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Sommersprossen auf dem Asphalt
Sommersprossen auf dem Asphalt
Sommersprossen auf dem Asphalt
eBook143 Seiten1 Stunde

Sommersprossen auf dem Asphalt

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Über dieses E-Book

Schwerer Regen hämmerte auf das Blechdach und ließ den Anbau mit seinen Wänden wie eine Musikanlage vibrieren. Durchs geöffnete Fenster blies ein feuchter Wind ins Zimmer, blähte die Gardinen auf und ließ ein paar lose Blätter vom Schreibtisch direkt vor Robins nackte Füße schweben. Lovesong for stand auf einem der Zettel. Es hätte ein Anfang sein sollen, vielleicht der Titel eines neuen Songs. Aber nach dem Wort for hatten sich seine Finger verkrampft und ihm war nichts weiter eingefallen.

"Sommersprossen auf dem Asphalt" wurde mit dem österreichischen MIRA–LOBE–Stipendium ausgezeichnet.
SpracheDeutsch
HerausgeberARAVAIPA
Erscheinungsdatum7. Nov. 2016
ISBN9783038642053
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    Buchvorschau

    Sommersprossen auf dem Asphalt - Hubert Flattinger

    Foto

    1. Die fehlende Saite

    „Keine Chance, Daryl. So funktioniert die Sache nicht." Robin ließ die Schultern hängen und stellte die Gitarre zur Seite. Ihn fröstelte.

    „Du gibst einfach auf?, hörte er seinen Freund sagen. „Bloß weil eine Saite fehlt?

    „Es ist nicht irgendeine Saite, Daryl. Es ist die G-Saite. Ohne sie klingt alles nur nach Schrott."

    „Komm mir nicht mit irgendwelchen Ausreden, Mann. Was ist mit dem Rest?"

    Robin zog eine Augenbraue hoch. „Welcher Rest? Was meinst du?"

    „Ich meine, es sind schließlich noch andere Saiten an der Gitarre, Robin! Müsste genügen, um etwas frischen Wind in deine Bude zu zaubern. – Scheiß auf das G! Rock’n’Roll!"

    Robin verzog die Lippen zu einem müden Lächeln. Sein Kumpel ging ihm allmählich auf die Nerven. „Was willst du, Daryl? Immerhin habe ich es versucht. Zum ersten Mal seit …" Robin stockte. Ihm war, als würde eine Tür aufgehen, wenn er weitersprach. Damals war es die Tür zum Klassenzimmer gewesen. Frau Körner, seine Musiklehrerin, hatte sie aufgestoßen. War mit kreidebleichem Gesicht unter dem Türrahmen stehengeblieben. Durchsuchte mit gehetztem Blick den Raum, bis sie Robin entdeckte. Sie wollte ihn beim Namen rufen, aber stattdessen kam ihr nur ein merkwürdiger Seufzer über die Lippen. Sie hätte ohnedies nichts sagen müssen. In dem Moment, als Robin sie sah, ahnte er, dass von nun an nichts mehr so sein würde wie früher. Er spürte, wie ihm von innen etwas tief ins Herz schnitt, und in der gleichen Sekunde riss die Saite an seiner Gitarre.

    Aber dann, als er mit der Körner den dunklen Flur entlang zum Zimmer des Direktors ging, sagte sie es doch. Leise, zögernd: „Robin, es ist etwas Schlimmes geschehen. Deine Eltern …"

    „Was ist mit ihnen?"

    „Dein Großvater und deine Schwester werden es dir sagen. Sie sind im Zimmer des Direktors."

    „Grova und Ronda sind hier?"

    Es schnürte Robin noch immer die Kehle zu, wenn er an jenen Tag dachte, als er erfuhr, dass seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.

    Mehr als sechs Monate waren seither vergangen und die eine Saite hing nach wie vor lose am Gitarrenkopf. Die Körner hatte es ihm nie übel genommen, dass er seit jenem Tag für den Gitarrenunterricht kein Interesse mehr zeigte. Sie forderte ihn nicht einmal auf, eine neue Saite an der Gitarre aufzuziehen. Sie ließ ihn in Ruhe und schenkte ihm – vor ein paar Tagen erst – sogar die Note für das Sommerzeugnis.

    Robin warf in Gedanken die Tür zum Klassenzimmer zu. Er sah zu Daryl auf und sagte: „Rock’n’Roll ist ohnehin nicht mein Ding. Soll ich dir was verraten? Das ist etwas für steinalte Daddys, Daryl. Für Fantasyhelden. Für Zombiejäger und Typen, wie mein Vater einer war!"

    „Ach was, Klugscheißer! Was für’n Sound schwebt dir denn vor? Punk, Metal oder Dark Wave? Vielleicht ein bisschen Hip – ein wenig Hop, oder gar Psychobilly? Selbst wenn Daryl witzig sein wollte, klang das immer, als wäre ihm gerade etwas über die Leber gelaufen. „Na, was ist?

    Blues wäre Robin eingefallen, aber er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Fuhr sich erst mal durchs Haar, rieb sich mit einem Finger die Nasenspitze, bis er so weit war, seine Gedanken vor Daryl auszubreiten.

    „Also nimm’s mir nicht übel, aber ich denke, ich sollte endlich damit aufhören, mich mit dir zu unterhalten. Das ist doch vollkommen krank. Irgendwann muss Schluss sein. So wie mit der Gitarre. Es hat keinen Sinn, die alten Songs darauf zu spielen. Oder siehst du hier im Zimmer vielleicht irgendwo ein Lagerfeuer brennen? Wir schreiben das Zeitalter der Zentralheizung. Und das hat was für sich. Ich werde jetzt meine Klamotten darauf ausbreiten und mich für den Rest der Nacht ins Bett verziehen. Was hältst du von der Idee?"

    „Klingt nach Niederlage", hörte er Daryl knurren.

    „Dann hast du es ja endlich begriffen", sagte Robin, stand auf und zog die Jogginghose aus.

    Er stellte sich in der Unterhose vor den Spiegel. Suchte an sich nach Muskeln, wie Daryl sie besaß, während er ihm beiläufig erklärte: „Weißt du, das Leben ist voller Niederlagen, Daryl. Niederlage hier, Niederlage dort. Da genügt schon ein Blick in den Spiegel. Jetzt mal realistisch betrachtet! Oder sieh dir mein Bett an: Schon seit einer halben Ewigkeit spießt mir der Lattenrost nachts seine gebrochenen Rippen in die Seiten. Aber beklage ich mich deswegen? Nein, niemals! Ich lebe mit den Niederlagen. Kommt her, Niederlagen, bei mir habt ihr nichts zu befürchten. Ich nehm euch mit unter die Decke. Dann reiben wir die Füße aneinander und kuscheln uns zusammen in den Schlaf. Machst du bitte das Licht aus, wenn du gehst, Daryl?"

    Diesmal antwortete Daryl nicht. Wie sollte er auch? In Wahrheit hatte der Pappkerl noch nie ein Wort von sich gegeben. Robin lieh der lebensgroßen Figur aus The Walking Dead öfter seine Stimme, wenn ihm die Stille zu still vorkam. Früher hatte es Spaß gemacht, mit Daryl zu plaudern, aber in letzter Zeit fehlte diesen Gesprächen der Pfeffer, fand Robin. Und eigentlich hätte er sich lieber mit Maggie als mit dem arroganten Armbrustträger auf ein Schwätzchen eingelassen.

    „Was ist nun?, fragte Robin und reckte sein Kinn über die Bettdecke. „Entweder du machst das Licht aus, oder du fliegst raus!

    Daryl stand wie angefroren neben dem Heizkörper. An manchen Stellen wellte sich der Aufdruck auf dem Karton. Robin federte sich von der Matratze hoch, trippelte ans andere Ende des Zimmers, drückte den Lichtschalter, machte drei Sätze und warf sich wieder unter die Decke.

    „Ich bin eindeutig zu alt für solche Späße!, ermahnte er sich. „Ab morgen wird kein Wort mehr mit irgendwelchen Papphelden gesprochen! Bin doch nicht verrückt. Was meinst du, Daryl? Bin ich vielleicht verrückt?

    Robin fiel nichts ein, was er Daryl darauf antworten lassen könnte.

    Allmählich breitete sich Schweigen im Zimmer aus. Eine Zeitlang versuchte Robin an Maggie zu denken. Versuchte sich ihr Gesicht, dann ihren Körper vorzustellen, aber es ging nicht. Maggies heiße Kurven ließen sich heute nicht greifen und blieben verschwommen. In den Streng-geheim-Zonen rührte sich nichts. Es war zu lange her, dass er Maggie in The Walking Dead Beachtung geschenkt hatte. Irgendwann war sein Interesse an der Serie verpufft. Dabei drehten sie noch immer neue Staffeln. Vermutlich bis in alle Ewigkeit. Im Geiste sah Robin sich als alten Mann – beinahe selbst schon zu einem Zombie verkommen – vor dem Fernseher sitzen. Der schleichende Tod. Die vollkommene Niederlage.

    Robin schob das Bild beiseite und ließ stattdessen wieder die Körner in sein Gedächtnis. Er sah sie jetzt wieder vor sich. Wie sie ihn am letzten Freitag angelächelt und ihm schöne Ferien gewünscht hatte. Für ihr Alter – um die vierzig mochte sie sicher schon sein – sah sie eigentlich ganz gut aus. Als Robin ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte ihn vor allem ihr großer Busen beeindruckt. Und es brauchte eine gewisse Zeit, bis er ihrem Wesen auch Kopf, Arme, Beine und den ganzen Rest zugestand. Vor allem aber mochte Robin ihre Stimme. Wenn die Körner ihren Mund aufmachte, klang das, als wäre sie selbst ein Musikinstrument. Immer gut gestimmt und auf eine Art vornehm wie die Töne einer Harfe.

    Die Körner. – Eine fröhliche Frau, deren Lachen sogar in den Pausen aus dem Lehrerzimmer bis in den Gang hinaus schallte. Eine Frau, die so leicht nichts aus der Ruhe brachte, es sei denn … Robin erinnerte sich, wie sie an jenem schrecklichen Tag, als er vom Tod seiner Eltern erfuhr, seine Hand gehalten hatte. Eiskalt fühlten sich ihre Finger an und trotzdem hatte er sie nicht loslassen wollen. Im Zimmer des Direktors stand die Zeit still. Ronda hatte ihren Arm um Grova gelegt, der wie ein Schlosshund vor sich hinheulte, während der Direktor stumm zum Fenster hinausblickte. Ein Unfall. So etwas hört man jeden Tag im Radio. Doch diesmal schlug die Bombe im eigenen Haus ein. Robin konnte sich nicht vorstellen, dass er seine Eltern nie mehr wiedersehen würde. Es ging einfach nicht. Und die Körner? Irgendwann müsste er ihre Hand loslassen. Auch das hatte er sich an jenem Tag nicht vorstellen wollen.

    Aber es gab auch noch eine andere Körner. Eine Frau, von deren Leben außerhalb der Schule kaum jemand etwas wusste. Verließ sie das Schulgebäude, verschwand damit auch das Lächeln in ihrem Gesicht. Ernst, beinahe traurig wirkte dann die Person, die unter den im Sommerwind wiegenden Ästen der Kastanien duckte, als würde es in den nächsten Minuten zu regnen beginnen. Fast schien es Robin, als würde sich die Körner außerhalb der Schule vollkommen in Luft auflösen. Dabei wohnte sie gleich nebenan. In unmittelbarer Nachbarschaft zu der Avanti-Tankstelle und dem dazugehörigen flachen Anbau, wo Robin wohnte. Vom Fenster seines Zimmers aus konnte er auf den Dschungel ihres mit Maschendraht umzäunten Gartens blicken. Das pure Dickicht. Selbst in den Wintertagen ließ sich das alte Steinhäuschen, in dem sie wohnte, durch die dicht ineinander verschlungenen Äste der Büsche und Bäume kaum erspähen. Bloß die grauen Rauchschwaden, die vom Kamin des Häuschens zum Himmel hochstiegen, verrieten, dass hier jemand zu Hause war.

    Und dann war da noch

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