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Mein Gang durch die Hölle: Nach einer wahren Geschichte
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eBook305 Seiten4 Stunden

Mein Gang durch die Hölle: Nach einer wahren Geschichte

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Über dieses E-Book

Koby erträgt viele Jahre lang, zuerst in Schule und Internat, dann in seinem Sportclub Mobbing, Schläge, Misshandlungen, Missbrauch durch Mitschüler und einen Erzieher. Eines Tages bricht er unter seiner ständigen Angst, vor allem der immer wiederkehrenden Todesangst vor dem Ertrinken und dem Eingesperrt sein, zusammen. Im Krankenhaus findet er endlich Mut, einen Teil seiner Leidensgeschichte zu erzählen. Als er feststellt, dass seine Eltern ihm Glauben schenken, bricht er ein weiteres Mal zusammen.
Übergroß ist seine Scham und er stellt sich immer wieder die Frage, warum er das alles mit sich machen ließ. Doch sein Leidensweg ist noch nicht zu Ende ….
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum9. Nov. 2016
ISBN9783743129948
Mein Gang durch die Hölle: Nach einer wahren Geschichte
Autor

Renée Wum

Renée Wum studierte Fremdsprachen und arbeitete lange Jahre als Fremdsprachenkorrespondentin, mittlerweile ist sie im Ruhestand. Sie lebt mit ihrer Familie in Luxemburg. Seit ihrer Kindheit liebt sie Bücher, heute schreibt sie selbst Lyrik und Prosa. Neben dem vorliegenden Buch erschienen bereits "Mein Gang durch die Hölle. Nach einer wahren Geschichte" und "Die Hölle im Kinderheim. Auf ewig hinter seelischen Gittern".

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    Buchvorschau

    Mein Gang durch die Hölle - Renée Wum

    überstehen.

    Die Sommerferien waren vorbei. Die Vorboten des Herbstes waren da, ein kühler Wind war spürbar. Heute war der erste Schultag, der 1. September 2004. Der Bus hielt, wie immer montags um 06.00 Uhr an der abgemachten Bushaltestelle, um die Schüler zur Schule zu fahren.

    Bei dieser ersten Fahrt nach den Sommerferien hatte Koby noch keine Ahnung, was nach den zwei Grundschuljahren in derselben Schule im ersten Jahr der Sekundarstufe auf ihn zukommen würde. Seine Lebensrealität war an diesem Schulanfang eine ganz normale für einen fünfzehnjährigen Jungen.

    Die zwei vergangenen Jahre Grundschule waren für ihn so positiv gewesen, er hatte viel Schulstoff aufnehmen können. Er hatte Freundschaften schließen können und doch eigentlich gar keine Lust auf Schule mehr gehabt, wenn er an die Primarschule davor dachte. Seine motivierte Klassenlehrerin hier hatte es fertiggebracht, dass er wieder mit einiger Lust am Unterricht teilnahm. Eine Bildungseinrichtung, die Kinder und Jugendliche für ein Leben in der Gesellschaft vorbereitete und wichtige Grundvoraussetzungen für das spätere Berufsleben vermittelte. Sie bot eine wahre Chance der beruflichen Weiterbildung und die Freude, neues Wissen und neue Fertigkeiten zu erlernen. In der Presse war dieses Institut überaus gelobt und vom Unterrichtsministerium empfohlen worden.

    Er war aufgeregt, er hoffte, die Freunde vom letzten Jahr wohl und munter wiederzusehen, und freute sich, endlich zu den »Großen« zu gehören. Andere Freizeitaktivitäten warteten auf ihn, nicht nur Kindertheatervorführungen und Adventsbasteln wie bisher, so hoffte er jedenfalls.

    Der unsympathische kleine, dicke Busfahrer mit seinem verfilzten Haar blieb, wie auch schon in den vergangenen Jahren, hinter dem Lenkrad sitzen. Es wäre trotzdem seine Aufgabe gewesen, zumindest den Laderaum zu öffnen und zu schließen.

    Die Busfahrer, die sich abwechselten, überließen diese Aufgabe den Schülern, und alle Schüler schmissen wie immer montagmorgens ihre Taschen, Koffer und Schulranzen in den Laderaum des Busses und stiegen dann ein.

    Koby setzte sich schräg gegenüber dem Fahrer. In die Reihe hinter ihm saß Thomas. Im letzten Schuljahr schien er ein stiller, einfühlsamer Junge zu sein, mit den extrem guten Manieren, immer adrett gekleidet. Seine Eltern waren geschieden, seine Mutter wieder verheiratet. In der Schule war Thomas gut angesehen, er war ein guter Schüler, hatte eine Freundin in der Schule, benahm sich eher vorschriftsmäßig und anständig. Gerade weil er den Anschein eines sehr netten Jungen machte, fielen viele Schüler und Schülerinnen auf ihn herein.

    Thomas hatte Koby im letzten Jahr in der Primarschule so viel Verständnis entgegengebracht, als zwei der Mitschüler ihn grob angefasst und beschimpft hatten. Er hatte ihm wirklich geholfen, er hatte die beiden sogar dazu gebracht, sich bei Koby zu entschuldigen.

    Neben Koby saß schon Hanna, sie war an der ersten Bushaltestelle eingestiegen, wo der Bus die ersten Schüler mitnahm. Mit ungewaschenen Haaren saß sie da, ihre Haut sah blass und schwammig aus, wie die Unterseite von einem Pilz. Sie stopfte gerade ihr drittes Marmeladebutterbrot in den Mund und schaute ganz verzweifelt drein, sie war den Tränen nahe.

    Koby wunderte sich. Hat die schon heute Morgen einen solchen Appetit? Er sah gleich, dass irgendwas mit ihr nicht stimmte.

    Er kannte sie schon von der Grundschule her. In der Schule hatte sie keine Freunde. Ihre Eltern hatten sich vor gut zwei Jahren getrennt, sie lebte mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zusammen, das wusste Koby. Aber sie war nicht glücklich in diesem Zuhause mit dem Stiefvater, das hatte sie ihm erzählt.

    Der Bus hielt noch zweimal, Schüler stiegen zu und dann waren sie vollzählig. Koby kannte sie alle.

    Plötzlich näherte sich von hinten Kevin. Schwarz gekleidet war der immer, heute im schwarzen T-Shirt, mit schwarzen Schuhen, und er griff in Hannas Schulranzen und steckte ihr ein dickes Stück Schokolade in den Mund. Sie drohte daran zu ersticken. Danach noch ein Stück, dann folgte eine Handvoll Chips, sie fing an zu würgen und zum guten Schluss erbrach sie sich auf den Boden des Busses.

    Der Fahrer, der alles beobachtet hatte, tat so, als hätte er nichts gesehen.

    Er dachte sich bestimmt, das kommt irgendwie schon in Ordnung, aber ohne mich, ich habe nichts gesehen. Es war ihm egal, er bezog sein Gehalt jeden Monatsersten von der Busfirma, und das hier alles würde nichts ändern. Es war nicht sein Bier, er war bloß der Fahrer. Sollten sie alle machen, was sie wollten. Er hatte es sowieso satt, diese jungen Menschen in seinem Bus zu transportieren. Er würde lieber »normale« Erwachsene im Bus mitnehmen, aber heute hatte er keine Wahl gehabt. Es waren mehrere Busfahrer krankgeschrieben, also war es wieder an ihm, diese undankbare Hin- und Rückfahrt zu dieser Schule zu machen. Wenn er heute Abend den Bus zurückbrachte, würde die beauftragte Putzfirma diesen Bus wie immer putzen und säubern.

    Da kam auch schon Kevin von hinten, nahm Hanna an den Zöpfen und steckte ihr den Kopf mit einem Ruck in das Erbrochene. Hanna nahm die roten Servietten, in welche ihre Butterbrote eingepackt waren, und putzte, ohne aufzumucken, alles auf. Dann steckte sie die schmutzigen, aufgeweichten Servietten in ihren Schulranzen.

    Kevin öffnete Hannas Schulranzen und nahm eine Tüte an sich, es waren Gummibärchen, nur grüne, Hanna mochte nur grüne. Ihre Mutter gab ihr jede Woche eine große Tüte von ihren Lieblingsgummibärchen mit. Hanna fing an zu heulen, es waren ihre Gummibärchen für die ganze Woche, 500 Gramm.

    Koby schaute ganz entsetzt, und das alles am ersten Tag, sie waren noch nicht einmal in der Schule.

    Er hatte die Primarstufe mit Erfolg abgeschlossen und freute sich auf die Sekundarschule, freute sich auf das Wiedersehen mit seinen Freunden vom letzten Schuljahr.

    Er warf einen Blick nach hinten, sein bester Freund Amar saß in der letzten Reihe. Nicht ein einziger Schüler im Bus sagte ein Wort, sie taten so, als würden sie schlafen. Sie sagten alle besser nichts. Denn wenn Hanna dran war, hatten sie selbst heute Morgen ihre Ruhe im Bus.

    Neben Kevin saß wie jeden Montag beim Hinfahren und freitags beim Zurückfahren sein Freund Andy. Die beiden waren ein gut eingespieltes Gespann, Kevin war die treibende Kraft und Andy führte aus, was ihm befohlen wurde. Es war bekannt, dass Kevin ab dem zwölften Lebensjahr in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche gelebt hatte. Jetzt war er achtzehn Jahre alt.

    Andy lebte mit seinem Bruder und der alleinerziehenden Mutter.

    Letztes Jahr hatte Andy Koby zu sich nach Hause eingeladen, und so hatte er einen Tag bei ihm verbracht. Andys Bruder hatte Koby in seinem Schlafzimmer ein Arsenal an Waffen gezeigt, es waren sechs an der Zahl, Pistolen und Revolver mit Munition, sie lagen in seinem Schrank, der nicht abgeschlossen war. Einen Waffenschein hatte er nicht. »Na«, sagte Andy zu ihm, »da staunst du, ich habe dir von den Waffen erzählt und du hast mir nicht geglaubt.«

    Da stand er mit seiner Tätowierung am rechten Oberarm, eine Tulpe, rot und grün.

    Koby fand, dass nicht nur Andy, sondern auch sein Bruder einen irren Gesichtsausdruck hatten, zumal dann, wenn sie eine Waffe in der Hand hielten. Auf keinen Fall wollte Koby bei den beiden diese Nacht verbringen, so wie es abgemacht worden war. Er hatte Angst vor den Waffen. Andy hatte noch vier Geschwister, die wohnten aber nicht mehr zu Hause.

    Auf einmal flog von hinten etwas an Kobys Kopf, und dann noch etwas, es war ein Gummibärchen, dann noch eins und noch eins. Dann folgte ein scharfkantiger, kleiner Gegenstand, noch einer, es tat weh am Hinterkopf, er bückte sich, hob auf, was da geflogen kam, es waren zwei abgebrochene Stücke von einem Lineal, und steckte es ein.

    Es tat ordentlich weh jetzt, denn es folgten weitere kleine Stücke Holz. Dann folgten ein grünes Gummibärchen und noch eines und noch viele mehr. Die taten ihm nicht weh, aber sie gehörten Hanna. Koby hasste Gummibärchen, aber er wusste, wie viel Hanna an ihren Gummibärchen lag. Er hob vier Stück vom Fußboden auf und reichte sie Hanna hinüber.

    Da schoss von hinten Kevin nach vorne. Er trug wie immer sein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Hose, sein Kopf war kahl geschoren. Auf seinem rechten Oberarm war die tätowierte Tulpe, rot und grün, und eine weitere Tätowierung: ein schwarzes Band, das sah so echt aus, als würde das Blut in Wirklichkeit herunterlaufen. Am linken Oberarm war ein großer roter Totenkopf tätowiert.

    Er schlug Koby mit der flachen Hand ins Genick, zog ihn fest an den Ohren und sagte leise zu ihm: »Lass liegen, ich sage dir, lass liegen!« Es tat ordentlich weh, vor Schreck fielen die Gummibärchen auf den Boden. »Und gib mir die Stücke Holz vom Boden, damit ich weiter auf dich zielen kann, wenn du aufmuckst.«

    Koby war steif vor Angst. Was ging hier vor am ersten Schultag, und warum sagte Thomas, der schlafend hinter ihm saß, kein Wort? Oder tat er nur so als ob er schliefe?

    In der Beförderungsordnung stand unter anderem: »Der Busfahrer ist für die Sicherheit seiner Mitfahrer verantwortlich. Er muss sich auf seine Arbeit voll konzentrieren können.«

    Der Fahrer hatte während der ganzen Busfahrt die Kopfhörer auf und hörte Musik. Er wollte sich auf keinen Fall mit Kevin anlegen.

    * * *

    Pünktlich um 8.00 Uhr kam der Bus vor dem grauen Schulgebäude an und hielt vor der Einfahrt. Hier gab es weder ein Tor noch einen Zaun, lediglich ein Schild an einer schiefen Mauer, auf dem Name der Schule stand. Welch furchtbarer erster Schultag! Koby stand vor dem uralten Schulgebäude mit der Ziegelsteinfassade. Auf der linken Seite das Bürogebäude, die flachen Gebäudekomplexe mit den Eingängen zu den verschiedenen Klassen rund um den Schulhof mit immer noch denselben rostigen Bänken. Beim Gebäude direkt der Parkplatz für Lehrpersonal und Besucher.

    Alle Schüler versammelten sich am ersten Schultag in der Aula und der Schuldirektor begrüßte alle und hieß sie willkommen. Es war eigentlich so wie letztes Jahr, die Begrüßung der Lehrer, die Neuen wurden vorgestellt, Koby sah seine Klassenlehrerin von der Grundschule. Sie fragte, wie es ihm ginge, und sie hoffte, dass er sich in der Sekundarstufe gut einleben würde. Er sah einige seiner alten Schulkameraden in einer Ecke, und die erzählten nur Geschichten über Mädchen, was sie alles in den Ferien mit denen erlebt hatten. Davon konnte Koby nur träumen. Er hoffte, dass er demnächst endlich ein Mädchen als seine Freundin vorstellen könnte.

    Die Bücher und Hefte wurden verteilt, es wurde ein Film in der Aula vorgeführt, ehe man sich versah, war es schon 12.00 Uhr und Zeit zum Essen. Für Koby war das Essen in der Kantine an diesem ersten Tag ein Festessen. Es gab paniertes Schnitzel und Pommes, Salat, zum Nachtisch Sahnepudding und Eis, Limonade gab es auch. Das war kein extravagantes Menü, aber am ersten Schultag war das Essen immer extra gut.

    Die gute Laune gehörte heute bei allen dazu, und Koby spürte in sich den Enthusiasmus von allem Neuen, was auf ihn zukommen würde. Er wünschte sich, das Essen bliebe während des ganzen Schuljahres so, das Küchenpersonal hatte jetzt noch gute Laune, in der zweiten Schulwoche war das Kantinenessen wieder langweilig, dann war die Laune des Kochs höchstwahrscheinlich schon im Eimer und er ließ sich keine besonderen Ideen mehr einfallen.

    Gegen 15.00 Uhr war am ersten Tag Schulschluss und alle Internatsschüler begaben sich zu Fuß zum nahe gelegenen Internat. Ihre Taschen und Koffer mit all ihren persönlichen Sachen standen im Eingang des Internats. Montagmorgen war der Busfahrer zum Internat gefahren und hatte die Taschen und Koffer der Schüler in der Eingangshalle abgestellt.

    Da stand Koby nun mit den anderen Schülern vor dem Eingang des Internatsgebäudes. Das Internat bestand schon seit vielen Jahren. Es hatte sich nichts geändert an dem Gebäude, in dem Koby mit anderen Schülern während der ganzen Woche in der Schulzeit blieb. Der Verwalter, Herr Meffert, stand da wie jedes Jahr zum Schulbeginn und begrüßte die Schüler im Vorbeigehen. Er gab am ersten Tag eine gute Figur ab, blickte jeden mit seinen strengen, durchdringenden Augen an, schüttelte jedem die Hand. Er war zuständig für die Kontoführung, er verwaltete, was auch immer das hieß. War sein früherer Job vielleicht Buchhalter, hatte er sich in irgendeinem Job früher als untauglich erwiesen oder war er zum Verwalter geboren? Niemand wusste es. Es interessierte auch niemanden, er war der sogenannte »Chef« im Internat. Da er der »Vorsteher« des Internats war, hätten eigentlich die Jugendlichen zu ihm kommen können und müssen, um ihre Sorgen mitzuteilen. Immerhin waren sie die Woche über von zu Hause weg, und Heimweh hatten viele. Aber Koby war nicht der einzige Schüler, der nie Vertrauen zu ihm gefasst hatte.

    Ob die im Internat beschäftigten Erzieher überhaupt eine – und wenn ja welche – pädagogische Laufbahn hatten, war nicht bekannt. Damit sie im Internat Erzieher sein konnten, mussten sie Erfahrung mit Menschen haben, Kommunikationsfähigkeit besitzen. Waren sie in ihrem früheren Leben Schlosser, Schreiner, Mechaniker, Techniker? Ob sie sogar brutale Rausschmeißer gewesen waren, wusste man nicht, aber manche hatten das Zeug dazu.

    Koby hasste es, die Woche über hier zu sein, aber er hatte wie viele andere Schüler keine andere Wahl. Er bekam immer Heimweh und spätestens mittwochs wollte er nach Hause. Er hatte eigentlich keinen Draht zu Herrn Meffert, weder einen guten noch einen schlechten, er wirkte auf ihn unnahbar. Hatte er doch letztes Jahr die sich immer wiederholenden rassistischen Bemerkungen heruntergespielt und bagatellisiert. Das gefiel Koby gar nicht, denn er war tief getroffen von dem Rassismus, der ihm hier entgegengebracht wurde. Wenn Herr Meffert nicht wusste, was er antworten sollte, verwies er immer auf die Erzieher, die für das Wohl all dieser Jugendlichen zuständig waren. Er hatte die Leitung des Internats und das dementsprechende Gehalt, so hätte er also auch die Verantwortung tragen müssen.

    * * *

    Da bis zum Abendessen noch ein bisschen Zeit blieb, fragte Koby seinen Freund Amar, ob er mit ihm noch eine Partie Kicker spielen würde. Während der Partie kam Thomas von hinten, Koby hatte ihn gar nicht gesehen, hielt Kobys Hand fest, die gerade die Kugel reinschieben wollte, während Kevin von der anderen Seite des Kickers die Kugel auf Kobys Finger schoss. Koby schrie auf, das tat sehr weh. Das hatten die zwei absichtlich eingefädelt.

    Die Zimmer wurden von den zwei diensthabenden Erziehern zugeteilt, aber der Verwalter, Herr Meffert, hatte natürlich das Sagen. Da Koby dieses Jahr zu den »Großen« gehörte, war sein Zimmer eine Etage höher, so wie alle Schlafzimmer der Schüler der Sekundarstufe.

    Koby war glücklich, er war zusammen mit Amar, seinem besten Freund, den er seit zwei Jahren kannte, und Tobias in einem Dreibettzimmer. Sie gehörten ab diesem Jahr alle drei zu den Sekundarschülern.

    Ihr Zimmer war geräumig, freundlich und nach Art eines Studentenwohnheims möbliert. Koby hatte sich für das mittlere Bett entschieden, Amar für das Bett am Fenster und Tobias wollte seines gleich neben der Tür haben. Sie fingen an, ihre Taschen zu leeren, die persönlichen Sachen in den Schrank zu räumen. Es gab eine Waschzelle im Zimmer mit fließend warmem und kaltem Wasser, jeder hatte hier seinen Platz für seine persönlichen Waschutensilien. Die Duschräume und Toiletten waren auf dem Gang.

    Nicht alle Internatsschüler waren zufrieden mit der Verteilung der Schlaftrakte, wie man sie auch nannte. Kevin war wie letztes Jahr mit Frank in einem Zimmer, Andy teilte sein Zimmer mit Lukas und Thomas mit Florian, dem Neuen. Wenn es sich herausstellte, dass zwei Zimmergenossen sich überhaupt nicht verstanden, konnte natürlich mit Einverständnis des neuen Zimmerkameraden das Zimmer mit einem anderen getauscht werden. Alle Mädchen schliefen unten, Primar- und Sekundarstufe, und am Ende des Korridors war ein Zimmer vorgesehen für den Betreuer, der die Nacht über hier schlief.

    Kobys Sachen hatten bequem in seine große Reisetasche gepasst. Sie räumten ihre privaten Sachen in die jeweiligen nicht abschließbaren Schränke, Koby konnte den in der Mitte für sich in Anspruch nehmen. Das Wichtigste war für ihn ohnehin sein Basketball. Er hatte von seinem Taschengeld lange gespart, um sich diesen Basketball leisten zu können. Die T-Shirts mit seinen beliebtesten Basketballspielern hatte er natürlich nicht vergessen einzupacken.

    Ab dem ersten Tag im Internat waren die Jugendlichen immer und überall mit den anderen zusammen, im Schlaftrakt, beim Waschen, beim Frühstück, in der Schule, beim Mittagessen, in der Schule, beim Spielen und Sport.

    Sie wohnten für ein ganzes Schuljahr mit ihren Zimmerkameraden zusammen und hatten von heute auf morgen die Woche über kein Privatleben mehr. Sie hatten sich ihre Zimmerkameraden nicht ausgesucht. Doch war Koby glücklich, dass Amar, sein bester Freund, und Tobias das Zimmer mit ihm teilten.

    Schnell wurde klar, wer von den drei Zimmerbewohnern den Ton angab und wer widerwillig im eigenen Zimmer geduldet war. Bei seinen beiden Zimmergenossen war es vom ersten Tag an klar, dass Amar derjenige war, der das Sagen hatte. Koby fragte sich, warum das wohl so war.

    Amar trug wie viele andere Schüler stets nur die modernste Kleidung, Markenjeans und erstklassige Schuhe.

    Der lange, schmale Tobias trug immer eine schwarze Hose und meist ein kurzärmeliges kariertes Sporthemd. Koby kannte ihn erst seit letztem Schuljahr.

    Ein netter Junge, aber scheu. Hoffentlich hatte seine Mutter ihm endlich abgewöhnt, ständig in der Nase zu popeln. Es gab Momente, in denen sein Finger so tief in der Nase steckte, dass es ein Wunder war, dass er sich nicht das Gehirn anbohrte.

    Tobias Eltern besaßen eine schöne Hotelanlage, gehobene Klasse, mit Poolanlagen, luxuriös ausgestatteten Zimmern, Wellness und Beauty, mit vielen Freizeit- und Sportmöglichkeiten und einem traumhaft schönen Golfplatz. Jedes Wochenende war das Hotel komplett ausgebucht. Betuchte Touristen aus ganz Europa verbrachten dort ihre Ferien.

    Amars Eltern waren Inhaber eines schicken Restaurants im Süden des Landes. Samstags und sonntags war das Lokal immer voll besetzt. Spezialität des Hauses war Lachsfilet in allen erdenklichen Varianten sowie Tagliatelle mit Lachs-Wein-Soße. Viele Gourmets machten den weiten Weg extra wegen dieser Spezialitäten.

    Am Abend vor dem ersten gemeinsamen Essen im Speisesaal verteilte der Internatsleiter die Internatsordnung an jeden Schüler. Darin stand unter anderem: »Das Internat ist eine große Familie, dieses Jahr sind es achtzig Personen, die hier miteinander leben. Jugendliche und Erwachsene haben gewisse Regeln einzuhalten, damit sich jeder wohlfühlen kann und die Sicherheit für alle gewährleistet ist.«

    Der Leiter des Internats stellte die Betreuer nacheinander vor. Koby kannte sie fast alle vom letzten Jahr. Erzieher Daniel stand da mit seinem abartig birnenförmigen, kahlen Schädel, mit Bierbauch, Specknacken; andauernd schwitzte er. Er war hier seit über dreizehn Jahren tätig, hatte also Erfahrung, wie man so schön sagte. Erzieher Werner war genau das Gegenteil von Daniel, was den Körperbau anging. Er hatte eine schmale Figur und war jünger als Daniel.

    Das Internat stand den Schülern und Schülerinnen zur Verfügung, denen die tägliche Heimfahrt zum Elternhaus nicht möglich war.

    Eine neue Betreuerin war auch dabei: Barbara, schlank, blond, knallroter Lippenstift, dazu trug sie ein Kleid in derselben Farbe wie der Lippenstift und hochhackige Schuhe.

    Dieser Neuzugang fand natürlich gleich Gefallen bei den Schülern, handelte es sich doch bei den ihnen schon bekannten Betreuerinnen um ältere »Semester«. Sie nannten diese Betreuerinnen insgeheim »Schrullen«. Koby mochte sie alle, außer Dagmar und Elke, die schienen eingebildet zu sein und sprachen nicht viel mit ihm. Er selbst war durch sein natürliches und aufgeschlossenes Wesen bei allen beliebt. Er strahlte Lebensfreude aus, war hilfsbereit und immer gut gelaunt.

    Und nun konnten alle Schüler und Schülerinnen, die das wollten, erzählen, wo sie denn ihre Ferien dieses Jahr verbracht hatten.

    Einige erzählten über ihre Ferien im Zeltlager, mit der Familie waren andere in Spanien oder Italien gewesen, es war sogar einer dabei, der hatte vier Wochen in Florida verbracht und sich in vielen Freizeitparks amüsiert. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er davon berichtete.

    Danach war es an Koby zu erzählen, dass er in den langen Sommerferien eine Rundreise auf Kuba mit seinen Eltern gemacht hatte, er konnte sogar einige Fotos von diesem für ihn einmaligen Abenteuer herumreichen. Der Neid stand manchen Schülern förmlich im Gesicht, aber das war eigentlich gut zu verstehen und menschlich. Aber es war nicht seine Absicht gewesen, Missgunst zu erzeugen bei den Schülern, er erzählte einfach nur von seinen Ferien.

    Als sie sich alle später im Aufenthaltsraum aufhielten, schlugen plötzlich Andy und Frank von hinten nur so auf ihn ein, Koby hielt sich die Hände vor das Gesicht, sogar als er laut schrie, kam kein Betreuer in den Raum, es traute sich keiner rein. Und dann kam ein Hieb von Kevin mit seinem vierkantigen Ring zwischen die Beine. »Du wärst besser auf Kuba geblieben, aber hier wird es schöner für dich werden.« Koby war gar nicht darauf vorbereitet gewesen, er hielt nur noch seine Hände zwischen die Beine und nahm sie nicht mehr weg. Es tat ihm furchtbar weh, es brannte wie Feuer.

    Die Plätze an den Tischen im Speisesaal wurden verteilt. Sie saßen eigentlich immer an demselben Tisch, konnten sich aber auch hinsetzen, wo sie wollten, es waren Tische für acht Leute. Es wurde abgewechselt, täglich mussten jeweils zwei Schüler an jedem Tisch sich darum kümmern, für das Abendessen Krüge mit Wasser an den Tisch zu bringen.

    An seinem Tisch saß auch Katja, die immer weinte, wenn sie freitags mit dem Bus nach Hause musste. Sie weinte vor Angst, ob bei ihrer Rückkehr nach Hause ihr Großvater überhaupt noch da sein würde oder ob der sich in der Zwischenzeit auch heimlich und für immer aus dem Staub gemacht hatte, so wie ihre Eltern vor zwei Jahren.

    Katja war in der Anpassungsklasse für junge Schüler mit starken körperlichen und geistigen Einschränkungen. Sie war zwölf, seit zwei Jahren hier und geistig auf dem Stand eines fünf- bis sechsjährigen Kindes. Sie hatte immer ihren Teddy mit dem dunkelbraunen Fell und den großen braunen Glasaugen dabei, obschon es bei Tisch verboten war, irgendwelche persönliche Sachen mitzubringen.

    »Stell dich nicht so an«, sagte Werner, der Betreuer, »und leg deinen blöden Teddy hier auf die Bank.« Warum eigentlich, fragte sich Koby, der Teddybär stört doch niemanden. Auch brauchte und durfte Katja nie die Wasserkrüge zum Tisch bringen, einmal hatte genügt, da hatte sie das Wasser über das Essen aller Tischkameraden ausgeschüttet. Seitdem durfte sie nicht mehr an den Tischen helfen.

    Werner war sehr charmant und witzig, er machte gerne Späße. Er gab immer Witze zum Besten, saß mit den Internatsschülern zusammen und erzählte Episoden aus seiner Studentenzeit, das gefiel den jungen Leuten.

    Letztes Jahr war er sehr lieb gewesen, aber jetzt sah Koby ihn mit anderen Augen.

    Die Schüler stellten sich der Reihe nach auf, und mit ihrem Tablett holten sie das Essen von der Durchreiche aus Küche ab und setzten sich an ihren Platz.

    Am ersten Tag gab es Gemüsesuppe, Wurst- und Salamibrote und kleine Portionen Käsewürfel, als Nachtisch eine Scheibe Schokokuchen.

    Im Vorbeigehen zog Kevin Koby fest an den Ohren, Koby schrie laut auf vor Schmerz. Einige Schüler hatten zugeschaut, sagten aber nichts, Werner schien nichts davon mitbekommen zu haben, obwohl Kobys Schrei sehr laut gewesen war.

    Dann hörte Koby, wie auf der anderen Seite seines Tisches Lukas zu Frank sagte: »Wir

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