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Körper im Dunkeln
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eBook290 Seiten3 Stunden

Körper im Dunkeln

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Über dieses E-Book

Davorin Lenko (1984), Slovenj Gradec (Slowenien), studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana. Seit 2010 hat er Kurzprosa und gelegentlich auch Poesie und Essays in allen wichtigeren slowenischen Literaturzeitschriften veröffentlicht.

Lenkos Romandebüt "Körper im Dunkeln" (Center za slovensko književnost, 2013) wurde für den Preis der Slowenischen Buchmesse für das beste Buchdebüt des Jahres nominiert und erhielt im Juli 2014 den Kresnik-Preis für den besten slowenischen Roman des vergangenen Jahres. Im selben Jahr erhielt er außerdem den Preis "Kritisches Sieb" des Verbands der slowenischen Literaturkritiker.
"Körper im Dunkeln" ist ein beeindruckender Roman. Lenko hat damit in mindestens zweierlei Hinsicht ein neues Kapitel der slowenischen Romanschriftstellerei eröffnet; es gab bislang im Bereich der slowenischen Belletristik noch keinen Text, der relativ tabuisierte Formen der sexuellen Praxis so deftig thematisiert und zugleich die ganze Zeit über gekonnt das Abgleiten in die Pornografie bzw. in die Darstellung der unterschiedlichsten "Exzessivitäten" und "Ekelhaftigkeiten" nur des Darstellens wegen, also aus einer Art voyeuristischen Genusses heraus, vermeidet. "Körper im Dunkeln" ist aber auch ein Buch, das bestimmte theoretische Voraussetzungen in einem solchen Maße verinnerlicht, dass man es als überzeugende literarisierte Theorie lesen kann – wobei dies nur eine der Dimensionen dieses mehrdimensionalen Textes ist. Lenkos Werk spricht vor allem davon, dass der Einzelne nicht nur ein sprachliches Konstrukt ist, eine Art Knotenpunkt eines rein symbolischen (Selbst-) Bewusstseins, sondern er ist zugleich auch Körper, Gesten, Gefühle und Triebe, die sich einer Rationalisierung und damit auch einer Verbalisierung entziehen. "Körper im Dunkeln" ist auch ein Identitätsroman über existenzielle Einsamkeit und Schmerz.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Aug. 2017
ISBN9789616995184
Körper im Dunkeln

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    Buchvorschau

    Körper im Dunkeln - Davorin Lenko

    89719297

    Davorin Lenko

    Körper im Dunkeln

    Aus dem Slowenischen von 

    Ann Catrin Bolton

    Nachwort

    Tina Kozin

    Društvo slovenskih pisateljev

    Slovene Writers’ Association

    Ljubljana 2016

    Argument

    1

    „Was vorgestellt wird, ist, wenn man so will, ein Porträt, aber kein psychologisches, sondern ein strukturales: es gibt einen sprachlichen Ort zur Lektüre auf: den Ort jemandes, der für sich, als Liebender, spricht /…/ - der angesichts des Anderen (des /…/Objektes) spricht, der seinerseits schweigt."

    - Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe

    „No. It’s not linear."

    - Commander Benjamin Sisko, Star Trek: Deep Space Nine, Emissary

    „Look me in the face

    And tell me you don’t need being used"

    - The Devil’s Blood, Everlasting Saturnalia

    DUNKEL

    Ich hätte nie gedacht, dass meine Geschichte – eine Geschichte über mich – auf diese Weise beginnen würde, 

    aber da sie letztlich auf alle möglichen Arten beginnen könnte, ist es vollkommen gleichgültig, ob ich mit dem Krebs beginne.

    „Ich erinnere mich, dass ich als Student eine Kurz­geschichte über einen Mann schreiben wollte, der von seiner Frau betrogen wird. Sie weiß nicht, dass er es weiß, und er weiß nicht, wie er ihr sagen soll, dass er Krebs hat. Damals war ich ein noch schlechterer Schriftsteller als jetzt. Ich konnte Gefühle beschreiben, ja, aber ich hatte überhaupt keinen Sinn für die Geschichte, die Handlung. Wissen Sie, das war noch bevor ich angefangen habe, meine gesamte Autopoetik auf der Abwesenheit einer Geschichte zu gründen.

    Dieser Mann, über den ich schreiben wollte, sollte Hoden­krebs haben. Kastration, verstehen Sie? Aber die Figuren waren blass, die Pointe gleich Null, ich kam nicht weiter als bis zu einem Entwurf. Das brauchte etwas mehr, etwas, das ich nicht begreifen und niederschreiben konnte. Es war also eine Geschichte, die ich nie geschrieben habe, wobei ich das eigentlich auch nicht musste, da ich den Hodenkrebs schließlich selbst bekommen habe. Aber das war Jahre später. Verstehen Sie die Ironie?"

    „Ja, Natürlich. Aber was wollten Sie mit dieser Geschichte sagen?", fragte mich der Therapeut.

    „Ich glaube, es war etwas über Ursachen und Wirkungen. Die Kastration des Gerechten. Dass manchmal – symbolisch oder tatsächlich – völlig Unschuldige die Arschkarte ziehen. Und dass dann das Leben weitergeht. Wenigstens für einige. Vermutlich. So oder so. Na, wenigstens habe ich das damals angenommen. Jetzt weiß ich es."

    „Nun, Ihre Krankheit natürlich: Sie haben den Krebs besiegt."

    Ich zuckte mit den Schultern: „Ich weiß. Ich habe getan, was mir richtig erschien … Was ich wollte. Und natürlich, was ich konnte. Und doch: ist ‚besiegt‘ nicht ein etwas zu starkes Wort?"

    Anfangs hat mich das Sprechen über den Krebs immer ein wenig wütend gemacht; ich nahm eine Verteidigungshaltung ein, meine Rede wurde aggressiv. Doch diese Phase dauerte nicht lang und mit der Zeit verlor ich diese beißende Schärfe und wurde etwas milder. Vielleicht wegen des Fetts. Nach der sogenannten ‚Heilung‘ hatte ich schnell zugenommen.

    Einmal fragte ich sie – Sara –, ganz ungeplant, impulsiv, ob sie jemals an Gruppensex beteiligt gewesen sei. Wir machten Abendessen und schlürften warmen Weißwein. Ein Hochge­fühl lag in der Luft. Eine Leichtigkeit. Es war kurz vor Weihnachten und wir waren noch viel jünger. Sara sah mich unter den Augenbrauen hervor an, lächelte, schlürfte langsam ihren Wein und zögerte so die Antwort hinaus. Ihr Lippenstift hinterließ eine subtile, aber unübersehbare Spur am Glasrand. „Nein, sagte sie. „Natürlich nicht. Als wir später im Bett lagen und ich schon beinahe weggedämmert war, umarmte sie mich dennoch irgendwie bedeutungsvoll und flüsterte, sie habe ‚eigentlich gelogen‘. Ihre Stimme war warm und gedämpft, ein wenig rau. Sie war nahe an meinem Ohr, diese Stimme im Dunkeln. Sie und ihre Orgien, ihre Beichte, ihre Erzählungen; die Stimme ganz nah bei mir, die Stimme im Dunkeln.

    Doch auch das war vor langer Zeit gewesen; noch bevor sie begonnen hatte, in das Haus mit der roten Tür zu gehen. Damals waren solche Beichten noch angebracht. Damals tasteten wir einander noch ab.

    „Ich quäle mich", sage ich in den großen und irgendwie leeren Raum um mich herum. Ich weiß nicht, wo genau ich bin. Es ist irgendein Wohnzimmer. Weiß und groß. Geräumig, schmutzig, staubig. Es ist mir bekannt; ich war schon einmal hier.

    „Ich bin ein Masochist." Immer noch nichts. Irgendjemand müsste mir antworten; mit irgendjemandem habe ich noch einen Augenblick zuvor geredet, aber jetzt ist alles still und ohne Leben.

    Dann kommt Mandy um die Ecke. Die Mandy, nach der ich so viele literarische Figuren in meinen Geschichten benannt habe.

    „Dieser Name hat für mich immer so nach Hure ge­klungen", hatte sie ihren Namen kommentiert, aber das war lange her und in einem anderen Raum gewesen.

    „Du überstürzt mal wieder alles", sagt sie und gibt mir einen Joint.

    „Nein, ich schüttele den Kopf. „Aber ich bin schmerz­erfüllt.

    „Du Armer. Warum malst du nicht lieber? Hör mal: Hast du Schmerzen, weil du schreibst, oder schreibst du, weil du Schmerzen hast? Was war zuerst da: das Huhn oder das Ei?"

    Huhn, Hure, „Mandy", Hure, Ei.

    „Was?", sie hebt die Augenbrauen.

    Nichts. Ich beantworte deine Frage. Ich gebe dir die sinnvollste Antwort.

    „Ich bin in linguistischen Lapsus und Schlingen gefangen. Ich kann nicht hinaus."

    Lärm aus dem Zimmer am anderen Ende des Flurs. Ein Bett stößt gegen die Wand. Es stößt und stößt, wieder und wieder und wieder und wieder. Um mich herum herrscht vollkommene Dunkelheit, die Minuten ziehen sich in einer irrealen und verschwitzten Agonie, aber das Hämmern setzt sich immer weiter fort, bis in alle Ewigkeit.

    Neben mir ist ein Körper. Er ist still, weich, entspannt, unbeweglich, schlafend. Sara schläft schon seit vielen Jahren mit Ohrstöpseln und hört nachts nichts. Sie liegt völlig ruhig und ganz entfremdet neben mir und muss nicht hören, wie das Bett ihrer Tochter in einem groben, aber gleichmäßigen Rhythmus gegen die Wand stößt. Mit Ausnahme dieses grausigen Geräusches ist alles still. Ich bin Tea dankbar, dass ich kein Stöhnen, Ächzen oder Schreien hören muss.

    Mir wird bewusst, dass ich vergessen habe, welche Farbe Saras Stöhnen beim Sex hatte. Das ist für die Körper im Haus mit der roten Tür reserviert. Manchmal helfe ich ihr beim Masturbieren, liebkose sie ein bisschen, aber diese Sexualität ist stumm, still, vollkommen ihre eigene.

    Das Bett stößt gegen die Wand und die Zeit bewegt sich nicht. Flecken tanzen ihren Tanz im undurchdringlichen Dunkel über mir, als ich auf dem Rücken liege und in das Nichts überall um mich herum blicke. Ich bin gelähmt, stumm und blind und völlig momentan, ohne den Kontext des Präteritums oder das Ziel des Futurs. Ich liege nur und lausche. Das Stoßen des Betts gegen die Wand.

    Von der Figur, die Woody Allen in dem Film Deconstructing Harry spielt, heißt es, sie schreibe gerade deshalb so geordnet, weil ihr Leben sich im völligen Zerfall befinde. Ich selbst war immer das völlige Gegenteil davon, und obwohl das Leben wirklich häufig mit völlig Absurdem überrascht, ist mein Schreiben das, was ich zu jeder Tageszeit als chaotisch be­zeichnen würde. In meinen Augen ist mein Alltag leger, nahezu langweilig, ohne größere plötzliche Veränderungen; er ist durchzogen von langen Morgen, langen Gesprächen beim Kaffee und noch längeren Schreibsitzungen. Es geschieht nichts Besonderes. Doch in eine Geschichte selbst begebe ich mich – ganz im Gegenteil dazu – wie ein besoffener Wilder. Kopflos und euphorisch, beinahe ekstatisch, schreibe ich, lösche, überstürze mich, füge hinzu, korrigiere, unterstreiche, trage nach. Dann bleibe ich nach Stunden und Stunden solcher Sitzungen ganz erschöpft sitzen, starre katatonisch auf den Bildschirm vor mir und die Buchstaben darauf, und denke mir:

    „Scheiße, sagte Sara ziemlich laut und zog dadurch die Blicke jener Leute auf sich, die uns am nächsten saßen. Sie sah sich um und richtete sich nervös die Haare. „Ist es wirklich schon wieder passiert?

    „Ja."

    „Oje … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir so …"

    „Ist schon in Ordnung."

    „… so sehr sehr sehr …"

    „Sara, es ist in Ordnung. Eine Kleinigkeit."

    „… sehr sehr leid. Ich schäme mich so."

    Wir aßen irgendwo in der Wolfova oder der Trubarjeva, ich weiß nicht, jedenfalls in der Altstadt von Ljubljana, und draußen regnete es leicht. Es war irgendein Themenrestaurant.

    „Und du hast saubergemacht?"

    „Natürlich hab ich saubergemacht."

    „Mal wieder."

    „Kleinigkeit. Schau, Sara … Sara? Hör zu. Es war ganz wenig. Das passiert halt. Ich geb dir keine Schuld."

    „Wenn ich mich aber so sehr schäme!", sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Verhältnismäßig diskret natürlich. Aber nicht ohne ein kleines bisschen Theatralität.

    Ich beugte mich zu ihr, zog ihre Hände von ihrem Gesicht weg und zwang sie so, mich anzusehen. „Sara? Hör zu, sagte ich mit der selbstbewusstesten Stimme, die ich in diesem Moment zustande brachte, obwohl ich tief in mir selbst zerfiel. „Hör zu. Es war nur ein bisschen Blut und Scheiße. Nichts Großartiges.

    Nur ein bisschen Blut und Scheiße.

    Sara geht etwa einmal im Monat, vielleicht ein wenig selt­ener, in das Haus mit der roten Tür, wo sie an Swinger­treffen teilnimmt. Dort ficken sie Männer mit enormen Schwänzen in allen möglichen Stellungen in alle möglichen Körperöffnun­gen, und ich warte auf sie im Auto, das ein wenig die Straße hinunter parkt. Wenn sie so nach zwei, drei Stunden ganz zerzaust und heiser, breitbeinig und vorsichtig und trotzdem schwankend aus dem Haus kommt und sich ins Auto setzt, überkommt mich immer wieder aufs Neue ein ungewöhnliches Gefühl, eine Mischung aus Bewunderung und Schmerz. Sie war nämlich an einem Ort, an den ich ihr nicht folgen kann. Und wegen dieses ‘An-einem-Ort-Seins-an-den-ich-ihr-nicht-folgen-kann’ ist Sara für mich so attraktiv wie abstoßend zugleich.

    Ich schlucke dieses Ding in mir, das vermutlich Stolz ist, hinunter und begrüße sie. Sie setzt sich vorsichtig hin und seufzt. Ihr Körper beginnt langsam, sich zu entspannen. Sie stinkt nach alter Spucke, Sperma und Fotze. Ihr Gesicht ist rot, an den Handgelenken bemerke ich leichte Abschürfungen. Sie zündet zwei Zigaretten an und gibt mir eine, ich lasse den Motor an, setze das Auto in Bewegung, fahre. Wir rauchen schweigend.

    Ich sehe sie an. Sie glüht. Ihre Haut ist ganz rosig und lebendig, geschmeidig, weich, verschwitzt.

    Und ja, ich wünsche mir, ich wäre es. Ich könnte es sein. Ich, derjenige, der sie zum Glühen bringt.

    Sie zersägt. In sie hineinbohrt. Sie aushöhlt. Sie aus­ein­andernimmt.

    Sie zusammensetzt.

    Als ich das erste Mal vor diesem Haus auf sie gewartet habe, war es ein schöner Abend zu Frühlingsbeginn. Irgendwo auf dem Weg hatten wir in einem Wäldchen gehalten, damit sie ins Gebüsch pinkeln konnte, dann hatten wir ein paar Christrosen für die Vase auf meinem Schreibtisch gepflückt. Wir hatten es nicht eilig.

    Sara war nach solchen Eingriffen in ihren Körper für gewöhnlich noch ein, zwei Tage undicht. Vor allem nachts, wenn sie im Schlaf unbewusst Winde abließ. Hämorrhoiden, dann Flecken auf der Bettwäsche. Vor allem wenn ihr sehr heiß war und sie nackt schlief, was oft vorkam. Normalerweise fand ich dann morgens auf den Laken ein paar Tropfen Blut, manchmal auch weichen Stuhl. Wenn sie zur Arbeit ging, wechselte ich die Bettwäsche. Nichts Besonderes, eine Kleinigkeit eigentlich, doch ich weiß nicht, warum ich ihr immer wieder sagen musste, dass ich diese Flecken gefunden hatte und sie hatte entfernen müssen.

    „Warum?"

    „Ich weiß nicht … Wahrscheinlich möchte ich nur, dass sie mich sieht … Dass sie weiß, dass ich da bin. Vielleicht möchte ich Aufmerksamkeit. Ich weiß es wirklich nicht …"

    Vielleicht ist das aber auch nur meine Art, zu versuchen, mich ihr und ihrem Sex bei diesen Orgien anzunähern.

    /…/

    A: Schon von jeher habe ich mich für Paarung und Literatur interessiert. Und die Paarung von Wörtern. Das Be­springen. Nicht unbedingt nur die physische Erscheinung von Körpern beim Sex, sondern auch die inneren Vorgänge, das Wogen der Libido; diese erweist sich nämlich in einigen flüchti­gen Ansätzen in allen ihren Schwankungen als zerrissener, angerissener Diskurs; als Erzählung, die gerissen ist, die jeglichen Kontakt zur Logik von Ursache und Wirkung abge­brochen hat. Als solche funktioniert dieses irrationale Wogen der Libido ausgezeichnet innerhalb der postmodernen Poetik.

    F: Haben Sie nicht den Eindruck, dass die erotische – beziehungsweise pornografische – Literatur irgendwie in einem Teufelskreis der Wiederholung gefangen ist? Dass sie sich rasch ‚erschöpft‘ und sich wiederholt, langweilig wird?

    A: Ja. Nein. Ja und nein. Es gibt mehrere Arten, sich heutzutage solcher Literatur zu nähern beziehungsweise sie zu schreiben. Die erste und offensichtlichste – und meiner Meinung nach schlechteste – ist der romantische Ansatz. In dieser Literatur wird die Sexualität als etwas Idyllisches be­schrieben, alle Akteure gehen befriedigt aus dem Geschlechts­akt. Das ist die Literatur ‚meiner nassen Muschi‘, ‚seiner Latte‘ und ‚der Begegnung, an die sich beide noch lange, lange Zeit erinnern werden‘. Dann haben wir den realistischen – oder besser naturalistischen – Ansatz. Dieser ist schon sehr viel lesba­rer, interessanter, der Leser kann von der ganzen Erfahrung auch etwas mitnehmen, da ein solches Schreiben über Sex und/oder die Libido wenigstens eine Form der Sexualität darstellt, wenn nicht gar analysiert, die stattfinden könnte; und wenn sie schon stattfindet, unzählige Male. Das Musterbeispiel: Drei Töchter ihrer Mutter.Und wenn wir in der Zeit noch weiter gehen und uns langsam der Gegenwart nähern, sehen wir, dass in der erotischen/pornografischen Literatur seit dem Realismus kein besonderer Fortschritt und keine Entwicklung mehr stattgefunden hat. Der moderne Ansatz wäre mit seinen Gedankenströmen zwar dazu in der Lage – und bis zu einem gewissen Grad hat er das auch getan –, das inneren Wogen der Libido zu beschreiben, die sexuelle Erfahrung zu verinner­lichen, doch in der Praxis ist das nicht wirklich geschehen. Ich persönlich finde noch die Zitathaftigkeit, die Metafiktion und die Zersplitterung der Erzählung in der postmodernen Poetik am attraktivsten. In diesen Gewässern kenne ich mich am besten aus und genieße sie auch auf die unverfälschteste Weise. Innerhalb dieser ‚Verfahren‘ kann ich mich ausdrücken. Kurz … Ich finde, die erotische beziehungsweise pornogra­fische Literatur wird so ausgenutzt, wie die Geschichte ausgenutzt wird: sie wird allzu schnell und allzu gerne einer immer neuen Definition, Ma­nipu­lation, einer ungesunden Nostalgie unterworfen. Idealisierungen flüchtiger sexueller Begegnungen interessieren mich nicht. Mich interessieren Frauen mit haarigen und vernachlässigten Muschis. Und weiter: Erzählungen, Erzähltechniken und symbolische Bedeutungen, die verschiedene Gesichter – Ausdrücke – ihrer Sexualität implizieren.

    F: Und was ist mit Klischees?

    A: Ach … wir wissen doch vermutlich alle, wie es in diesem Geschäft mit Klischees ist, aber ich würde gerne etwas anderes sagen. ‚Ich bin gekommen, um Ihr Kabelfernsehen zu richten‘, sagt der Techniker und ‚richtet‘ nebenbei noch das üppige Dekolleté der Dame, die ihm die Tür geöffnet hat. Das Schicksal solcher fiktiver Personen ist besiegelt, in Zement gegossen; ihre Lust zeigt sich als physische, vor allem als Lebensnotwendigkeit und als nahezu alltägliches Bedürfnis nach etwas; es hat selbst seine eigenen Symptome, die sogar als Krankheitssymptome begriffen werden können, als pathologisch. Ich glaube aber, dass es trotzdem nicht so schlimm ist, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint. In den Handlungen dieser schlecht geschriebenen fiktiven Personen liegt eine Art optimistische Idee der Gegenseitigkeit, der Menschenliebe. Natürlich muss man sich dessen bewusst sein, dass es sich bei solchem pornografischem Material um ein Märchen handelt, das nichts anderes ist als Rotkäppchen oder Dornröschen. Klassische Märchen schätzen wir gewöhn­lich nicht wegen ihres literarischen Wertes oder ihrer Inno­vationskraft, sondern wegen der Botschaft, die sie in sich tragen. Ähnlich dürfen wir auch diese im Übrigen zu Ende ausgesponnenen Verwicklungen und Erzähltechniken nicht wegen ihres (nicht vorhandenen) künstlerischen Wertes beurteilen, sondern anhand einer grundlegenden Botschaft über Humanität, die sie dem Leser/Zuschauer vermitteln. Natürlich ist diese Botschaft stark vereinfacht, sehr einseitig; sie ist beinahe kindlich. Eine Lehrstunde über gegenseitige Hilfe­leistung; empfohlen für die Altersgruppe von vier bis sechs. (Lachen.) Dennoch ist eine Botschaft vorhanden, sie schwebt zwischen und über diesen schlecht gespielten Dialogen, und das freut mich jedes Mal ganz besonders, es beruhigt mich ... Es gibt mir ein klein bisschen den Glauben an die Legitimität unserer Art zurück.

    F: Sie sprechen häufig von der Postmoderne, heutzutage herrscht jedoch irgendwie die Meinung, dass die Postmoderne bereits überlebt sei, dass wir uns daher in einer Art Post-Postmoderne befänden. Was halten Sie davon?

    A: Ich denke, die Postmoderne ist noch lebendig; sie hat sich nur tief in uns vergraben, so dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen und erkennen.

    /…/

    Ich liege da und höre zu, wie jemand Saras Tochter zerlegt. Über der Stadt liegt eine heiße Nacht und das Atmen fällt mir schwer. Der Körper neben meinem murmelt im Tiefschlaf.

    „Siehst du sie noch manchmal? Mandy?"

    Ich schüttelte den Kopf: „Wo denn? Sie lebt doch im Ausland. Sie wird irgendeinen Künstler heiraten. In Frankreich wahrscheinlich."

    „Ist sie denn nicht lesbisch geworden?"

    „Ja, nun … Offenbar war die sexuelle Lücke, die ich in ihr hinterlassen habe, nicht so stark, dass sie ihre sexuelle Ausrichtung bedingungslos und unwiderruflich geändert hat. Ich glaube, das war nur eine Phase. Vielleicht sogar ein Ventil."

    „Hm … Aber sie ist ja noch jung. Wie alt ist sie denn überhaupt? Um einiges jünger, oder? Als wir, meine ich."

    „Nicht mal das. Sie ist nur knapp ein Jahr jünger als ich."

    „Vermisst du sie?"

    „Natürlich vermiss ich sie. Ich vermisse unser Leben in dieser Wohnung. Und den Sex. Ich vermisse den Sex."

    „Mit ihr?"

    „Mit ihr, mit dir. Sara, ich vermisse den Sex mit allen."

    /…/

    F: Gibt es in einer solchen Sexualität denn auch Raum für die Liebe?

    A: Die Sexualität hat unendlich viele Gesichter, Ausdrücke (und deshalb ist, nebenbei, das Schreiben über sie ein Prozess, der nie endet, der nicht enden kann), und viele von uns Menschen, tragen die einen oder anderen sexuelle Traumata mit sich herum. Ich selbst kann mir zum Beispiel nicht verzeihen, dass ich mich nicht als Teenager in die Welt der Sexualität eingeschrieben habe. Warum nicht? Das ist es ja gerade – ich weiß es nicht. Ich war kindisch, unsozial, in meine eigene Welt eingeschlossen ... Und trotzdem wünschte ich mir Kontakt. Mein größter Wunsch beim Abschluss der Volksschule war kein Motorrad oder Auto; ich wünschte mir, es zu den Klängen einer sanften Rockballade von einer Mitschülerin besorgt zu kriegen. Meine Unschuld verlor ich mit dreiundzwanzig und ich weiß nicht, wann ich sie verloren hätte, wenn zu diesem Zeitpunkt nicht Mandy in meinem Leben aufgetaucht wäre und beschlossen hätte, mich sozusagen zu missbrauchen. Missbrauchen, sage ich deswegen, weil ich nicht einmal ansatzweise bereit zur Sexualität war. Dennoch bin ich ihr dankbar. Unermesslich dankbar. Sie hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin. Aber die Liebe ... die berühmte Fotografin Lee Miller wurde als Kind vergewaltigt und ihr Arzt – zumindest glaube ich, dass er Arzt war – hat ihr in einer Reihe von Gesprächen Liebe und Sexualität als zwei vollkommen getrennte Dinge dargestellt. Und sie hat gelebt, sowohl liebend als auch sexuell. Ich finde, das ist eine sehr schöne und sehr edle Sache. Mit dieser Geschichte, außer natürlich mit dem Teil über die Vergewaltigung, kann ich mich identifizieren. Auch ich selbst bin fähig zur Liebe und – mehr oder weniger – fähig zur Sexualität, aber ich denke, dass die Gleichsetzung oder enge Verbindung dieser zwei Begriffe naiv, kindisch, überlebt und letzten Endes gefährlich ist. Alles in allem müssten wir mehr Bukowski lesen.

    F: Warum??

    A: Weil er schön festgehalten hat, wie es um diese Dinge steht. Mehrmals.

    /…/

    Hör zu. Hör zu. Sara, ich weiß, dass du schläfst, aber hör zu. Wir müssen was tun wegen deiner Tochter. Ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich weiß nicht, wer bei ihr ist, ich weiß nicht, wer ihr das antut. Ich weiß nicht, was sie tun, aber ich habe eine blühende Fantasie. Sie blüht mehr, als gut für mich ist. Sara ... Ich weiß nicht, wie lang ich das noch aushalte. Verstehst du das? Kannst du mich verstehen, Sara?

    Tea ist sexuell aktiv geworden. Sie ist sechzehn und hat angeblich einen fürchterlich hohen IQ. Sie ist begabt, angesehen, emotional intelligent und so weiter. Ich weiß, ich weiß. Alles das weiß ich. Ich wünsche ihr, dass sie sich so kennenlernt ... dass sie genau so andere Leute kennenlernt, verschiedene Persönlichkeitstypen ... die Vielfalt menschlicher Wesen. Das würde ihr auf lange (und, naja, auf kurze) Sicht nur nützen, aber trotzdem ... Sara, wir müssen was tun.

    Hörst du nicht?

    Wieso hörst du nicht?

    Das Hämmern hört auf. Ein paar seltsam kratzende Geräusche, dann – endlich – Stille.

    „Nein, nein; lass die Schuhe an", sagte ich am nächsten Tag zu Tea, als sie aus der Schule kam. Mit lebendigen, aber etwas müden Augen

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