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Tödliche Zeichen
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eBook437 Seiten5 Stunden

Tödliche Zeichen

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Über dieses E-Book

An der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf wurde ein Philosophieprofessor mit einem Schierlingsbecher geradezu hingerichtet.
Hauptkommissarin Phoebe Zoe Walker - genannt Bi - übernimmt den Fall und holt sich Hilfe bei ihrem alten Freund Dr. Johannes Schwarz, den sie als Personalberater und Hobbyphilosophen kennengelernt hatte.
Ihr Stammlokal ist das Café Weise in Düsseldorf.
Die ersten Ermittlungen enden rätselhaft. Alle verfügbaren Daten über den Professor wurden in der Universität und ihren Bibliotheken gelöscht und auch das Polizeipräsidium ist gehackt worden. Aber das ist erst der Anfang.
Sie ahnen nicht auf welche Mächte sie stoßen werden.
Beide werden auf tödliche Zeichen stoßen, die sie gemeinsam entschlüsseln müssen. Eine gefährliche Jagd beginnt, bei der aus Jägern Gejagte und aus Gejagten Jäger werden…
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Feb. 2021
ISBN9783347241763
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    Buchvorschau

    Tödliche Zeichen - Michael Lindenberg

    WAS SOLL DAS ALLES?

    MÄRCHEN VON EINEM, DER AUSZOG, DAS FÜRCHTEN ZU LERNEN

    Es war wieder einmal am Niederrhein im Hause seines Vaters Donner-Weiß-Broich, da lebte ein Jüngling, der hatte mehrere ältere Brüder, die waren klug und gescheit und wussten sich in alles zu schicken; er der Jüngste aber wollte nichts begreifen und lernen, weil er immer alles sah, wie es war. Wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie: »Mit dem wird der Vater seine Last haben.«

    Nun geschah es, dass der Vater einmal zu ihm sprach: »Hör, Du in der Ecke dort, du wirst groß und stark, Du musst auch etwas lernen, womit Du Dein Brot verdienst. Siehst Du, wie sich Deine Brüder Mühe geben, aber an Dir ist Hopfen und Malz verloren.«

    »Ei, Vater«, antwortete er, »ich will gerne was lernen, ja wenn’s anginge, so möchte ich lernen, dass mir’s gruselt, davon versteh’ ich noch nichts.« Denn öfter hatte er, wenn der Vater abends beim Feuer Geschichten erzählte, die einem unter die Haut gehen, von seinen Brüdern gehört. »Ach, was gruselt mir, es gruselt mir!« Wobei der Jüngste sich dann fragte, was das wohl heißen sollte. »Immer sagen sie, es gruselt mir, es gruselt mir. Mir gruselt nicht – das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe.«

    Bald danach kam der Küster ins Haus; da klagte ihm der Vater seine Not und erzählte ihm, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wüsste nichts und lernte nichts. »Denkt Euch, als wir ihn fragten, womit er sein Brot verdienen wollte, hat er gar verlangt, das Gruseln zu lernen.«

    Der Küster versprach dem Vater Abhilfe und nahm den Sohn zu sich mit ins Haus, wo er die Glocken läuten musste.

    Nach ein paar Tagen weckte er ihn um Mitternacht, hieß ihn aufstehen, in den Kirchturm steigen und läuten. Er selber aber hatte sich vorgeschlichen und mit einem weißen Betttuch als Gespenst auf der Treppe, dem Schallloch gegenüber, hingestellt, sodass der Junge ihn sehen musste.

    »Wer da?«, rief er, aber die Gestalt gab keine Antwort, regte und bewegte sich nicht. Der Junge rief zum zweiten Mal: »Was willst du hier! Sprich, wenn Du ein ehrlicher Kerl bist, oder ich werfe Dich die Treppe hinab!« Der Küster in seinem weißen Gewand aber blieb stumm …

    »Nun gut«, dachte der Junge, »Zeichen oder Zeichen von Zeichen benutzen wir nur solange wir keinen Zugang zu den Dingen selbst haben«, und warf sich mit diesem Gedanken und mit Anlauf auf die weiße Gestalt und stieß sie die Treppe herunter, dass sie zehn Stufen herabfiel und in einer Ecke liegenblieb. Als der Vater von der Frau des Küsters hörte, was sein Sohn in der Nacht angestellt hatte, schalte er den Jungen aus und jammerte: »Ach, mit Dir erleb’ ich nur Unglück.« »Nun«, sprach der Sohn, »ich will Euch nicht länger zur Last fallen und selber in die Welt gehen, um das Gruseln zu lernen.« Da war ihm der Vater so dankbar, dass er ihm 50 Taler mit auf den Weg gab …

    Sie trafen sich im Weise.

    Er setzte sich draußen unter einem Schirm an einen Tisch, nachdem er sich ein paar Zeitschriften geholt hatte. Die Bestuhlung stand etwas dicht, sodass er die schweren Bistrostühle aus Eisen und Holzlatten erst beiseite rücken musste, um einen Platz unter einem Schirm zu finden, der weit weg genug von den anderen Gästen war, um sich ungestört mit Bi zu unterhalten.

    Er war wie immer etwas früher gekommen. Die Kellnerin kannte ihn und winkte von weitem zu. Sie blickte zu ihm herüber und machte mit der Hand ein Zeichen, als wenn Sie eine Kaffeetasse hielt. Ihr Gesicht drückte die übliche Frage aus, die er mit einem freundlichen Nicken beantwortete. Sie wusste, was er haben wollte und brachte den Kaffee auch zügig. Wie immer war der Kaffee gut, aber es hätte auch ein Plätzchen dabei sein können. Er zündete sich eine Zigarette an.

    Nach ein paar Zügen und Schlucken Kaffee hatte er den SPIEGEL, den er von rückwärts las, durch. Gelangweilt blätterte er im FOCUS. Der Artikel zum Thema Industrie 4.0 war belanglos und die obligatorischen Ratschläge trivial. Immerhin hatte er ja noch die Auto Motor Sport. Er schaute kurz auf seine Uhr. Es waren noch drei Minuten bis zu Ihrem Eintreffen.

    Er blickte sich noch einmal um. Es schien alles unverändert. Die Leute warteten an der Haltstelle, die leider direkt an die Außengastronomie vom Weise angrenzte. Der Lärm der Busse war erträglich, die Abgase waren es nicht.

    Das Weise lag gegenüber den Ausläufern der Uni Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit ein paar trostlosen Backsteinbauten aus ockerfarbigen Ziegeln und roten als Ornamentik. Alles sah ein bisschen verlassen und ziemlich ungepflegt aus.

    Die Graffitis auf den Glaswänden der Haltestellen trugen nicht zur Verschönerung bei, weil sie so lieblos wie das ganze Ambiente waren. Der Stadtteil Bilk gehörte nicht zu den schickeren Stadtteilen. Aber das Café lag halt nah an der Uni und die Parkplatzsituation war erträglich. Johannes kam gerne hierher. Die Sonne schien für einen Tag im Mai schon sehr kräftig und der Wind war lau.

    Er schaute kurz nach oben. Es war glasklar und wirkte fast schon unwirklich. Wie ein Bild von Gurski. Die Wirklichkeit erschien in ihrer Schärfe wirklicher als die Wirklichkeit. Nur der stahlblaue Himmel wirkte übertrieben.

    Er legte die Zeitschrift weg, als im nächsten Augenblick Bi erschien. Sie war auf die Sekunde pünktlich. Er drückte seine Zigarette aus und stellt den Aschenbecher auf den leeren Nebentisch.

    Irgendwie sahen alle Polizistinnen, die man in den Polizeifahrzeugen sah, ähnlich und stereotyp im Profil aus. Sie trugen allen einen Pferdeschwanz, bei dem sie ihre langen Haare entweder höher oder tiefer mit einem Gummi oder Haarreif zusammenhielten. Mal etwas frecher, wie Bi oder brav, wie aus einem Reitstall.

    Aber auf den zweiten Blick sah man, dass die Polizistinnen doch sehr viel Wert darauf legten bei aller Uniformierung sehr individuell auszusehen.

    Bei den Kollegen sah es bunter aus. Die Haarschnitte reichten von mittellang bis zur geschorenen Glatze und waren häufig mit allen möglichen Bartformen kombiniert.

    Auf dem Weg zu ihm zückte sie noch kurz ihr Handy und blieb stehen. Etwas verzweifelt schaute sie zu Johannes rüber und winkte ihm schulterzuckend zu. Kein Stress gestikulierte sie mit beiden Händen. Während des Gesprächs hielt sie den Blickkontakt zu Johannes.

    Bi wirkte etwas angespannt und erschöpft, war aber wie immer diszipliniert genug, sich nichts anmerken zu lassen. Er kannte sie zu gut, um zu wissen, dass sie auch bei Stress von hellwacher Intelligenz war.

    Auf dem Weg zu Johannes löste sie ihr Haar auf und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht.

    »Hallo Bi!«

    Wie immer lächelte sie etwas ungelenk, wenn man sie so rief.

    »Hallo Johannes, schön Dich wiederzusehen!«

    Als sie seinen Tisch erreichte, hatte er sich schon erhoben, gab er Ihr die Hand, umarmte sie kurz und fragte sie, ob der Tisch o.k. sei.

    »Alles in Ordnung.«

    Bi und Johannes waren alte Freunde, die sich vor Jahren zufällig getroffen hatten.

    »Möchtest Du was essen? Die haben wieder ihre fantastischen Lammkoteletts mit Rucola-Salat und Schafskäse.«

    Johannes legte wie immer großen Wert auf gute Umgangsformen. Eigentlich war er ein bisschen old Style. Sein schwarzes Sakko hatte er nicht abgelegt; das tat er erst ab 35°. Es passte perfekt zu seinen schwarzen vollen Haaren, seinem gebräunten Gesicht, und seinem Schneider war es zu verdanken, dass die ersten altersgemäßen Anzeichen eines Bauchansatzes nicht zu sehen waren.

    Johannes sah sehr jungenhaft aus und konnte sehr charmant lächeln. Auf den zweiten Blick sah man aber auch eine Härte in seinem Gesicht, die Entschlossenheit und Mut verriet. Aber diesen Gesichtsausdruck hielt er in Reserve.

    Ein klein bisschen schiki war er schon, aber nicht micki. Ein typischer bodenständiger Düsseldorfer, der sein Leben genoss, glücklich verheiratet war und eine Tochter in der Pubertät hatte. Dass er eine so in jeder Hinsicht interessante Freundin hatte, war auch eher ungewöhnlich. Trotzdem. Sein Leben war schön aber nicht sonderlich spannend. Aber das vermisste er aber auch nicht. Warum sollte er auch. Oder?

    »Essen? Eigentlich gerne, aber ich hab nicht so viel Zeit.«

    »Oh. Ist was passiert?«

    »Ich muss gleich zur Pressekonferenz in Polizeipräsidium.«

    Sie sah wie immer fantastisch gut aus. Ihr glattes blondes Haar kontrastierte mit ihrem roten Lippenstift und ihren hellwachen und ihm zugewandten strahlenden blauen Augen. Sie hatte ein sehr schönes schlankes Gesicht. Auf den ersten Blick war es nicht sehr auffällig. Es war aber erstaunlich wandlungsfähig und ausdrucksstark.

    Ihr offenes Lächeln, ihre Zornesfalten, ihre Grübchen, ihre Ernsthaftigkeit und bissige Ironie gepaart mit sehr viel weiblicher Anmut bildeten eine Komposition, die es unvergesslich machten. Außerdem zeigte es: Sie hatte Biss. Zu ihrer beigen Jeans trug sie einen dunkelblauen Blazer, der ihrem sportlichen Körper weiblich leger erschienen, ließ.

    Sie machte kurz Anstalt, ihren Blazer wegen der Hitze auszuziehen, ließ es aber doch lieber. Johannes wusste warum. Man musste nicht ihre Walther P99 sehen. Johannes kannte ihr Schulterholster. Sie hatte mehrere davon. Am liebsten trug sie ihren Dunkelbraunen aus Leder, der angenehm zu tragen war und dennoch ein schnelles Ziehen ihrer Waffe erlaubte.

    »Aber es ist doch erst zwölf Uhr.«

    »Genau, aber ich muss zu einer außergewöhnlichen Pressekonferenz um dreizehn Uhr. Wir haben gerade noch Zeit für einen Kaffee.«

    Die Kellnerin aus Georgien hatte aufmerksam gesehen, dass Johannes nicht mehr allein war und kam wegen einer Bestellung an den Tisch.

    »Möchtest Du einen Latte macchiato?«

    »Gerne.«

    »Also: Einen Latte und einen Kaffee wie immer. Danke.«

    »Also, was ist denn da passiert, wenn Du drüber reden kannst.«

    »Ja wenn Du immer nur Deine Zeitschriften liest, kannst Du es nicht wissen. In Spiegel Online steht’s schon.«

    »Hm?«

    »Also. Heute Morgen ist in der Uni ein Toter von einer Putzfrau vorgefunden worden. Ein Professor der Philosophie. Ich war also schon früh auf.«

    »Und?«

    »Vergiftet.«

    »Mord? Selbstmord?«

    »Das wissen wir noch nicht ganz genau. Es gibt kein Abschiedsschreiben. Also ist ein Mord auch nicht auszuschließen.«

    »Aha.«

    »Er ist an irgendeinem Gift gestorben. In seinem Büro fanden wir auf seinem Schreibtisch einen Porzellanbecher, das ziemlich merkwürdig stank. Wie scharfe Pisse.«

    »Hm. Ein Düsseldorfer Professor der Philosophie stirbt – warum auch immer – an Gift. Das klingt gespenstisch.«

    »Warum?«

    »Na ja. Erst mal ein Professor der an Gift stirbt und dann natürlich in Düsseldorf. Ausgerechnet Düsseldorf. Das passt gar nicht. Aber sag mal. Nach Pisse?«

    »Ja, das Glas ist natürlich jetzt bei der Spurensicherung im Labor, und die werden schon rauskriegen, woran der gestorben ist.

    Das ist nur schon eine ungewöhnliche Tat. Was ich so kenne, sind Familientragödien, Eifersucht und natürlich auch eiskalte Morde wegen – was weiß ich – Geld und Drogen. Einen spektakulären Mord hatten wir einmal, als eine sehr junge Frau, die einem alten Mann hörig war, einen Pfeil mit einer Armbrust durch den Hals geschossen hat. Wir mussten die Frau aber leider trotzdem verfolgen.

    Aber ein harmloser Philosoph? Hast Du irgendeine Idee?«

    »Na ja. Es gibt einen spektakulären Giftmord im alten Griechenland. Dort wurde einst Sokrates gezwungen, einen Schierlingsbecher zu trinken. Schierling riecht sehr stark nach Ammoniak.«

    »Wie riecht das denn?«

    »So nach AJAX mit Salmiak. Und irgendwie eben nach Mäusepisse hab ich mal gehört.«

    »AJAX? Das kenn ich von meiner Omi. Und wer hat ihn und warum vergiftet?«

    »Es waren die Athener. Er hatte angeblich schlechten Einflusses auf die Jugend und die Götter missachtet.«

    »Also eine Hinrichtung? Das klingt gruselig, ja makaber.«

    »Genau! So ist es überliefert.«

    »Ich wüsste aber nicht, dass ein Düsseldorfer Professor einen schlechten Einfluss – wie sagtest Du – auf die Jugend hat und die Götter scheiße findet.«

    Johannes gestand: »Irgendwie klingt das nicht lustig.«

    Sie sollten beide sehr bald erfahren, wie lustig das noch werden sollte.

    »Aber sag mal Johannes, hast Du in Deinem ersten Leben nicht mal Philosophie studiert? War das ne Jugendsünde?«

    »Um Gottes willen. Das ist ziemlich lange her. Meine Kumpel haben das damals nicht verstanden. Aber es war immerhin hier an der Uni.«

    »Und warum studiert man eigentlich so was Komisches. Das hast Du mir eigentlich noch nie so richtig erzählt.«

    »Tja, warum habe ich Philosophie studiert? Jetzt willst Du meine Lebensgeschichte hören?

    Also gut. Eigentlich sollte ich ein erfolgreicher Manager werden wie mein Vater. Der Druck war unmenschlich. Ich bekam nur Anerkennung, wenn ich Leistungen nach Hause brachte. Er war unerbittlich und meine Mutter hilflos und schwach.

    Und da habe ich halt gestreikt und gelernt mich selber durchs Leben zu schlagen.

    Ich wollte von dem Alten nichts mehr haben und nichts mehr wissen. Und Philosophie war dann das für mich das glatte Gegenteil.

    Aber ich hab im Studium auch die widerlichen Eitelkeiten der Professoren kennengelernt, die mich teilweise angeekelt haben. Ach so, Knete haben die auch nicht so viel.

    Nun ja, dann bin ich halt kein Manager geworden, sondern einer, der sie berät oder jagt. Wenn Du willst eine Art von Edelprostitution.«

    »Du Armer.«

    »Ich musste mich halt entscheiden, womit ich mein Geld verdiene.

    Aber ich kann nicht klagen. Ich lebe glücklich mit Alice, ich meine Lizzie und meiner Tochter Lyssa zusammen, der Job macht eigentlich auch mehr Spaß, als ich dachte, und ich habe gelernt, dass es in diesen Kreisen auch Leute gibt, die ganz vernünftig ticken.

    Philosophie ist jetzt nur noch so ne Art Hobby von mir. Ich entdecke in ihr sogar immer mehr, wie viel sie für die Praxis hergibt. Vielleicht hat sie mir auch Halt im Leben gegeben.«

    »Das hast Du mir noch nie so ehrlich erzählt. Belastet es Dich noch?«

    »Nein! Eigentlich muss ich meinem Vater dankbar sein. Stell Dir mal vor, ich hätte nicht so einen Vater gehabt, dann wäre ich noch ein ganz normaler Manager geworden.

    Du weißt ja, dass meine Eltern vor zwei Jahren mit ihrer Jacht irgendwo in der Nordsee ums Leben gekommen sind. Man hat sie nie gefunden.«

    »Mein Gott, was hast Du Armer alles mitgemacht.«

    «Mein Vater hatte leider nur übersehen, dass ich auch seine Gene habe«, fügte er lachend hinzu.

    »Ich habe ihm verziehen. Ich weiß nicht einmal, ob ich das für ihn oder für mich getan habe. Aber das muss ich in mein Grab mitnehmen. Und dafür habe ich hoffentlich noch etwas Zeit. Was ich bereue, ist, dass ich zu wenig für meine Mutter getan habe. Sie hat sehr unter ihm gelitten. Aber ich fühlte mich im Stich gelassen. Ich hätte ihr helfen müssen. Das war nicht gerecht.« Er schaute Bi an, die ihm nachsichtig Dispens gab.

    Er ließ sich die Sonne auf sein Gesicht scheinen und aalte sich in ihr.

    »Ich weiß, wie dickköpfig Du sein kannst. Warst Du ein Rebell?«

    »Das ist jetzt kein Kompliment. Seh ich aus wie ein Alt-68er?«

    »Sorry, nein. Aber irgendetwas rebellierte doch damals in Dir?«

    Sie blinzelte in die Sonne und kniff ihre Augenlider zusammen. Ihre Unterlider bildeten eine gerade Linie wie mit einem Lineal gezogen.

    »Nein. Da gab’s in Düsseldorf nichts zu rebellieren. Erstens war die Zeit vorbei, und dann sind die Philosophen in Düsseldorf ziemlich unpolitisch und züchten Orchideen. Es gab schon ein paar Highlights; in der Regel war es aber dröge. Ich hab – glaub ich – ich hab mehr geflirtet im Seminar.«

    »Eh. Schön für Dich. Johannes, aber ich glaub Dir kein Wort.«

    »Du bist ja auch eine fantastische Profilerin.«

    »Aber wer bist Du denn eigentlich?«

    Johannes schwieg eine Weile und seine Mimik ließ Bi im Unklaren, um dann fortzufahren:

    »Und warum bist Du zur Polizei gegangen?«

    »Es war viel profaner. Ich wollte in den öffentlichen Dienst. Einen sichereren Arbeitsplatz. Das wollten auch meine Eltern. Nur, ich wollte keinen Bürojob, sondern jeden Tag draußen mit Menschen zu tun haben, ganz direkt. Vielleicht bin ich auch zur Polizei gegangen, weil mein Großvater Soldat war und gegen die Nazis in Deutschland gekämpft hat.

    Und ich hab es nicht bereut. Ich weiß jetzt, die Arbeit ist Motivation genug. Ich bin in einem tollen Team.

    Der Dienst ist aber nicht immer einfach. Du möchtest Menschen helfen, die oftmals unsägliches Leid erfahren haben und kannst denen nur die Genugtuung geben, die Täter hinter Schloss und Riegel gebracht zu haben, was den Opfern aber nicht wirklich weiterhilft.

    Aber manchmal steigen in mir auch Rachegefühle auf. Und davor muss ich mich hüten. Denn sonst würde ich manchmal zu weit gehen.«

    »Als Racheengel habe ich Dich noch nie gesehen.«

    »Besser nicht. Aber sag mal. Hast Du den Professor Reimer gekannt.«

    »Reimer?«, Johannes setzte nach:

    »Wer soll das sein?«

    »Ja, Norbert Reimer, er ist – sorry war – Leiter des Philosophischen Instituts.«

    »Nö. Kenn ich nicht. Das war bestimmt nach meiner Zeit. Ich bin übrigens gleich in der Unibibliothek, um ein paar Bücher für Alice auszuleihen. Da kann ich mich ja auch nach dem Philosophen umschauen.«

    »Gut. Ich muss gehen. Wenn Dir noch was einfällt, kannst Du mich anrufen oder eine WhatsApp schicken.«

    »Mach ich. Geh ruhig los. Ich bin diesmal mit Zahlen dran.«

    »O.k. Mach’s gut Johannes.«

    Sie drückte ihn kurz und beeilte sich auf dem Weg zu ihrem Auto.

    Johannes schaute noch mal schnell auf sein Handy und rief alle Dienste ab. Es gab nichts Wichtiges.

    Er lehnte sich zurück und dachte kurz nach.

    Das Stahlblau des Himmels war irgendwie härter geworden.

    Die Tiefgarage war gesperrt, warum auch immer. Also musste er weiter weg parken.

    Auf dem Weg zum Eingang der Bibliothek sah er auf der anderen Seite die Gebäude der Philosophischen Fakultät, die seit undenklicher Zeit eingerüstet waren, weil die Fassade mit ihren Außenbalkonen ziemlich marode und einsturzgefährdet war, während drum herum neue hochmoderne Gebäude hochgezogen wurden.

    Das musste aber schon vor langer Zeit passiert sein, denn inzwischen machten die Gerüste selbst schon einen maroden und renovierungsbedürftigen Eindruck. Das Oeconomikum war in einem besseren Zustand und mit zahlreichen Überwachungskameras ausgestattet. Das machte ihn schon etwas wehmütig.

    Der Aufzug kam schnell und er fuhr in die dritte Etage.

    Er fand noch ein Platz an einem PC, was zu dieser Zeit äußerst selten war. Per WhatsApp schrieb er seiner Frau eine Mitteilung über die Ereignisse.

    Sie schrieb zurück und teilte ihm mit, dass sie den Professor zwar kannte, aber keine Vorlesungen bei ihm besucht hatte, weil sie sich für seine Themen nicht interessiert hatte.

    Jetzt war er aber doch neugierig geworden und loggte in den elektronischen Bibliothekskatalog ein. Er suchte Seiten des Philosophischen Instituts auf, um mehr über den Toten zu erfahren. Als er auf die Seite der Mitarbeiter des Instituts klickte, ploppte eine Seite auf mit: »Service Temporarily Unavailable.«

    »Schön.«, dachte er. »Wahrscheinlich wegen der Ermittlungen gesperrt.«

    Aber so was machte Johannes neugierig. Widerspenstig suchte er weiter und er war als Personalberater sehr gut im Recherchieren.

    Er gab in der Suchmaske den Namen ‚Reimer, Norbert‘ ein.

    Das System war wie immer ein bisschen langweilig. Doch dann kommt die Antwort: ‚Keine Ergebnisse‘.

    Hat er sich vertippt? Also noch mal. Wieder kommt: keine Ergebnisse.

    »Sehr merkwürdig!«, dachte er.

    Er klappte sein eigenes Tablet mit Tastatur auf und loggte sich ins WLAN ein. In Worldcat.org suchte er wieder nach ‚Reimer, Norbert‘. Er fand eine ganze Reihe von Büchern. Worldcat zeigt die Bücher auch mit den jeweiligen Standorten weltweit an. Die Bücher von Reimer fanden sich rund um die Welt in den Universitätsbibliotheken. Als er dann aber auf den Link zur ULB Düsseldorf als Standort ging, bekam erneut eine Fehlermeldung.

    Er schrieb an Bi eine WhatsApp und schilderte, was er gefunden hatte und fragt sie, ob sie schon ILIAS gecheckt hatte.

    Er ging noch auf die Seiten von XING und Linkedin, um in den Plattformen zu suchen, aber er fand nichts Interessantes auf den ersten Blick.

    Er überlegte, was er tun sollte. Irgendwie machte es ihn ja doch neugierig, und deshalb fuhr er mit dem Fahrstuhl runter und ging zum Infostand der ULB.

    »Ich hab mal eine Frage?«

    »Gerne«, sagte die Frau im InfoCenter.

    »Ich habe ein Buch von Professor Norbert Reimer im Katalog gesucht und bekomme nur ‚keine Ergebnisse‘.«

    »Haben Sie es noch nicht gehört? Professor Reimer ist verstorben.«

    »Ja, aber doch nicht seine Bücher. Sorry, das passt jetzt nicht.«

    »Schon gut! Das haben wir auch schon gemerkt, aber wir haben keine Erklärung dafür. Wenn Sie ein bestimmtes Buch von ihm ausleihen wollen, können sie es nach der Systematik der Bibliothek sicher in den Regalen finden.«

    »Gut, ich probiere es mal aus. Vielen Dank auch.«

    Bevor er wieder in die dritte Etage fuhr, fiel ihm ein, dass er ja noch Bücher für seine Frau ausleihen sollte. Sie hatte ihm die Titel auf einer Liste per Mail zugesandt. Es waren alles Bücher zur Medienethik.

    Er konnte sie problemlos ausleihen. Er packte sie in eine der Stofftaschen, die er in seiner Aktentasche immer dabeihatte.

    Er brauchte jetzt einen Kaffee und ging ins Ex Libris, das für die Tageszeit noch immer voll war, aber dennoch in einer Ecke einen Platz bot. Er öffnete sein Tablet und suchte nach Büchern von Reimer. Er notierte sich noch einige Titel und fuhr noch mal in die 3. Etage, gab seine Tasse zurück und fuhr wieder in die dritte Etage der Bibliothek. Hier fand er auf Anhieb auch zwei Lehrbücher der Philosophie von Reimer, die er zur Ausleihe mitnahm. Sie waren aber nicht ausleihbar.

    Das System streikte. Ziemlich irritiert und sauer ging er zum Infostand.

    »Das kann ich mir auch nicht erklären«, war die freundliche Antwort.

    »Sie können die beiden Bücher ruhig hierlassen.«

    Da er nicht mehr viel Zeit hatte, verließ er die Bibliothek, ohne in die Bücher hineinzuschauen.

    Als er zu seinem Parkplatz ging, war es schon fast dunkel geworden. Der Himmel war eigenartig verfärbt. Rostbraun.

    Er fuhr nach Hause und fand an der Tür zum Wohnzimmer ein Post-it:

    »Lieber Joey,

    bin mit einer Freundin im Kino.

    Es läuft Churchill.

    Soll ein toller Film sein. Super gespielt!

    Hab Dir was kaltgestellt.

    Bis nachher.

    Ich freu mich auf Dich.

    Liebe Grüße Lizzie.«

    Die Lasagne schmeckte auch aus der Mikrowelle perfekt und der Rotwein passte, wie es besser nicht sein konnte. Er genoss es einfach.

    Er holte sich ein zweites Glas Wein aus der Küche und sah, dass sein Smartphone sich mit WhatsApp meldete:

    »Lieber Johannes,

    ich darf Dir nichts Genaues über unsere Ermittlungen mitteilen.

    Aber ILIAS war ein Treffer.

    Alles gelöscht!!!

    Kannst Du morgen um 13:00 zu uns ins Polizeipräsidium kommen?

    Mein Chef will Dich sprechen.

    Herzliche Grüße Bi ☺☺☺.«

    Er schrieb zurück:

    »Liebe Bi,

    Kein Problem.

    Was verschafft mir die Ehre?

    Herzliche Grüße Johannes.«

    »Lass Dich überraschen«, war ihre Antwort.

    Johannes dachte über die Einladung nach. Philosophie war höchstens noch sein Hobby. Das hatte er Bi ja gerade erklärt. Lizzie würde sagen ein, ‚Violon d’Ingres‘ wie die Leidenschaft des französischen Malers Ingres für das Geigenspiel. Aber er war sich klar darüber, Ingres war kein Meister an der Geige und er nicht ein Meister der Philosophie.

    Aber Jungens werden ja nie erwachsen und bleiben ewig Spielkinder. Er amüsierte sich darüber, jetzt noch Räuber und Gendarm zu spielen. Er war sich aber darüber im Klaren, dass er wegen Bi die Einladung schon sehr ernst nehmen musste und sein Bestes tun musste.

    Er konnte ja nicht ahnen, gegen wen er noch spielen würde.

    Er notierte sich den Termin und schaltete den Fernseher an und wartet auf Lizzie …

    Es lief Terminator III. Aber darauf hatte er keine Lust und zappte zum WDR, um vielleicht doch noch die Nachrichten mitzubekommen. Aber die waren schon vorbei. Er versuchte es mit dem Ersten. Es liefen die Tagesthemen mit Ingo Zamperoni. Nach den Weltnachrichten kam auch ein Bericht über den Tod des Düsseldorfer Professors.

    Es wurde kurz die Pressekonferenz in Düsseldorf gezeigt, in der auch Bi auftrat. Die Informationen waren spärlich und Bi sagte nur, dass die Ermittlungen angelaufen waren und aus ermittlungstaktischen Gründen keine weiteren Hinweise gegeben werden konnten.

    In der Diele ging die Tür auf und Alice kam heim.

    »Hallo Lizzie, wie war der Film?«

    »Ich fand ihn gut. Der Churchill war ja schon eine interessante Persönlichkeit.«

    »Kannst Du Dich noch an unsere Reise nach Cornwall erinnern und die Besichtigung von Chartwell in der Nähe von Kent erinnern.«

    »Ja, das war beeindruckend. Der Geist in diesem Haus zeigt, dass es gut war, dass er Hitler besiegt hat. Wie war es bei Dir?«

    »Ich habe mich mit Bi im Weise getroffen. Und weißt Du, was passiert ist? In der Uni wurde ein Philosophieprofessor tot aufgefunden.«

    »Wieso das denn?«

    »Ja das weiß man nicht. Man glaubt nur, dass er an irgendeinem Gift gestorben ist. Ob das ein Selbstmord oder Mord war, ist noch völlig unklar und ein Rätsel für die Polizei. Kanntest Du den?«

    »Wen?«

    »Sorry. Reimer. Ich kann mich an den nicht erinnern.«

    »Ja, ich kannte den. Ich fand aber seine Themen nicht so interessant.«

    »Deine Bücher habe ich Dir ins Arbeitszimmer gelegt.«

    »Danke! Aber was sagt denn Bi dazu?«

    »Erst einmal nix. Das darf Sie auch nicht. Aber sie hat mich aus irgendeinem Grund morgen ins Polizeipräsidium gebeten.«

    »Dich? Hast Du ne Ahnung warum?«

    »Eigentlich nicht.«

    »Hast Du was gegessen?«

    »Ja. Etwas von der leckeren Lasagne. Aber ein bisschen Hunger hab ich noch. Du auch.«

    »Ja.«

    Er ging in die Küche und kurz nach dem Piepen der Mikrowelle kam er mit einem Tablett mit zwei Tellern Lasagne und zwei Gläsern Rotwein in Wohnzimmer zurück.

    »Guten Appetit!«

    »Danke, lass uns anstoßen. Es war ein langer Tag.«

    »Was denkst Du den über den Vorfall?«

    »Na ja, Philosophen und Gift, das kommt selten vor.«

    »Also erinnert das Ganze an Sokrates?

    Und jetzt zum Wohl!«

    »Was aber merkwürdig ist, ist, dass irgendjemand alle Daten in der Uni gelöscht hat, die was mit dem Professor zu tun haben. Auf den Seiten des Instituts, in der Bibliothek, in ILIAS.«

    »Was ist ILIAS?«

    »Das ist eine Lernplattform, auf der man Lehrmaterialien hochladen kann und den Studierenden seiner Vorlesungen Mails schreiben kann, sofern sie sich angemeldet haben.«

    »Alles gelöscht? Wie geht das denn?«

    »Gute Frage. Tja, wenn ich das wüsste. Aber das wird die Kripo ja rauskriegen.«

    »Und was sagt Bi?«

    »Ich sagte ja. Sie hat mich für morgen um 13:00 ins Präsidium eingeladen. Ich weiß aber noch nicht ganz warum.«

    »O.k. Lass uns schlafen gehen. Ich muss morgen früh raus.«

    Der Zeitplan von Johannes war heute ziemlich eng. Er hatte ein paar Termine bei TARGET. Das war die Personalberatungsfirma, für die er als Senior Consultant arbeitete. Es fiel ihm ein, dass er wegen der Geschichte gestern ganz vergessen hatte, nach Büchern zum Thema Profiling zu suchen.

    Er machte sich auf den Weg zu seinem ersten Termin mit einem Bewerber für eine Stelle als Leiter Produktmanagement. Er hatte heute insgesamt sechs Bewerber eingeladen. Er wollte ein bisschen früher da sein, um mit seiner Mitarbeiterin noch einmal die Zeiten abzuklären. Außerdem sollte sie vermeiden, dass sich die Bewerber begegneten. Aber das war Routine.

    Mit einem wollte er eigentlich mittags essen gehen, um nicht den ganzen Tag zu hungern. Er bat sein Büro, den Termin auf nachmittags zu verschieben und den Tisch zu stornieren.

    Wenigstens hatte er noch Zeit für eine kurze Kaffeepause, bevor er sich zu dem Termin mit Bi im Präsidium zu machen.

    »Guten Morgen liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich habe Sie hierhergebeten, damit wir – wie üblich – eine Mordkommission anlässlich des Todes von Professor Norbert Reimer bilden. Ich werde die Leitung übernehmen. Der Fall ist ziemlich ungewöhnlich. So etwas hatten wir – glaube ich – hier noch nie gehabt.«

    Im Konferenzraum des Präsidiums zeigte die Wanduhr exakt 11 Uhr an. Das ganze Team hatte sich erwartungsvoll versammelt.

    Nach dieser Begrüßung ging Hauptkommissar Schumann zu seinem Notebook und rief eine PowerPoint-Präsentation auf.

    Auf der Titelseite erschien der Name der Mordkommission. Er hatte sie ‚Sokrates‘ genannt, was nicht ohne Schmunzeln vor der Gruppe im Raum quittiert

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