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Das Bildnis des Dorian Gray
Das Bildnis des Dorian Gray
Das Bildnis des Dorian Gray
eBook306 Seiten4 Stunden

Das Bildnis des Dorian Gray

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Über dieses E-Book

Die Vergänglichkeit der Schönt und der Wunsch nach ewiger Jugend: Der schöne junge Dorian bezaubert den Maler Basil Hallward. Als Basil ein Porträt von Dorian anfertigt, wünscht dieser sich selbstverliebt, dass nicht er, sondern das Porträt altern soll. Sein Wunsch wird erfüllt. Dorian führt ein zügelloses Leben, stürzt Menschen in Abgründe und lebt selber alterslos und unbeschadet weiter - zumindest eine Zeit lang...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum7. Sept. 2020
ISBN9788726619256
Autor

Oscar Wilde

Oscar Wilde (1854–1900) was a Dublin-born poet and playwright who studied at the Portora Royal School, before attending Trinity College and Magdalen College, Oxford. The son of two writers, Wilde grew up in an intellectual environment. As a young man, his poetry appeared in various periodicals including Dublin University Magazine. In 1881, he published his first book Poems, an expansive collection of his earlier works. His only novel, The Picture of Dorian Gray, was released in 1890 followed by the acclaimed plays Lady Windermere’s Fan (1893) and The Importance of Being Earnest (1895).

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    Buchvorschau

    Das Bildnis des Dorian Gray - Oscar Wilde

    Oscar Wilde

    Das Bildnis des Dorian Gray

    Aus dem Englischen übertragen von D. Mitzky

    Saga

    Das Bildnis des Dorian Gray

    Übersetzt

    Gustav Landauer, Hedwig Lachmann

    Original

    The picture of Dorian Gray

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 2005, 2020 Oscar Wilde und SAGA Egmont

    All rights reserved

    ISBN: 9788726619256

    1. Ebook-Auflage, 2020

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

    SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

    – a part of Egmont www.egmont.com

    Vorwort

    Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.

    Kunst zu offenbaren und den Künstler zu ververbergen ist Ziel der Kunst.

    Kritiker ist, wer seine Eindrücke von schönen Dingen in einen anderen Stil oder ein neues Ausdrucksmittel zu übersetzen vermag.

    Die höchste wie die niedrigste Form der Kritik ist eine Art Selbstbiographie.

    Wer in schönen Dingen hässliche Bedeutungen findet, ist verdorben, ohne reizend zu sein. Das ist ein Fehler.

    Wer in schönen Dingen schöne Bedeutungen findet, hat Kultur. Für ihn ist Hoffnung.

    Auserwählt ist, wem schöne Dinge nur Schönheit bedeuten.

    Es gibt kein moralisches oder unmoralisches Buch. Es gibt schlecht geschriebene oder gut geschriebene Bücher. Das ist alles.

    Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen Realismus ist die Wut Calibans, der sein Gesicht im Spiegel sieht.

    Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen Romantik ist die Wut Calibans, der sein Gesicht nicht im Spiegel sieht.

    Das moralische Leben des Menschen kann Stoff für den Künstler sein, aber die Moral der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mittels.

    Kein Künstler will etwas beweisen. Selbst wahre Dinge können bewiesen werden.

    Kein Künstler hat sittliche Neigungen. Sittliche Neigung in einem Künstler ist eine unverzeihliche Maniriertheit des Stils.

    Kein Künstler ist je krankhaft. Der Künstler kann alles ausdrücken.

    Gedanke und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst.

    Tugend und Laster sind für den Künstler Baustoffe zu einer Kunst.

    Von der Form aus gesehen, ist der Typus aller Künste die Kunst des Musikers. Vom Gefühl aus gesehen, ist es die Kunst des Schauspielers.

    Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol.

    Wer unter die Oberfläche taucht, tut es auf eigene Gefahr.

    Wer das Symbol deutet, tut so auf eigene Gefahr.

    Was die Kunst wirklich spiegelt, ist der Zuschauer und nicht das Leben.

    Meinungsverschiedenheit über ein Kunstwerk zeigt, dass das Werk neu, vielfältig und lebensstark ist.

    Wenn die Kritiker nicht übereinstimmen, ist der Künstler im Einklang mit sich selbst.

    Dass einer etwas Nützliches gemacht hat, kann man ihm verzeihen, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung dafür, etwas Nutzloses gemacht zu haben, ist, dass man es grenzenlos bewundert.

    Alls Kunst ist ganz nutzlos.

    Oscar Wilde.

    Erstes Kapitel

    Das Atelier war erfüllt von dem üppigen Duft der

    Rosen, und wenn der leichte Sommerwind durch die Bäume des Gartens fuhr, so kam durch die offne Tür der schwere Geruch des Flieders oder der zartere Duft des blühenden Rotdorns.

    Von der Ecke des Diwans aus persischen Satteltaschen, auf dem er lag und seiner Gewohnheit nach unzählige Zigaretten rauchte, konnte Lord Henry Wotton eben noch den Schimmer der honigsüssen und honigfarbenen Blüten eines Goldregens sehen, dessen schwanke Zweige kaum imstande schienen, die Last einer so flammenden Schönheit zu tragen; hie und da flirrten die phantastischen Schatten von Vögeln im Flug über die langen Rohseidenvorhänge vor dem riesigen Fenster und riefen eine Art japanischen Momenteffektes hervor, die ihn an die blassen Maler Tokios mit den Jadegesichtern denken liessen, welche mit den Mitteln einer notwendig unbeweglichen Kunst den Eindruck von raschester Bewegung zu geben suchen. Das eintönige Summen der Bienen, die durch das lange ungemähte Gras schwirrten oder mit ermüdender Hartnäckigkeit um die goldstaubbeladenen Griffel eines losen Geissblattes kreisten, schien die Stille noch drückender zu machen. Das undeutliche Getöse Londons war wie der Basston einer fernen Orgel.

    Mitten im Zimmer stand auf einer aufgerichteten Staffelei das Vollbild eines jungen Mannes von ausserordentlicher Schönheit, und davor sass in geringer Entfernung der Künstler selbst, Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren solches Aufsehen hervorrief und so sonderbare Vermutungen entstehen liess.

    Während der Maler die anmutige und reizende Gestalt betrachtete, die er so glücklich in den Spiegel seiner Kunst eingefangen hatte, glitt ein freudiges Lächeln über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Aber auf einmal fuhr er zusammen und schloss die Augen und drückte die Finger gegen die Lider, als suche er in seinem Hirn einen seltsamen Traum festzuhalten, aus dem er zu erwachen fürchtete.

    „Es ist dein bestes Werk, Basil, das Beste, was du je gemacht hast", sagte Lord Henry träge. „Du musst es unbedingt nächstes Jahr in die Grosvenorausstellung schicken. Die Akademie ist zu gross und zu gewöhnlich. So oft ich dort war, waren entweder so viel Menschen da, dass ich die Bilder nicht sehen konnte, was schrecklich war, oder so viele Bilder, dass ich die Menschen nicht sehen konnte, und das war noch ärger. Grosvenor ist wirklich das einzig mögliche.

    „Ich glaube, ich werde es nirgends hinschicken, antwortete der Maler mit jenem für ihn charakteristischen Zurückwerfen des Kopfes, über das seine Freunde schon in Oxford zu lachen pflegten. „Nein; ich werde es nirgends hinschicken.

    Lord Henry zog die Brauen hoch, und blickte ihn durch die dünnen blauen Rauchwolken, die in phantastischen Ringen von seiner schweren, opiumhaltigen Zigarette stiegen, verwundert an. „Es nirgends hinschicken? Mein lieber Junge, warum nicht? Hast du einen Grund dafür? Was für wunderliche Kerle seid ihr Maler doch! Erst tut ihr alles in der Welt, um euch einen Namen zu machen. Und kaum habt ihr ihn, so bemüht ihr euch nur, ihn loszuwerden. Es ist dumm von euch, denn schliesslich gibt es in der Welt nur eines, was ärger ist, als besprochen zu werden, nämlich, nicht besprochen zu werden. Ein Bildnis wie dieses würde dich hoch über alle jungen Künstler in England stellen und die alten ganz neidisch machen, wenn alte Leute überhaupt noch einer Gemütsbewegung fähig, sind."

    „Ich weiss, dass du mich auslachen wirst, antwortete Hallward, „aber ich kann es wirklich nicht ausstellen. Ich habe zu viel von mir selbst hineingelegt.

    Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.

    „Siehst du, ich habe gewusst, dass du Lachen würdest; aber wahr ist es trotzdem."

    „Zu viel von dir selbst hineingelegt! Auf mein Wort, Basil, ich habe nicht gewusst, dass du so eitel bist; und ich kann wirklich nicht die mindeste Ahnlichkeit zwischen dir mit deinem rauhen Athletengesicht und deinem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis finden, der aussieht, als ob er aus Elfenbein und Rosenblättern gemacht wäre. Schau, mein lieber Basil, er ist ein Narziss, und du — nun, natürlich hast du einen vergeistigten Ausdruck und was so dazu gehört. Aber Schönheit, wirkliche Schönheit hört auf, wo ein geistiger Ausdruck beginnt. Geist ist an sich schon eine Übertreibung und zerstört die Harmonie jedes Gesichts. Im Augenblick, wo man sich niedersetzt, um zu denken, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder sonst so was Greuliches. Sieh dir nur die erfolgreichen Leute in den gelehrten Berufen an. Wie abscheulich sie alle sind! Ausgenommen natürlich die Geistlichen. Aber in ihrem Beruf denkt man nicht. Ein Bischof wird noch mit achtzig Jahren sagen, was man ihm als achtzehnjährigem Burschen beigebracht hat, und die natürliche Folge ist, das er immer entzückend aussieht. Dein geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast, dessen Bild mich aber wirklich bezaubert, denkt nie. Ich spüre das. Er ist irgendein hirnloses, schönes Geschöpf, und er sollte immer im Winter hier sein, wenn wir keine Blumen zum Anschauen haben, und immer im Sommer, wenn wir etwas brauchen, um unseren Geist abzukühlen. Bilde dir nichts ein, Basil: du siehst ihm ganz und gar nicht ähnlich."

    „Harry, du verstehst mich nicht, antwortete der Künstler. „Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Ich weiss das sehr gut. Ich würde mir nicht einmal wünschen, so auszusehen wie er. Du zuckst die Achseln? Ich sage dir die Wahrheit. Es waltet ein Verhängnis über allem körperlich und geistig Auserlesenen, dasselbe Verhängnis, das in der Geschichte die schwanken Schritte der Könige zu verfolgen scheint. Besser nicht von seinen Mitmenschen verschieden sein. Die Hässlichen und Dummen haben es in dieser Welt am besten. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel anstaunen. Wenn sie nie erfahren, was Sieg bedeutet, so lernen sie wenigstens das Gefühl der Niederlage nicht kennen. Sie leben, wie wir alle leben sollten, ungestört, gleichmütig und ohne Aufregungen. Sie stürzen niemals andere ins Verderben und sind niemals die Opfer fremder Schicksale. Dein Rang und Reichtum, Harry; mein Talent, wie es nun einmal ist — meine Kunst, was immer sie wert sein mag; Dorian Grays Schönheit — wir werden alle leiden müssen für das, was die Götter uns gegeben haben, schrecklich leiden.

    „Dorian Gray? Heisst er so?" fragte Lord Henry und ging durch das Atelier auf Basil Hallward zu.

    „Ja, so heisst er. Ich hatte nicht die Absicht, es dir zu sagen."

    „Warum denn nicht?"

    „Oh, das kann ich nicht erklären. Wenn ich einen Menschen ungewöhnlich gern habe, so verrate ich niemandem seinen Namen. Das hiesse einen Teil von ihm ausliefern. Ich habe das Geheimnis lieben gelernt. Es scheint mir das Einzige, was unser heutiges Leben noch rätselhaft oder wunderbar machen kann. Das Allergewöhnlichste wird entzückend, wenn man es nur verbirgt. Wenn ich fortfahre, sage ich meinen Leuten nie mehr, wohin ich gehe. Das würde mir die ganze Freude verderben. Es mag eine dumme Gewohnheit sein, aber irgendwie bringt es einen Schuss Romantik in unser Leben. Du hältst mich wahrscheinlich für recht töricht, dass ich auf solche Dinge etwas gebe?"

    „Ganz und gar nicht, antwortete Lord. Henry, „ganz und gar nicht, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, dass ich verheiratet bin. Der einzige Reiz der Ehe besteht darin, dass sie ein Leben der Verstellung zu einer unumgänglichen Notwendigkeit für beide Teile macht. Ich weiss nie, wo meine Frau ist, und meine Frau weiss nie, was ich tue. Wenn wir uns treffen — wir treffen uns gelegentlich, wenn wir zusammen auswärts speisen oder beim Herzog eingeladen sind — so erzählen wir einander die unsinnigsten Geschichten mit den ernstesten Gesichtern von der Welt. Meine Frau trifft das ausgezeichnet — tatsächlich viel besser als ich. Sie verwirrt sich nie bei ihren Zeitangaben, wie ich es immer tue. Aber wenn sie mich dabei ertappt, macht sie durchaus keine Szene. Ich wollte manchmal, sie täte es; aber sie lacht mich bloss aus.

    „Ich hasse die Art, wie du von deinem Eheleben sprichst, Harry, sagte Basil Hallward, während er gegen die Gartentür schlenderte. „Ich glaube, du bist im Grunde ein vortrefflicher Ehemann, aber du schämst dich deiner eigenen Tugenden. Du bist ein sonderbarer Mensch. Du sagst nie etwas Moralisches und tust nie etwas Verwerfliches. Dein Zynismus ist ganz einfach Pose.

    „Natürlichsein ist einfach Pose, und die aufreizendste, die ich kenne", rief Lord Henry lachend; und die beiden jungen Leute gingen zusammen in den Garten hinaus und liessen sich auf einer langen Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerstrauches stand. Das Sonnenlicht huschte über die glatten Blätter. Im Grase zitterten weisse Gänseblümchen.

    Nach einer Pause zog Lord Henry seine Uhr. „Ich muss nun gehen, Basil, murmelte er, „und bevor ich gehe, bestehe ich darauf, dass du mir eine Frage beantwortest, die ich dir heute schon einmal gestellt habe.

    „Das wäre?" sagte der Maler, ohne den Blick zu heben.

    „Du weisst sehr gut."

    „Nein, Henry."

    „Nun, dann will ich es dir sagen. Ich möchte, dass du mir erklärst, warum du Dorian Grays Bild nicht ausstellen willst. Ich möchte den wirklichen Grund wissen."

    „Ich habe ihn dir gesagt."

    „Das hast du nicht. Du hast gesagt, es sei zu viel von dir selbst darin. Das ist kindisch."

    „Harry," sagte Basil Hallward und sah ihm gerade in die Augen, „jedes Bildnis, das mit Gefühl gemalt ist, ist das Bildnis des Künstlers, nicht des Modells. Das Modell ist nur der zufällige Anlass. Aber nicht dieses wird durch den Maler offenbart, sondern der Maler selbst ist es, der sich auf der farbigen Leinwand enthüllt. Der Grund, warum ich dieses Bild nicht ausstellen will, ist der, dass ich fürchte, darin, das Geheimnis meiner eigenen Seele gezeigt zu haben.

    Lord Henry lachte. „Und was ist das?" fragte er.

    „Ich will es dir sagen", antwortete Hallward, aber ein ratloser Ausdruck trat in sein Gesicht.

    „Ich bin ganz Erwartung, Basil", fuhr sein Freund mit einem Blick auf ihn fort.

    „Oh, es ist eigentlich recht wenig zu sagen, Harry, und ich fürchte beinahe, du wirst es nicht verstehen. Vielleicht nicht einmal glauben."

    Lord Henry lächelte und bückte sich nach einem rosablättrigen Gänseblümchen im Gras. Er pflückte es und betrachtete es sorgsam. „Ich bin ganz sicher, dass ich es verstehen werde, antwortete er und blickte aufmerksam auf die kleine goldene, weissbefiederte Scheibe, „und was das Glauben anbelangt, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, dass es ganz unglaublich ist.

    Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Zweigen, und die schweren Fliederdolden mit ihren geballten Sternen schwankten hin und her in der weichen Luft. Eine Heuschrecke begann an der Mauer zu zirpen, und eine grosse schlanke Libelle schwebte wie ein blauer Faden auf ihren durchsichtigen braunen Flügeln vorüber. Lord Henry war, als könne er Basil Hallwards Herz schlagen hören, und er wartete gespannt, was kommen würde.

    „Die Sache ist einfach die, sagte der Maler nach einer Weile. „Vor zwei Monaten ging ich zu einer grossen Gesellschaft bei Lady Brandon. Du weisst, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in Gesellschaft zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, dass wir keine Wilden sind. Im schwarzen Anzug und weisser Krawatte, hast du einmal behauptet, kann sogar ein Börsenmakler in den Ruf eines zivilisierten Menschen gelangen. Nun, nachdem ich etwa zehn Minuten im Zimmer gewesen war, im Gespräch mit dicken, aufgeputzten Matronen und langweiligen Akademikern, spürte ich plötzlich, dass jemand mich anschaute. Ich drehte mich halb um und sah Dorian Gray zum erstenmal. Als unsere Blicke sich trafen, fühlte ich, dass ich blass wurde. Eine sonderbare Empfindung des Schreckens kam über mich. Ich wusste, dass ich Aug’ in Auge einem Menschen gegenüberstand, dessen blosse Persönlichkeit so faszinierend war, dass sie, wenn ich’s gestattete, meine ganze Natur, meine ganze Seele, ja meine Kunst selbst absorbieren würde. Ich wollte keinen Einfluss von aussen in meinem Leben. Du weisst, Harry, wie unabhängig ich von Natur bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; wenigstens bis zu dem Augenblick, wo ich Dorian Gray traf. Da — aber ich weiss nicht, wie ich es dir erklären soll. Etwas schien mir zu sagen, dass ich am Rande einer furchtbaren Krise in meinem Leben stehe. Ich hatte ein seltsames Gefühl, das Schicksal halte auserlesene Freuden und auserlesene Schmerzen für mich bereit. Mir schauderte, und ich wandte mich, um das Zimmer zu verlassen. Es war nicht das Gewissen, was mich so handeln liess: es war eine Art Feigheit. Ich rechne mir’s selbst nicht als Verdienst an, dass ich zu entfliehen suchte.

    „Gewissen und Feigheit sind in Wirklichkeit dasselbe, Basil. Gewissen ist der Handelsname der Firma. Das ist alles."

    „Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube nicht einmal, dass du es tust. Aber was auch mein Beweggrund gewesen sein mochte — vielleicht war es Stolz, denn ich pflegte sehr stolz zu sein — sicher ist, dass ich zur Türe strebte. Dort stiess ich natürlich mit Lady Brandon zusammen. ,Sie wollen doch nicht so früh schon fort, Herr Hallward? schrie sie. Du kennst doch ihre sonderbar schrille Stimme?"

    „Ja; sie ist ein Pfau in allem, die Schönheit ausgenommen", sagte Lord Henry, indes seine schlanken, nervösen Finger das Gänseblümchen zerpflückten.

    „Ich konnte sie nicht los werden. Sie schleppte mich zu Fürstlichkeiten und Leuten mit hohen und höchsten Orden und ältlichen Damen mit riesigen Diademen und Papageiennasen. Sie stellte mich als ihren besten Freund vor. Ich hatte sie nur ein einziges. Mal vorher getroffen, aber sie setzte sich’s in den Kopf, mich zu lancieren. Ich glaube, eins meiner Bilder hatte damals gerade grossen Erfolg gehabt, wenigstens hatte die Tagespresse sich darüber verbreitet, und das ist ja des neunzehnten Jahrhunderts Massstab für Unsterblichkeit. Plötzlich fand ich mich dem jungen Mann gegenüber, dessen Persönlichkeit mich so seltsam aufgewühlt hatte. Wir waren ganz nahe, berührten uns fast. Unsere Blicke begegneten sich wieder. Es war verwegen von mir, aber ich bat Lady Brandon um seine Bekanntschaft. Vielleicht war es im Grunde doch nicht ganz so verwegen. Es war einfach unvermeidlich. Wir hätten auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Dessen bin ich gewiss. Dorian hat mir später dasselbe gesagt. Er fühlte auch, dass es uns bestimmt war, einander zu kennen."

    „Und wie hat Lady Brandon diesen wundervollen jungen Mann beschrieben? fragte Lord Henry. „Ich weiss, sie hat die Gewohnheit, einen kurzen Abriss aller ihrer Gäste zu geben. Ich erinnere mich, dass sie mich einmal zu einem über und über mit Orden und Bändern bedeckten alten Herrn mit jähzornigem, rotem Gesicht brachte und mir dabei in einem tragischen Flüsterton, der jedem Menschen im Zimmer vollkommen vernehmlich gewesen sein muss, die verblüffendsten Einzelheiten ins Ohr zischte. Ich bin einfach geflohen. Es macht mir Spass, Menschen selbst zu entdecken. Aber Lady Brandon geht mit ihren Gästen geradeso um wie ein Auktionator mit seinen Waren. Entweder sie preist sie so an, dass man nichts mehr von ihnen wissen will, oder sie erzählt einem alles von ihnen mit Ausnahme dessen, was man gerade erfahren möchte.

    „Arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie, Harry", sagte Hallward zerstreut.

    „Mein lieber Freund, sie hat versucht, einen Salon zu gründen, und nur fertig gebracht, ein Restaurant zu eröffnen. Wie könnte ich sie bewundern? Aber sag’ mir, was hat sie über Dorian Gray zum besten gegeben?"

    „Oh, etwas wie ,reizender Junge — seine liebe Mutter und ich ganz unzertrennlich. — Vergesse, was er treibt — ich fürchte — gar nichts — o ja, spielt Klavier — oder ist’s die Geige, lieber Herr Gray?‘ Keiner von uns konnte sich des Lachens enthalten, und so wurden wir gleich Freunde."

    „Lachen ist kein schlechter Anfang für eine Freundschaft und weitaus das beste Ende", sagte der junge Lord und pflückte noch ein Gänseblümchen.

    Hallward schüttelte den Kopf. „Du verstehst nicht, was Freundschaft ist, Harry, murmelte er — „übrigens ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast jeden gern, das heisst, es ist dir jeder gleichgültig.

    „Wie abscheulich ungerecht von dir! rief Lord Henry und warf seinen Hut zurück, indes seine Augen den kleinen Wolken folgten, die wie verwirrte Strähnen glänzender weisser Seide über das Türkisblau des Sommerhimmels glitten. „Ja; abscheulich ungerecht von dir. Ich mache einen grossen Unterschied zwischen Menschen. Ich wähle meine Freunde nach ihrer Schönheit, meine Bekannten nach ihrem Charakter und meine Feinde nach ihrem Verstand. Man kann nicht vorsichtig genug in der Wahl seiner Feinde sein. Ich habe nicht einen Dummkopf darunter. Es sind lauter Männer von einigem geistigen Vermögen, und daher schätzen sie mich alle. Ist das sehr eitel von mir? Ich glaube fast, es ist hübsch eitel.

    „Ich sollte meinen, Harry. Aber deiner Einteilung nach müsste ich ein blosser Bekannter sein."

    „Mein lieber alter Basil, du bist viel mehr als ein Bekannter."

    „Und viel weniger als ein Freund. Wohl eine Art Bruder?"

    „Ach, Brüder! Ich mache mir nichts aus Brüdern. Mein älterer Bruder will durchaus nicht sterben, und meine jüngeren Brüder tun anscheinend nie etwas anderes."

    „Harry!" rief Hallward stirnrunzelnd.

    „Mein lieber Junge, ich scherze ja. Aber ich kann nichts dafür, dass ich meine Verwandten nicht ausstehen kann. Ich vermute, es kommt daher, dass keiner von uns es erträgt, wenn andere Leute dieselben Fehler haben wie wir. Ich hege vollste Sympathie für die Empörung der englischen Demokratie gegen das, was sie die Laster der Oberklassen nennt. Die Massen fühlen, dass Trunkenheit, Dummheit und Unmoral etwas sind, was ihnen allein vorbehalten sein sollte, und dass jeder von uns, der sich wie ein Esel aufführt, auf ihren Jagdgründen wildert. Als der arme Southwark seinen Scheidungsskandal hatte, war ihre Entrüstung geradezu grossartig. Und doch glaube ich nicht, dass auch nur zehn Prozent von den Proletariern einen sittlichen Lebenswandel führen."

    „Ich unterschreibe nicht ein Wort von dem, was du gesagt hast, Harry, und ich wette, du tust es auch nicht."

    Lord Henry streichelte seinen kleinen, braunen Spitzbart und klopfte mit seinem Ebenholzstock auf die Spitzen seiner Lackschuhe. „Wie englisch du bist, Basil! Das ist glücklich das zweitemal, dass du diese Bemerkung machst. Unterbreitet man einem echten Engländer einen Gedanken — immer eine gewagte Sache — so fällt es ihm gar nicht ein, zu prüfen, ob der Gedanke falsch oder richtig ist. Das einzige, worauf es ihm ankommt, ist, ob man selbst an ihn glaubt. Nun hat aber der Wert eines Gedankens nicht das mindeste zu tun mit der Aufrichtigkeit des Mannes, der ihm Ausdruck verleiht. Wahrscheinlich wird sogar der Gedanke um so geistig reiner sein, je unaufrichtiger der Mann ist, da er in diesem Fall weder von seinen Wünschen, noch von seinen Begierden, noch von seinen Vorurteilen gefärbt sein wird. Jedoch habe ich nicht vor, Politik, Soziologie oder Metaphysik mit dir zu erörtern. Ich habe Menschen lieber als Grundsätze, und am liebsten habe ich Menschen ohne Grundsätze. Erzähle mir mehr von Herrn Dorian Gray. Wie oft siehst du ihn?"

    „Jeden Tag. Ich kann es nicht aushalten, wenn ich ihn nicht täglich sehe. Er ist mir einfach unentbehrlich."

    „Wie merkwürdig! Ich dachte, du würdest dich nie um etwas anderes als deine Kunst kümmern."

    „Er ist mir meine ganze Kunst," sagte der Maler ernst. „Ich denke manchmal, Harry, es gibt nur zwei wichtige Epochen in der Weltgeschichte. Die erste ist das Auftreten eines neuen Kunstmittels und die zweite das Auftreten einer neuen künstlerischen Persönlichkeit. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer bedeutete, das bedeutete das Antlitz des Antinous der spätgriechischen Skulptur, und das wird mir das Antlitz Dorian Grays einmal bedeuten. Es ist nicht das allein, dass ich ihn male, zeichne, skizziere. Das habe ich natürlich alles getan. Aber er ist mir mehr als ein Modell. Nicht, dass ich unzufrieden wäre mit den Darstellungen, die ich von ihm gemacht habe, oder dass seine Schönheit solcher Art ist, dass die Kunst sie nicht auszudrücken vermag. Es gibt nichts, was die Kunst nicht auszudrücken vermöchte, und ich weiss, dass die Arbeiten, die ich seit meiner Begegnung mit Dorian Gray gemacht habe, gute Arbeiten sind, die besten Arbeiten meines Lebens. Aber auf irgendeine unerklärliche Weise — ich frage mich, ob du das verstehen wirst — hat mir seine Persönlichkeit eine ganz neue Kunstweise vermittelt, eine vollständig neue Art des Stils. Ich sehe die Dinge anders, ich denke anders über sie. Ich kann jetzt das Leben in einer Weise neu schaffen, die mir früher verschlossen war. ,A dream of form in days of thought‘, wer hat das gesagt? Ich habe es vergessen; aber es ist genau das, was Dorian Gray mir gewesen ist. Die blosse sichtbare Gegenwart dieses Knaben — denn er scheint mir kaum mehr als ein Knabe, obwohl er in Wirklichkeit über zwanzig ist —

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