Ich hab die Unschuld kotzen sehen 4: Das leise Verschleißen der Gegenwart
Von Dirk Bernemann
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Teil 4 der Bestsellerreihe, wieder anders, wieder neu und doch gleich.
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Rezensionen für Ich hab die Unschuld kotzen sehen 4
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Buchvorschau
Ich hab die Unschuld kotzen sehen 4 - Dirk Bernemann
Tod
Geburt
Jede Geburt ist eine Krise. Meine Mutter meinte während meiner Kindheit zu mir, ich wäre die perfekteste Niederkunft gewesen. Schmerzfrei und schnell. Fast hygienisch wie ein Stück Arztseife, das durch die Handinnenflächen eines Chirurgen gleitet. Es gibt Menschen, die sind innen so schön, dass man, schriebe man über sie, als Autor nicht glaubwürdig wäre. Und es gibt mich.
Der Grund meiner Existenz ist das Vergehen meiner Eltern, über das ich nie mit ihnen gesprochen habe, aber ich mutmaße Folgendes: Zwei junge, triebhafte Menschen verschiedenen Geschlechts mit dem Plan einer gemeinsamen Zukunft und bereits einem gemeinsamen genetischen männlichen Ableger in einem Kinderzimmer, trafen sich in absoluter, katholischer Dunkelheit in einem Eicherustikalschlafzimmer. Sie hat sich auf den Rücken gelegt, er hat sich gefühlt wie ein Zuchtbulle und 15 Sekunden später war dieser Typ, der mal ich werden sollte auf dem Weg vom Hodeninneren meines Vaters in das zu befruchtende Eiland meiner Mutter. Etwas später war Dezember, es war kalt und windig und ich sah aus wie alle organischen Blutpfützen, die durch die vaginale Ausgangstür ins Leben gerissen werden. Frohe Weihnachten, liebe Eltern, dachte ich kurze Zeit später, ohne zu wissen, was Weihnachten ist.
Überall waren Luftballons. Auf Kinderfotos sieht man, wie ich als ziemlich hilfloser fleischgewordener Stolperstein durch einen Raum krieche, in dem sich mindestens 200 aufgeblasene Luftballons befinden. Meine stolzen Eltern hatten einen Fotoapparat, so hieß das damals, als es noch nicht Kamera hieß. Es war 1975, alle Fotos von damals weisen so einen Orangestich auf, der bei heutigem Betrachten eine seltsame Flauheit in meinem Magen auslöst. Aber meine Mutter und mein Vater schienen diese Szenerie, in der ich mich durch einen Ozean von bunten Ballons wühle, scheinbar dergestalt interessant zu finden, dass sie diesem Ereignis mindestens 15 Bilder widmeten. Sie ließen mich krabbeln, also krabbelte ich. Ich sollte also ein ernstzunehmender Mensch werden.
Irgendwo war immer Liebe, irgendwo war immer Langeweile. Es gab keine Handys, es gab einen ersten Kuss auf den Stufen vor einem Haus mit einem Mädchen, das nach Pfirsichen roch und auch ein bisschen so aussah, es gab Zustimmung, Abgrenzung und Krawall. Meine Eltern waren Haushalt, korrektive Schläge und Baustelle, irgendwie traditionell alles, wenig Spaß im Alltag, außer Playmobil. Man weiß nicht mehr genau warum, aber ab irgendeinem Zeitpunkt in meinem Leben bin ich traurig geworden.
Ich war zwölf und plötzlich war Dagmar tot. Ich weiß noch, wie morgens die Lehrerin in die Klasse kam, es war November, die Jahreszeit der Schals, Mützen und Handschuhe hatte gerade begonnen. Irgendwas im Blick von Frau Hagen war anders als sonst. Sie schien geweint zu haben. Etwas blockierte ihren sonstigen Schwung. Stellte ihre Tasche nicht wie gewohnt neben den Stuhl, sondern auf das Pult. Ließ ihren langen, beigen Mantel an, so als wolle sie nur kurz bleiben, um dann schnell wieder zu verschwinden. Wie eine Zugreisende an einem Bahnsteig, dachte ich damals. Jemand auf der Durchreise.
Sie begrüßte uns, wir begrüßten sie. Es gab dieses Ritual, bei dem alle Schüler aufstehen mussten, um mit einer Stimme den eingetretenen Lehrkörper zu begrüßen. Es waren die 80er Jahre, man hatte noch Angst vor Disziplinlosigkeiten aller Art. Drei Plätze waren leer. Erkältungswetter. Frau Hagen begann zu reden und in ihre Worte mischten sich Tränen. Dagmar, sagte sie, sei tot. Lange Pause. Langes, zitterndes Schluchzen. Ansonsten Stille. Ein paar Mitschüler kramten in ihren Sachen. Unbeholfen. Dann kam der nächste Schlag. Kerstin fragte mit zitternder Stimme, was genau passiert sei und anstatt mit den Schultern zu zucken, sagte Frau Hagen in einer Kälte, die ich ihrer Stimme nicht zugetraut hatte: »Selbstmord.«
Da hing nun also dieses Wort in unserem Klassenraum. Schwebte zwischen Vokabelheften und Atlanten, tänzelte verwegen zwischen Mathebüchern und Kinderzeichnungen an den Wänden, kletterte in vereinzelte, hilflose Kinderhirne, um dort melancholische Vorstellungen anzurichten, die niemand hier wirklich verbildlichen konnte. Blicke huschten über Dagmars leeren Stuhl und über Martha, ihre daneben sitzende Freundin, die zu einem Klumpen Unaussprechlichkeit eingefroren war und erst nach ungefähr fünf Minuten ein Weinen entäußern konnte. Die meisten Jungs kramten weiter unruhig mit Stiften oder Heften, während sich die meisten Mädchen hilflos schreiend und laut weinend umarmten.
Ich spürte in mich rein, wie eben ein Zwölfjähriger in sich reinspüren kann. Begrenzt emotionsfähig. Da war ein Regal in mir, darauf standen ein paar Erinnerungen, geordnet wie aneinandergereihte Bücher. Daneben stand eine Vitrine mit emotionalen Kostbarkeiten, die ich mir aus dem Fernseher geholt hatte. Tod durch Selbstmord war irgendwie immer Inszenierung, war immer Theater. War irgendwas, was irgendwie gut aussah und doch zu einem traurigen Ergebnis zu führen schien. Tristtassigkeit und Trübtess. Ich schaute aus dem Fenster. Wolken. Dagmar. Dagmar in den Wolken? Es war die Zeit, in der ich Gott viele Fragen stellte, keine Antworten bekam und dann ihn infrage stellte. Nicht mal darauf ließ er von sich hören, der arrogante Sack. Aber Blitze vom Himmel schicken, die Angst machen, oder Kindern eine Welt errichten, in der sie nicht leben wollen.
Am übernächsten Tag erfuhren wir dann von Martha Details. Dagmar war aus dem Fenster gesprungen. 3. Stock. Ihre Todessehnsucht: unerklärlich. Es gab auch einen Abschiedsbrief, in dem sie versucht hat, irgendwie zu erklären, was Sache ist. Unpassend in der Welt hätte sie sich gefühlt, so schrieb sie. Schon