf.

    Nun durchbrach Walli die Stille. Mit festem, lautem Ton befahl sie:

    „Rede mit mir, zum Teufel!"

    Schrill lachte Ursula auf. Sie riss sich los und schrie:

    „Ha, der Teufel! Ich, ich hab Teufels Brut in mir!"

    Mit beiden Händen schlug sie sich mehrmals auf die eigene Brust.

    „Hängen will er mich! Auf dass ich seine Brut nicht gebäre. Hast du gehört? Der Teufel, der Teufel hat’s mit mir getrieben!"

    Walli holte aus. Schallend schlug sie Ursula ins Gesicht.

    „Sei still, du dumme Gans! Weißt ja nicht, was du sprichst. Nicht der Teufel war’s, sondern ein Mannsbild, das seinen Spaß mit dir treibt!"

    „Du lügst. Der Teufel …"

    „Nichts will ich hören! Sieh, dass du verschwindest. Ich brauch kein verrücktes Weibsbild. Geh zurück, wo du hergekommen bist!"

    Walli stieß Ursula ein Stück zurück. Diese entfernte sich ein wenig, drehte sich dann ruckartig um und überschüttete Walli mit Schimpfworten.

    Walli ging wütend in ihre Hütte und hörte das wilde Gezeter nicht mehr.

    *

    Die Lust auf einen gemütlichen Waldspaziergang war Walli gehörig vergangen. Als hätte sie nicht schon genug Ärger mit

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