Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Mirabelle: Roman
Mirabelle: Roman
Mirabelle: Roman
eBook712 Seiten10 Stunden

Mirabelle: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Was ist, wenn man sich durch einen einzigen Anruf einer Frau die Pläne für den Sommer durcheinanderbringen lässt? Torben Kühne, Protagonist dieses Romans, Student an der hiesigen Musikhochschule, kurz vor dem Diplom, lässt sich breitschlagen und sitzt wochenlang als Aushilfe an einem PC, muss den Straßenlärm ertragen und manchmal auch eine Abgaswolke, die durch die Tür in den Laden zieht. An der gegenüberliegenden Bushaltestelle lernt er Chantal kennen. Chantal versteht es, Torben Kühne zu dirigieren. Er wehrt sich, beendet die Beziehung, die ohnehin keine war und versucht es mit Mirabelle. Mirabelle, die Wunderbare. Es passieren Dinge, womit Torben Kühne nicht gerechnet hat, sein Leben als Student gerät durcheinander, dabei will er sich eigentlich auf die Musik konzentrieren.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. Dez. 2016
ISBN9783743131200
Mirabelle: Roman
Autor

Sören Schnabel

Sören Schnabel, geboren 1982 in Buxtehude, Niedersachsen, in Dithmarschen mit zwei Geschwistern aufgewachsen, tritt seit seinem elften Lebensjahr mit der Trompete als Solist auf. Er hat Preise in Regional-, Landes- und Bundeswettbewerben Jugend Musiziert errungen und das Nachschlagewerk „Das große Handbuch der Trompete, Bd 2“ (Friedel Keim, Schott Verlag) widmet ihm ein Kapitel. Er studierte Trompete an der Musikhochschule in Hamburg und erwarb sein Diplom mit Sehr Gut in 2013. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr veröffentlicht er eigene Popmusik unter seinem eigenen Label MVrecords. Seine Songs gibt es auf allen bekannten Downloadportalen oder als CDs auf seinen Konzerten. Die Medien, u.a. die Bild und RTL, berichteten über ihn. Die Klassik kommt nicht zu kurz! Sören Schnabel tritt als Trompetensolist auf und überzeugt durch seinen Ton und große Ausdruckskraft.

Ähnlich wie Mirabelle

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Mirabelle

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Mirabelle - Sören Schnabel

    Mirabelle – weibl. Vorname – die Wunderbare (lat.)

    Mirabelle – eine süße Steinfrucht, Familie: Rosengewächse, Gattung: Prunus, Art: Pflaume

    Schlafen noch am Morgen

    Frühstück erst zum Fünf-Uhr-Tee

    Mein Spiegel liegt in Scherben

    Damit ich mich nicht selber seh‘

    (Sören Schnabel)

    Inhaltsverzeichnis

    Buch I

    Mein Handy klingelte – Herr Peters – Anselm – meine Arbeit bei Hofers – Fred – Highheels – Chantal und Mirabelle – keine Lust auf Schlossprinzessin?

    Buch II

    Aus vergangenen Zeiten – alle Werbung umsonst? – mein Wochenende im Schlosshotel – Kamera läuft mit Manuel – ein Porsche – wo bleiben die Filmaufnahmen? – Putzfrau hat Urlaub – Alfs Tod – Burgeressen und Rattenfraß – die Schnorrerin – Ach, so ist das! – Pornobilder und Straßenschlacht – Ein Dichter fällt nicht vom Himmel

    Buch III

    Mitbringsel aus Afrika – Bobby Car und Laufenlernen – Umzug ins Riesenhaus – Kultur, Bourgeoisie und Politik – Schule und Intrigen – Umzug ins Armenviertel – Zwille im Kastanienbaum – Fangenspielen mit Opa Meinken – Timo und Tobias – Erik Hinnerksen – Wer ist Artur? – ein Einbrecher, Rena, Stöckchenspiele und der Mörderhund – In der Falle – der Kackhaufen – Musik und bekloppte Schule – Kleingeister und Hagebutten

    Buch IV

    Leben in der Stadt – ohne Freundin geht es nicht – Richards Angebot – meine Schneekönigin – Festessen mit Musik – Matschkartoffel und Paparazzo – der Libertäre und die Schnitzeljagd – Hubert Lanske ist auch da – Würstchen mit Wodka – Austern und Champagner

    Buch V

    Caesar in Pension – Tante Iris – Sukkade im Kuchen und Gruselkeller – Versteckspiel im Obstgarten – wo ist Caesar? – Mirabellenlikör und Schrumpfköpfe – Niklas und Abstrippeln – hier findet keine Hochzeit statt – das Zimmermädchen – die Champagnerleiche – Picknick auf dem Lande – Halluzinationen, Windmühlen und Kohlköpfe

    Buch VI

    Irre in der Pension – Kamera läuft! – Filmcrew, Pizza und Verfolgungsjagd – auf den Balearen – wer ist hier die Shopping Queen? – Rückflug im Klo – eine Oper besucht man nicht alleine

    Buch VII

    Das Leben ist ein Fluss und alles ändert sich – Tee mit Honig verführt – Telefonitis und Besäufnis – Schatz, was ist los? – verschwunden – Probe mit Hindernis – an der Tanke – Videodreh und Automatenspiel – Frida aus der Bruchbude – die Überraschung und Carlotta – hungrige Mädels – Werners Erzählungen

    Buch VIII

    Stress ohne Ende – allein mit ungebetener Gästin – Pizza und Mirabellenschnaps – die Flucht und das Unwetter – Kopfschmerzen und Heimkehr – Erdbeermarmelade sprenkelt rot – Krankenhaus und Albtraum – Wo bin ich? – Tante Iris ist spendabel – Torelli im Schlossgarten

    Nachwort

    Personen

    Über das Buch und den Autor

    Buch I

    Mein Handy klingelte – Herr Peters – Anselm – meine Arbeit bei Hofers – Fred – Highheels – Chantal und Mirabelle, – keine Lust auf Schlossprinzessin?

    1. Mein Handy klingelte. „Kennst mich noch?", säuselte eine Stimme. Ich überlegte. An die eindeutigen Mails, die nie im Junkmail-Ordner landen, sondern in meinem privaten Mailaccount, hatte ich mich gewöhnt. Dass diese, mir unbekannten, Damen des horizontalen Gewerbes jetzt sogar schon so dreist waren und mich anriefen, fand ich unverschämt. Oder war es eine der Frauen, die ich auf Facebook blockiert hatte?

    „Hier ist Rita", flötete die einschmeichelnde Stimme. Ich war nicht verabredet. Welche Rita? Ich zögerte einen Moment. Ich hatte wenig Lust, zu telefonieren und schon gar nicht mit einer Dame des Gewerbes und wollte das Telefonat am liebsten wegdrücken, besann mich aber anders. Da plapperte es munter ins Telefon,

    „Wir hatten mal zusammen eine Mugge."

    Ich wusste nicht, wer sie war und sagte knapp,

    „Ich bin beschäftigt."

    Es begann ein Redefluss, der mich ertränkte.

    „Du hast doch damals die erste Trompete gespielt, weißt du das nicht mehr? Und der Rolf spielte die zweite Stimme. Und dann flogen seine Noten vom Ständer. Alle haben gelacht. Wir mussten den Satz noch einmal anfangen. Wie lange ist das her? Drei Jahre?"

    Ich verdrehte die Augen und dachte, ach, die Rita! Das kann sie ja gleich sagen! Ich weiß es noch wie gestern. Sie hatte bei der Aufführung ein ärmelloses Kleid an, ihre Haare waren offen und im ersten Satz kämpfte sie mit einer Strähne, die ihr ins Gesicht fiel. Es lag daran, weil sie ihren Kopf nicht ruhig hielt, sondern ihn mit der Musik bewegte.

    War die Musik energisch, fiel ihr die Strähne wieder ins Gesicht und dann wischte sie schnell mit ihrer Bogenhand die Strähne beiseite. Da sie die Konzertmeisterin war und in der ersten Reihe außen saß, hatte sie mehr Platz. Mitten in einer Reihe neben den anderen Geigerinnen wäre sie mit ihrem Bogen mit den Nachbarinnen ins Gehege gekommen. In der Minipause zum zweiten Satz nahm sie schnell ein Haarband und versuchte, ihre Mähne zu bändigen. Ich sah die Situation noch vor mir. Der Dirigent wartete mit dem Einsatz und blickte genervt in Ritas Richtung. Mit einem leicht erhobenen Taktstock wartete er darauf, dass sie sich bereitmachte.

    Rita merkte nicht, dass ich keinen Bock hatte, zu telefonieren. Vielleicht hatte sie einen Grund, mich anzurufen. Ich wurde hellhörig. Ich wollte gleich zur Sache kommen, denn das könnte der einzige Anlass ihres Anrufes gewesen sein.

    „Mensch, Rita! Klar, ich erinnere mich. Könnte hinkommen. Ja, das war vor drei Jahren. Hast du einen Aufritt für mich?"

    „Nee, ganz so schlimm wird es nicht", lachte sie.

    Unverschämtheit, weshalb belästigt sie mich dann? Ich war entrüstet.

    „Also, hör mal, einen besseren Trompeter kannst du gar nicht kriegen."

    „Nein, sagte sie schnell, „so war das nicht gemeint. Sie machte eine Pause und druckste am Telefon herum. „Es, … es handelt sich hier um etwas ganz Anderes."

    Rita Lüdemann, die Nervensäge! Rita, die schon lange zu einer Ökotante mutiert war und mit Ökosandalen auf dem Fahrrad bei Rot über die Ampel fuhr. Sie hatte sich bisher mit jedem Dirigenten durch die Betten gepoppt. Wollte sie mich wieder für Greenpeace anwerben? Dass ich gegen die Umweltzerstörung bin, steht außer Frage. Außerdem überfahre ich keine Katzen und keine Igel. Jede Fliege und jeden Falter fange ich im Haus ein, dafür mache ich sogar das Licht aus und pirsche mich leise ans Krabbeltier und an die surrenden Flugobjekte heran. Ich halte ein Marmeladenglas über die aufgeregten Viecher, bevor sie wieder aufflattern können, schiebe ein Blatt Papier zwecks Abdeckung des Glases dazwischen und trage die Insekten unversehrt zurück ins Freie. Aber ich kann unmöglich jedem Verein beitreten.

    Und, was bei Rita lästig ist, sie will polarisieren und damit Aufmerksamkeit erregen. Jede Diskussion mit ihr ist anstrengend und das wollte ich vermeiden, denn es ist verplemperte Zeit. Sie gehört zu den „Guten", die einen ständig belehren wollen. Mit Kritik hält sie sich nie zurück. Das geht mir auf den Geist.

    Rita ist eine Bekannte eines Bekannten einer Bekannten. Aushilfsgeigerin in diversen Kammerorchestern. Sie kannte mich von einer Aufführung als Solotrompeter. Sie rief mich damals eine Woche nach der Aufführung an und sülzte mich voll. Als sie anfing, mit mir über Politik reden zu wollen, musste ich ihr Einhalt gebieten.

    „Du, Rita, Politik interessiert mich nicht." Jeder kann mich auf diesem Gebiet schlagen. Rita gehört zu den politisch Korrekten und will es immer wieder unter Beweis stellen.

    Ich nahm an, sie hatte Langeweile und wollte mich wieder bekehren. Dabei habe ich als Musiker keine politischen Ambitionen. Ich will einfach nur Musik machen. Der andere Scheiß interessiert mich nicht. Musik überzeugt aus sich heraus und bedarf keiner Erklärung. Ich nahm mir vor, unter irgendeinem Grund das Telefonat zu beenden. Es gelang mir vor drei Jahren schon nicht.

    „Also, nun sag schon, was hast du auf dem Herzen?", drängte ich sie. Ihr Anruf nervte mich kolossal, weil ich gerade Need for Speed Rivals spielte und sehen wollte, wie weit ich kam. Wegen Ritas Störung knallte ich mit meinem Ford Shelby GT 500 in eine Leitplanke. Game Over. Egal. Jetzt war Rita am anderen Ende.

    „Sag mal, was ist bei dir so laut?"

    „Ach nichts, antworte ich und stellte den Ton des PCs leiser. „Nur zu, was gibt es denn?

    „Na ja, also, ich brauche eine Vertretung", sagte sie.

    „Vertretung?, fragte ich ungläubig. „Geige kann ich nicht spielen.

    War Rita irgendetwas zu Kopf gestiegen? War ja auch irgendwie schwülwarm draußen.

    „Ich verstehe nicht, was du willst. Vielleicht kenne ich jemanden, der dir weiterhelfen könnte", sagte ich ungeduldig.

    „Das Problem ist, sagen wir mal so … ich will nach Indien", erzählte Rita.

    Wollte sie mich nach Indien mitnehmen und suchte sie einen Mitreisenden, der die Kosten mit ihr teilte? Und eventuell noch das Bett? Ich hatte nichts gegen Rita, sie roch nie nach Schweiß während der Proben, aber das ging mir echt zu weit. Damit wäre sie bei mir ohnehin an der falschen Adresse, wenn ich an all die Dirigenten dachte, mit denen sie es getrieben hatte, wurde mir anders. Ich will es gar nicht wissen, weil mich die Vorstellung daran anwidert.

    „Das ist doch kein Problem, meinte ich und hoffte, sie endlich abwimmeln zu können, „Fahr hin. Machen andere auch. Wird schon klappen. Mach dir nicht so viele Gedanken. Ich war zwar noch nie dort, bisher sind alle zurückgekommen, wenigstens die, die ich kenne.

    So schnell ließ Rita sich nicht abwimmeln. Ich hätte es mir denken können.

    „Es ist kompliziert", entgegnete sie.

    „Was soll daran kompliziert sein? Du fährst hin, siehst dir die Gegend an und kommst zurück", sagte ich.

    Endlich kam sie damit heraus, was ihr Problem war. Das hätte sie mir ebenso gut mailen können, wenn ich ehrlich bin. Sie wollte den ganzen Sommer in Indien verbringen, hatte ihren Jahresurlaub durch Inanspruchnahme ihres Urlaubs im Frühling verbraucht. Was ich mit ihren blöden Reiseproblemen zu tun haben sollte, wurde mir nicht klar. Vielleicht wollte sie sich ausquatschen.

    „Ach, so, ich verstehe. Nimm doch unbezahlten Urlaub."

    „So einfach ist das nicht. Die Bedingung meines Chefs ist, dass ich ihm für die Zeit meiner Abwesenheit eine Aushilfe stellen muss", stöhnte Rita.

    Ich wurde etwas mürrisch.

    „Und was habe ich damit zu tun?"

    Sie klagte mir ihr Leid. Ihr Problem war, dass sie die Reise gebucht und bezahlt hatte. Alle, die sie vorher daraufhin angesprochen hatte, wollten nicht oder hatten keine Zeit. Als endlich zwei zugesagt hatten, die Buchung gerade perfekt war und sie die Reise bezahlt hatte, meldeten diese sich und sagten ab. Andere, die sie darum ersucht hatte, kamen nicht infrage, weil sie selber für längere Zeit irgendwohin reisten. Immer diese Leute, die irgendwohin müssen, anstatt ihren Urlaub gemütlich auf Balkonien zu verbringen.

    „Ich verstehe. Ich weiß nicht, ob ich Zeit habe. Ich denke nicht. Ich bin dann in den Bergen zu einem Orchesterworkshop, wie in jedem Sommer, diesmal in Österreich. Ich kann da nicht absagen. Die rechnen fest mit mir. Ich glaube, ich kann dir nicht helfen. Ich denke, eher nicht", gab ich ihr zu verstehen und hoffte, das Telefonat wäre beendet.

    Rita ließ nicht locker.

    „Wenn ich niemanden mehr finde, dann ist das Geld für mich komplett verloren", jammerte sie.

    Ich verstand.

    „Soll ich dein Notnagel sein, oder wie?"

    Das hätte ich sie lieber nicht fragen sollen. Damit hatte ich ihr den kleinen Finger gereicht, aber das hatte ich mit meiner Bemerkung nicht beabsichtigt.

    „Also, das wäre sehr lieb von dir", meinte sie erleichtert.

    „Halt Stopp, ich habe gar nicht zugesagt", meinte ich empört.

    Daran störte sich Rita nicht, sie preschte weiter vor,

    „Als Aushilfe würdest du sehr gut verdienen, erklärte sie mir. „Mein Chef lässt sich nicht lumpen. Bis zum Herbst läppert sich da was zusammen und du hast sowieso Semesterferien. Überleg dir das.

    Mit diesem Argument wollte sie mich überzeugen. Nein, ich hätte gleich auflegen sollen. Mir fiel ein, dass Rita vor ihrem Musikstudium eine Ausbildung zur Werbekauffrau gemacht hatte. Gegen so eine kommt niemand an. Sie redete und redete und jedes meiner Argumente entkräftete sie. Nach langem Hin und Her ließ ich mich von Rita breitschlagen. Ich gab es auf. Ich wollte meine Ruhe haben.

    „Ja. Okay, abgemacht", sagte ich. Ich war erschöpft von Ritas Redefluss und Hartnäckigkeit. Wie kann ein Mensch so nervig sein?

    „Du bist ein Schatz, sagte sie, „aber ich muss mich auf dich verlassen können.

    Dann bekam ich von ihr noch eine Schnelleinführung in meinen neuen Job,

    „Vorneweg, ich denke, das dürfte dir klar sein, kein Facebook während der Arbeitszeit! Wenn du Noten lesen kannst, was ich mal stark vermute, und du zu Hause einen PC hast, was ich ebenfalls vermute, äh, Scherz, dann wird dir die Arbeit nicht schwerfallen! Alles andere erklärt dir mein Chef, Herr Peters. Er ist wahnsinnig nett. Ein toller Chef! Ach, danke, dass du kurzfristig einspringen kannst. Lass dich umarmen. Alles Gute, viel Spaß bei der Arbeit und Tschüss."

    Ich hielt einen Augenblick inne, legte mein Handy auf meinen Schreibtisch, dann stellte ich den PC ab. Das Autorennspiel war ohnehin gähnend langweilig. Die Grafiken dieser Spiele wurden besser, doch alles andere blieb gleich. Ich nahm mir vor, das Spiel auf Amazon zu verkaufen. Noch konnte ich einen guten Preis erzielen. Ein Best Price würde mir reichen.

    Rita war zwar nett und doch strapazierend gewesen. Wer weiß, wofür es gut war, dass ich sie nicht abgewürgt hatte. Ich stellte fest, dass ich vergessen hatte, zu fragen, ob ich beim Geschäft des Herrn Peters einen Parkplatz haben würde und simste meine Frage Rita hinterher. Prompt kam ihre Antwort auf mein Handy,

    Hofers, Holstmannstraße 134. Durchfahrt rechts neben dem Laden. Parkplatz auf dem Hof. Arbeitsbeginn um 9 Uhr.

    Okay, ha, ha, alles klar, schrieb ich ihr zurück.

    Wenn ich Rita aus der Patsche helfe, würde sie mich vielleicht woanders als Trompeter weiterempfehlen. Muggen kommen manchmal aus heiterem Himmel. Selbst, wenn dies keine Mugge war, so konnte ich mir im Sommer ein gutes Sümmchen verdienen und zusammen mit dem Unterrichtshonorar meiner Schüler würde sogar einiges auf meinem Konto zusammenkommen. Ich trank einen Schluck Capri Sonne. Capri Sonne hatte viel Zucker, aber schmeckte mir trotzdem. Und nach diesem Telefonat mit Rita brauchte ich den Zucker. Ich schaute zur Uhr und überlegte, wie ich es mit Anselm lösen könnte. Ich würde ihm erst die Wahrheit sagen, wenn es so weit ist.

    Zwar hatte ich Rita zugesagt, für sie die Aushilfe zu machen, doch noch fehlte die Zustimmung ihres Chefs, Herrn Peters, dem die Musikalienhandlung Hofer gehörte, und bei dem ich mich gleich heute melden sollte. Rita hatte versprochen, Herrn Peters sofort Bescheid zu geben, dass sie mich als Aushilfe gefunden hatte. Solange die Zusage des Herrn Peters auf wackligen Beinen stand, wollte ich Anselm mit der neuen Situation nicht überfordern.

    2. Eine Stunde nach dem Telefonat mit Rita rief ich Herrn Peters an. Er klang einsilbig. Auch das noch. Hatte sie noch nicht mit ihm gesprochen?

    „So, so, Sie rufen wegen Ritas Vertretung an. Nein, sie hat mir noch nichts von Ihnen erzählt, Herr Kühne. So, so, Sie wollen Ihren Sommer in meinem Geschäft verbringen? Ich kenne Sie doch gar nicht. So, so, Sie sind Student für Trompete an der hiesigen Musikhochschule. Im wievielten Semester studieren Sie, wenn ich fragen darf?"

    Ich antwortete folgsam wie ein kleiner Junge,

    „Ich mache ab Herbst meine Abschlusssemester und bereite mich auf dann auf mein Diplom vor."

    Herr Peters nervte mich mit seiner Frage, ob ich Ahnung am PC hätte. So eine Frage! Na klar! Wieso fragte er das? Alle jungen Leute kennen sich damit aus. Was hatte er eigentlich für Vorstellungen? Um ihn nicht zu verärgern, antwortete ich wie ein braver Junge,

    „Sicher doch, Herr Peters, ich kenne mich ganz gut damit aus." Unser freundliches Telefonat zum Kennenlernen reichte Herrn Peters aber nicht, was ich für übertrieben hielt. Bevor er seine Zusage gab, dass ich Rita vertreten dürfe, sollte ich mich persönlich bei ihm im Geschäft vorstellen. Hätte er meinen Gesichtsausdruck sehen können, hätte er mich ausgeladen, weil ich die ganze Zeit während des Telefonats auf seine merkwürdigen Kommentare und Fragen Grimassen schnitt. Am Dienstag sollte ich um siebzehn Uhr fünfundvierzig vor seinem Geschäft erscheinen. Er würde mich dort in Empfang nehmen.

    „Seien Sie bitte pünktlich. Gewöhnlich schließe ich mein Geschäft um achtzehn Uhr und bin dann nicht mehr anzutreffen."

    „In Ordnung, beeilte ich mich zu sagen, „ich werde pünktlich sein, Herr Peters.

    Am verabredeten Dienstag kurvte ich zweimal um den Block. Die erste Runde drehte ich, weil ich den unscheinbaren Laden übersehen hatte; die zweite Runde, um einen Parkplatz zu ergattern. Den fand ich bei einem entfernten Supermarkt. Die Zeit saß mir im Nacken und ich sprintete zum Laden. Atemlos kam ich dort an. Die Ladentür von Herrn Peters Geschäft war bereits verschlossen. Ich schaute auf mein Handy. Wie das? Es war siebzehn Uhr vierzig; ich war fünf Minuten vor der Zeit! Es konnte nicht sein, dass Herr Peters gegangen war. Ungeduldig ging ich vor dem Laden auf und ab und überlegte, was ich tun sollte. Da entdeckte ich die Tordurchfahrt zum Hof und erinnerte mich an Ritas SMS. Ich blickte in den Durchgang und sah am anderen Ende einen älteren Herrn auftauchen. Er hatte einen flotten Gang und kam direkt auf mich zu. Ich nahm an, dass es Herr Peters war, der Mann hob die Hand und winkte. Er war nicht groß. Die sechzig mag er überschritten haben; ich könnte mich irren und er war jünger. Wenigstens ist er kein Dirigent, dachte ich, und schmunzelte.

    „Herr Kühne? rief er „Kommen Sie! Ich warte hier die ganze Zeit auf dem Hof. Ich dachte, Sie wollten hier parken. Hat das Fräulein Rita Ihnen nichts gesagt?

    Ach, Rita! Nun erinnerte mich Herr Peters daran, dass ich Dussel vergessen hatte, dass ich mir wegen der Parksituation in der Holstmannstraße keine Gedanken machen brauchte, denn er hatte einen großen Innenhof hinter seinem Geschäft. Ich weiß, ich weiß, ich hätte mich nicht abhetzen müssen. In der mit Abgasen geschwängerten Luft dient Joggen nicht gerade der Gesundheit.

    Herrn Peters gegenüber spielte ich den Unwissenden.

    „Rita? Nein, hatte sie mir nicht gesagt." Herr Peters sollte mich nicht für vergesslich halten und an meiner Merkfähigkeit zweifeln. Schnell fügte ich hinzu,

    „Nein, wie praktisch. Danke, Herr Peters. Nächstes Mal fahre ich dann gleich auf den Hof."

    Herr Peters hatte eine gewöhnungsbedürftige Frisur. Auf dem Kopf trug er seine grauen Haare, sagen wir mal, nicht länger als einen Zentimeter lang. Cool, ein echter Bürstenhaarschnitt! Als er sich umdrehte, um mich auf den Innenhof zu führen, sah ich, dass die Haare auf seinem Hinterkopf lang waren. Herr Peters trug sie als einen geflochtenen Zopf, der mit einer Lederspange zusammengehalten wurde. Sein Jackett war ein Tweed Sakko mit Leder besetzten Ärmelschonern und Lederknöpfen. Darunter trug er ein kariertes Hemd mit einer geblümten Fliege. Mit seiner sandfarbenen Feincordhose und seinen braunen, geflochtenen Lederschuhen sah er speziell aus.

    Der Hit kam, als wir auf dem Hof standen. Herr Peters wies auf ein altes, dunkelgrünes Auto, das vor dem Hintereingang seines Geschäfts parkte.

    „Schauen Sie mal, lud mich er mit einer einladenden Handbewegung ein, „wissen Sie, was ich hier für ein Schmuckstück habe?

    Ich zuckte mit den Schultern. Ob das alte Auto ein Schmuckstück war, konnte ich nicht beurteilen. Derartige Autos waren selten auf den Straßen anzutreffen.

    „Mit diesem Auto nehme ich nächstes Wochenende an unserem BCC Rallye teil", sagte er voller Stolz.

    „Was ist BCC?", fragte ich, um Herrn Peters zu zeigen, dass es bei mir als Oldtimerlaien nicht angebracht war, in Kürzeln zu sprechen.

    „Das heißt British Car Club. Die Bedingung der Mitgliedschaft ist der Besitz eines Oldtimers aus britischer Manufaktur. Meiner hier ist ein TR3", erklärte Herr Peters mit Stolz in seiner Stimme. Und wieder sprach er Chinesisch. Mir machte die Abkürzung TR3 zu schaffen.

    „TR3?"

    „TR3 heißt Triumph, die drei steht für Serie 3. Dieses schöne Stück hier in British Racing Green auf echten Speichenrädern, in schwarzer Lederinnenausstattung mit Speichenlenkrad und Cabrioverdeck aus Leinen, ist aus dem Baujahr 1957 und hat einen Motor mit zwei Litern Hubraum und 100 Pferdestärken", belehrte mich Herr Peters.

    Ich drehte mich kurz zur Seite, weil ich die Luft angehalten hatte, davon dicke Backen bekam und erst einmal die Luft ablassen musste. Wenn ich bei der bevorstehenden Arbeit auch so viele Rätsel zu lösen hätte, würde es heiter werden. Ich war mir in diesem Moment nicht sicher, ob es mit dem Job etwas werden würde. Ich fragte mich, ob ich Lust hätte, hier meinen ganzen Sommer zu verbringen. Bisher hatte ich Anselm noch nicht abgesagt. Herr Peters wirkte zwar nett, wenn er beabsichtigte, die Arbeitszeit dazu zu nutzen, mich wochenlang mit seinem Auto-Tick zu traktieren, glaubte ich in diesem Moment nicht, dass ich bereit war, dies aushalten zu wollen.

    „Sie scheinen von Oldtimern, geschweige von britischen, wenig Ahnung zu haben. Dies hier ist ein Triumph aus England in einem gepflegten Erhaltungszustand. Drei Vorbesitzer, alles dokumentiert. Der erste Besitzer war ein Earl."

    „Ein was?"

    „Ein Earl, wiederholte Herr Peters, und sah mich verständnislos an, „ein englischer Graf!

    Bevor er mir noch die Lebensgeschichten der Vorbesitzer unterbreiten konnte, beeilte ich mich zu fragen, wie es mit meiner Arbeit aussehen würde.

    „Dazu kommen wir gleich, junger Mann. Wir haben noch etwas Zeit. Schauen Sie mal hier, die Speichenräder. Sie lassen sich mit dem Lösen einer einzigen Flügelmutter wechseln. Es handelt sich bei diesem TR3 um ein in Deutschland seltenes, rechts gelenktes Exemplar."

    Herr Peters sah mich erwartungsvoll an und ich wusste nicht, wie ich in diesem Moment reagieren sollte. Ich wollte nicht unhöflich sein und sah mir alles an, was Herr Peters mir zeigte. Jedoch, aus Desinteresse hätte ich diese ganzen Daten nicht behalten wollen, Oldtimer interessierten mich nicht die Bohne. Vielleicht, wenn ich so alt wie Herr Peters bin.

    Rita hatte mir am Telefon gesagt, dass der Musikalienhandel das Hobby des Herrn Peters sei. Wie, liebe Rita, nennst du das jetzt? Das hier ist doch auch ein Hobby und so ein Hobby kostet erst richtig Asche!

    Ich nickte verständnisvoll und verdrehte dennoch die Augen. Mehr Begeisterung war nicht drin. Herr Peters verfügte über Feingefühl oder es lag an meinem Blick.

    Er sagte,

    „Keine Angst, junger Mann, Sie müssen in Sachen Oldtimer kein Experte sein, um die Tätigkeit als Aushilfe in meinem Geschäft gewissenhaft ausüben zu können. Mit meinem Wägelchen bin ich ein bisschen verrückt. "

    Ich sah Herrn Peters prüfend an. Was wollte er mir damit sagen? Stand ich vor einem Verrückten? Er gab es selbst zu. Er machte nicht den Eindruck eines gewöhnlichen Zeitgenossen, er war nicht Mainstream, aber gleich verrückt? Nee. Nicht wirklich. Der ging bloß darin auf. Ist ja legitim.

    Er ging einen Schritt auf mich zu, schaute mir in mein verdutztes Gesicht und sagte mit freundlicher und bestimmter Stimme,

    „Herr Kühne, wenn Sie nächsten Dienstag anfangen, sind Sie bitte um neun Uhr dreißig vor dem Geschäft, ich schließe ihnen die Tür auf. Rita wird nicht mehr da sein, sie hat Montag ihren letzten Arbeitstag. Ich verabschiede mich."

    Herr Peters reichte mir die Hand, schüttelte sie kurz, drehte sich um, ließ mich stehen und ging zu seinem Auto; dann machte er auf dem Absatz kehrt und kam zu mir zurück. Falls Herr Peters es sich mit der Jobzusage anders überlegt hat, könnte ich nach Österreich fahren, was mir lieber wäre. Er blieb dicht vor mir stehen und sah zu mir auf.

    „Beinahe hätte ich es vergessen. Bitte achten Sie auf den Sound meines TR3, wenn ich gleich vom Hof fahre. Wenigstens das dürfte Sie als Musiker interessieren. Dieser Sound wird Sie begeistern! Das ist original britischer Langhubersound."

    Herr Peters hob die Hand.

    „Also dann", sagte er, drehte sich um, ging mit eiligen Schritten zum seinem Schmuckstück in Britisch Racing Green, zwängte sich hinter das Steuerrad und brauste durch die Durchfahrt vom Hof, hielt kurz und reihte sich rechts in den fließenden Verkehr der Holstmannstraße ein. Weg war Herr Peters. Er hatte recht. Dieser Sound war unvergleichlich und ich stellte mir ein modernes Orchesterstück vor, in das, an den notierten Stellen, dieser Sound zur Musik eingespielt werden würde.

    Herr Peters wollte mich haben? Damit hatte ich nicht gerechnet! Wieso sollte ich erst um neun Uhr dreißig mit der Arbeit beginnen? Sagte Rita mir nicht, um neun Uhr wäre Arbeitsbeginn? Ich entschied mich, früher zu kommen. Egal. Wo war Rita eigentlich? Sie hätte hier sein müssen. Ich blieb wie angewurzelt auf dem Hof stehen, denn mir wurde klar, dass ich nun das Problem hatte, Anselm absagen zu müssen.

    3. „Ach nö, wie schade, das darf nicht wahr sein. So kurzfristig absagen! Torben, das ist doch sonst nicht deine Art. Das gefällt mir nicht", meinte Dirigent Anselm, als ich für diesen Sommer meine Teilnahme an dem Orchesterworkshop absagte. Seine Enttäuschung war groß. Seine Stimme klang traurig und wütend zugleich.

    „Ich hatte mich darauf eingestellt, dass du auch dieses Jahr dabei bist; mit Trompeten sind wir immer knapp! Ach, Torben, das weißt du doch. Du bringst mich jetzt in große Verlegenheit."

    Ich wollte es mir mit Anselm nicht verscherzen, er hatte mir in der Vergangenheit, als Dankeschön für mein Mitmachen, mehrere Solokonzerte angeboten. Ich vertröstete ihn auf nächstes Jahr. Immerhin war für mich als Trompeter alles umsonst gewesen, bis auf das Fahrgeld. So kam es, dass ich im Sommer nicht zu meinem Orchesterworkshop fuhr, sondern stattdessen wochenlang als Aushilfe bei Herrn Peters in dem Musikgeschäft Hofer arbeitete. Ich verzichtete damit auf einiges, die Berge, die gute Kameradschaft, das interessante Programm, das Anselm mit uns erarbeiten wollte und auf die Konzerte im Kurhaus. Mahlers fünfte Sinfonie ohne mich. Nicht denkbar. Bei Hofers würde es ruhiger sein, Herr Peters machte nicht den Eindruck eines Cholerikers; Anselm hatte die Angewohnheit, das Orchester anzuschreien.

    Vor zwei Jahren gab es ein Zerwürfnis mit dem Konzertmeister Luke Collins – ein Männchen von einem Meter fünfzig. Ein genialer Geiger mit hoher Denkerstirn, langen dunklen Locken, die wie gefärbt aussahen. Ich schätzte, dass er von Natur aus blond war. Dazu trug er eine Nickelbrille. Mit seiner hellen Haut sah er aus wie ein Verwandter von Dracula. Luke war extra wegen Anselm von Wales nach Deutschland gezogen.

    Nach kurzer, aber heftiger Diskussion zwischen Luke und Anselm über die Gestaltung eines Solos, verließ Luke wutentbrannt die Probe. Anselm warf ihm seinen Taktstock hinterher.

    Als die Streicher Anselm eine Stunde später erklärten, dass sie die Symphonie fantastique von Berlioz vom Programm absetzen lassen wollten, weil sie diese Musik angeblich nicht spielen könnten, wollte er es mit den Streichern nicht eskalieren lassen und suchte daraufhin grundlos Streit mit uns Bläsern. Die Streicher behaupteten, wir Bläser wären zu laut. Das war natürlich Quatsch, denn ein dreifaches Forte lässt sich nicht flüstern. Der Streit mit uns war vorgeschoben, bisher war Anselm mit uns zufrieden, zumal er es war, der die Lautstärke vorgab und wir uns nach ihm richteten. Zu guter Letzt schmiss er sein Handy auf den Boden. Ich nahm an, er tat dies als Ersatz, um sich mit den Streichern wegen des abgesetzten Stückes nicht auseinandersetzen zu müssen. Ich war sauer auf die Streicher, ich hätte mit dem Kornett ein super Solo gehabt. Sauerei!

    Wegen Anselms Neigung, aus der Haut zu fahren, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Nach ein paar Tagen rief er mich an und meinte, er könne keinen Ersatz für mich finden. Er werde mir die Suche überlassen. Ich telefonierte herum. Nicht lange und ich fand einen Studenten im zweiten Semester, der über dieses Angebot hellauf begeistert war.

    Ich fühlte mich wie ein Schuft, Anselm hatte von mir meine feste Zusage für den Workshop erhalten, bevor ich Rita zugesagt hatte. Warum sagte ich Rita eigentlich zu? Weil sie eine Frau war? Weil sie bettelte und nervte? Ich war wütend auf mich und ich war auf Rita wütend. Rita hatte es geschafft, mich mit ihrer Zwangslage emotional zu erpressen und sie hatte erreicht, dass ich mich für eine Lösung für ihr Problem verantwortlich fühlte. Ich war ihr zu nichts verpflichtet. Es sollte mir eine Lehre sein.

    Ich ärgerte mich über mich, nahm Caesar und ging stundenlang joggen. Genauso, wie ich einen Ersatz gefunden hatte, hätte Rita unter den Studenten jemanden finden können. Warum gerade mich? Der Trompetenstudent durfte zu meinen Bedingungen mitfahren und würde sogar das Fahrgeld ersetzt bekommen. Anselm war wieder besänftigt. Dieses Jahr keine Orchesterfreizeit, keine Schreierei zwischen Anselm und dem Konzertmeister, keine Billardspiele mit Jacob, dem polnischen Klarinettisten, keine Nachtwanderungen, kein Bier mit Keisuke Takemitsu, dem genialen japanischen Pianisten, der nicht nur alle Noten vortragsreif vom Blatt spielen konnte, sondern sie auf der Stelle in jede andere Tonart transponieren konnte.

    Was ich besonders vermissen würde, war die goldene Morgensonne in den Bergen und die Musik.

    4. Meine Aufgaben bei Hofers bestanden in der Bearbeitung der eingehenden Mails am PC, dem Sichten der Post, bestehend aus Briefen und Warensendungen, dem Einordnen und dem Ablegen von Notenbänden und der Bearbeitung von Bestellungen und Anfragen. Das war musikalisch nicht förderlich für mich, hatte keinen musikalischen Nährwert, sondern erweiterte höchstens meine Literaturkenntnisse. Na gut, manchmal fiel mir eine Biografie eines Komponisten oder bedeutenden Musikers in die Hand und dann schmökerte ich darin. Der Hauptanreiz für diese Arbeiten lag in der guten Bezahlung.

    Von dem Geld, das ich verdiente, würde ich mir neues Studio Equipment leisten. Vor einiger Zeit war ich beim Audio Service vorbeigefahren und hatte mir dort Mikrofone angesehen. Mir gefielen zwei Studiomikrofone, die für Aufnahmen mit meiner Trompete geeignet waren, sogenannte Bläsermikrofone. Der Techniker vom Audio Service versprach mir, er würde die Mikrofone bei mir im Tonstudio ausprobieren. Mikros von Shure, Bayerdynamic oder Sennheiser wollte er mitbringen. In Gedanken freute ich mich auf viele Aufnahmen mit meiner Trompete. Es hatte mir gereicht, dass alle meine bisherigen Aufnahmen leicht nasal klangen, was an meinem jetzigen Mikro lag, obwohl das ungeschulte Ohr diese Beeinträchtigung nicht wahrnehmen konnte. Dies wollte ich durch besseres Equipment ändern. Außerdem wollte ich alle meine Kabel und Stecker ersetzen und bei der Gelegenheit auch die Schlangengrube beseitigen. Dieser Kabelsalat auf dem Fußboden war unerträglich geworden.

    Ich wusste also, wofür ich hier bei Hofers meinen Sommer verbringen und arbeiten würde und wofür es entschuldbar war, den Orchesterworkshop in Österreich sausen zu lassen. Ich würde zwölf Wochen lang an einem Tisch sitzen, der direkt hinter dem Schaufenster an einer Stelle stand, wo die Sicht nicht mit Dekorationen zugestellt war und auf den Monitor eines PC starren. Von dort konnte ich zur Abwechslung ungehindert auf die Holstmannstraße sehen. Ich musste viele neugierige Blicke von Passanten ertragen, daran gewöhnte ich mich. Ich trainierte mir das Gefühl an, in einen Spiegel zu schauen. Auf diese Weise sah ich die Leute nicht. Manche starrten länger ins Fenster, manche lächelten mir freundlich zu, andere zogen Grimassen oder zündeten sich eine Zigarette an, drehten sich um und gingen weiter.

    Ich befand mich in meiner Matrix. Matrix? Ach, die Matrix. Die Filme hatte ich alle gesehen. In diesen Filmen versuchten die Programme die Herrschaft über die Menschheit zu erlangen. War das nicht Wirklichkeit geworden? Ich fühlte mich in diese Filme versetzt und erlebte es hautnah, wenn ich vor dem PC saß. Ich kam mir vor wie eine Puppe, ich agierte wie eine Puppe, wie eine, von einem Computer gesteuerte Figur aus Maniac Mansion! Was war mit mir geschehen? Jemand muss mich entführt und hier hingesetzt haben und nun sitze ich hier. Ich bin nur eine Figur in einem Spiel. Das Spiel des Lebens. Und in welchem Level befand ich mich jetzt? Und wer spielte mich gerade? Der Gedanke an das Universum ließ mich in diesem Moment nicht los. Wir Menschen sind unsichtbar.

    Ich sollte Mails bearbeiten und musste eingenickt sein. Ich blickte auf den Monitor und sah, dass ich noch keine einzige Mail bearbeitet hatte. Ich legte los. Bei der ersten Mail wollte jemand eine Auskunft haben. Das konnte noch heiter werden. Woher sollte ich wissen, was derjenige wissen wollte? Ich nahm mir vor, alles mit Gelassenheit zu betrachten. Ich war Aushilfe hier und eine derartige Tätigkeit hatte ich bisher noch nicht ausgeübt. Das war die richtige Einstellung.

    Die Anzahl der Mails hielt sich in Grenzen. Es waren mal mehr, mal weniger. Aus der Perspektive einer Puppe hatte ich das Gefühl, dass mich mein Spieler am Anfang des Spiels noch schonte. Er schaute nur ab und zu auf mich. Es gab noch keine anderen Spielfiguren, die mir zusetzten; mit Sicherheit würden die in diesem Level oder in höheren Levels noch aufkreuzen. Wie ein Roboter telefonierte ich und durchsuchte die Kataloge. Ich musste keine schwierigen Aufgaben lösen. Mein Programm war noch nicht perfektioniert worden.

    Gingen Leute draußen vorbei und schauten ins Fenster, erlaubte ich mir den Spaß, meinen Kopf und meine Arme wie ein Roboter zu bewegen. Oder ich erhob mich in zeitlupenartigen Bewegungen, drehte mich wie eine batteriebetriebene Puppe und ging im Paradeschritt in unser Notenarchiv. Ich hatte von draußen durch das Fenster gesehen und geprüft, wie weit man in den Laden blicken konnte, wenn man seine Nase an der Scheibe plattdrückte.

    Ich hatte es bei Hofers gemütlich, wenn nicht ab und zu die Ladenklingel läuten würde und mich aus meinen Gedanken und Vorstellungen herausriss.

    Turnte Herr Peters im Notenarchiv auf der Leiter, hatte ich die Kunden zu begrüßen und nach ihren Wünschen zu fragen. Konnte ich den Kunden nicht weiterhelfen, half mir ein Knopf unter dem Ladentresen, den ich kurz drückte. Im Archiv hörte Herr Peters einen Summton und nach einer Weile schlurfte er von hinten heran.

    Mit der Zeit stellte sich eine gewisse Routine bei dieser Arbeit ein. Es störte mich nicht, wenn neugierige Passanten mich anstarrten. Was war so interessant daran, einen jungen Mann am PC sitzen zu sehen, der am PC schrieb oder Briefe sortierte?

    Es war eine normale Tätigkeit! Was sollte das Glotzen? Gut, ich hätte den Tisch mit dem PC woanders hinstellen können, weiter in den Laden hinein, dann hätten sie mich nicht bemerkt, aber ich hätte mir den Spaß genommen, die Straße beobachten zu können.

    Durch die Holstmannstraße floss in gleichbleibender Monotonie ein ständiger Autoverkehr. Die Ampelphasen regelten seinen Geräuschpegel; bei Rot ebbte er leicht ab, bei Grün schwoll er sogleich erbärmlich an. Das war für mich neu. Es störte mich, diesem Lärm nicht ausweichen zu können. Am liebsten hätte ich mir einen Gehörschutz mit doppelschaligen Kapseln aufgesetzt, um mich vor diesem extremen Lärm zu schützen.

    Die schräg gegenüberliegende Bushaltestelle bot zwei verschiedene Bilder zur Ansicht. Entweder lag sie wie verlassen da und hungrige Tauben pickten eifrig unter einem Papierkorb Brotkrumen oder Reste von Chips, oder Scharen von Menschen drängten sich an der Haltestelle. Das Herannahen der Busse wurde durch das Singen der Reifen und das Quietschen der Bremsen angekündigt. Es sah aus, als ob die Busse auf der Straße auf und nieder schwammen, der Asphalt hatte Bodenwellen. Wenn die Busse heran rauschten, verspürte ich ein leichtes Vibrieren meines Schreibtisches und ein Sirren der Schaufensterscheiben. Das Rauschen des Verkehrs ging mir anfangs mächtig auf den Keks. Es nahm mir die Konzentration auf meine Arbeit, obwohl ich zu Beginn meiner Tätigkeit anstrengende Arbeiten nicht zu bewältigen hatte. Mit der Zeit gelang es mir, den monotonen Sound der Straße mit meinen Ohren zu filtern. Ich schreckte auf, wenn die Sirene eines Polizei- oder Krankenwagens laut aufheulte.

    Die Holstmannstraße war nicht gerade eine Prachtallee. Eine schmale Straße, der man viel zu viel Verkehr zumutete. Die Autos quetschten sich gefährlich an den Radfahrern vorbei. Parkplätze gab es keine. Damit Autofahrer nicht im Entferntesten auf die Idee kamen, zu halten oder zu parken, hatte die Stadt alle paar Meter Halteund Parkverbotsschilder aufgestellt. Ein Schilderwald im wahrsten Sinne des Wortes. Die Fußwege waren nicht breit. Vom letzten Winter waren in diesem Abschnitt der Straße Frostlöcher im Asphalt verblieben. Die Stadt hatte vergessen, diese Kuhlen flicken zu lassen. Peinlich, peinlich!

    Einmal erschreckte mich Herr Peters, als er mir auf die Schulter tippte.

    „Sehen Sie, da laufen sie."

    Ich drehte mich um und sah ihn fragend an.

    „Wer?"

    „Da, sehen Sie die Politessen? Von beiden Seiten laufen sie Streife. Die sind gnadenlos. Kurz an der Seite anhalten und zwanzig Euro Verwarngeld sind fällig."

    Peters Lieferanten und Besucher durften auf seinem Hof parken; auch der Imbiss nutzte diesen Platz. Ich war froh, dort parken zu dürfen. Kilometerweit gab es keine Parkmöglichkeiten. Auf dem Parkplatz des Supermarktes wäre ich nach zwei Stunden abgeschleppt worden.

    Alles in allem war die Holstmannstraße nicht gerade ansehnlich, es sei, man war ein Fan rissiger Häuserfassaden mit Graffiti. In diesem Teil der Holstmannstraße war von Luxussanierungen noch nichts zu spüren. Ein paar Straßen weiter sah es anders aus. Es galt als chic, in den toprenovierten Häusern mit Fassaden aus der Gründerzeit zu leben. In der Holstmannstraße gab es ein Haus mit zugemauerten Fenstern. Das war gruselig.

    5. Herr Peters bat mich gleich am ersten Tag in die Teeküche. Er liebte es, mit Kunden und Vertretern ausgiebig zu plaudern. Damit sie sich wohl fühlten, verwöhnte er sie mit frisch gebrühtem Kaffee und Keksen, die er mit einer Gebäckzange aus einer überdimensionierten, blechernen Keksdose auf eine Etagere füllte. Fortan sollte ich die Kaffeemaschine bedienen.

    Herr Peters zeigte auf seine Fair Trade Biokaffee Vorräte, die sich, Tüte an Tüte, aufgereiht in einem kleinen Hängeschrank über der Spüle befanden.

    „Bitte die angebrochenen Tüten zuerst aufbrauchen. Und achten Sie aufs Datum. Rita reißt die nächste Tüte immer einfach auf, ohne den Rest einer angebrochenen Tüte aufzubrauchen. Ich habe es ihr mehrfach gesagt. Übrigens lasse ich mir den Kaffee aus Bremen schicken. Die rösten den Kaffee noch per Hand."

    Er öffnete eine Tüte, roch mit einer genießerischen Miene daran und hielt mir die Tüte ebenfalls unter die Nase. Ich konnte nicht viel riechen. Das Aroma, das Herr Peters Nase wahrnahm, war bei mir wohl schon verflogen. Das waren ganze Bohnen. Das volle Aroma würde sich sicherlich beim Mahlen entfalten, dachte ich.

    „Ein Geheimtipp! Die angebrochene Tüte immer mit diesem roten Frischhalteklipp verschließen", betonte er. Dann wies er mich in die Bedienung seiner elektrischen Kaffeemühle ein.

    „Hier kommt die Krönung", erklärte Herr Peters mir und öffnete die Schranktür links neben der Spüle. Er zog eine Miniaturraumstation a la Jules Verne aus dem Schrank und ich fiel fast rückwärts.

    „Was ist das denn, Herr Peters?"

    „Mein ganzer Stolz!", erklärte er mir und tätschelte sein Maschinchen, nachdem er das Gerät auf die Anrichte gehoben hatte. So ein Monstrum – für Herrn Peters die Krönung – hatte ich zuvor noch nicht gesehen.

    „Hier, eine original ESM, die Krone aus den 50er Jahren. Sie ist funktionsfähig. Bestes Mahlwerk. Die lässt mich nicht im Stich. Die heutigen Kaffeemühlen sind Schrott. Das hier ist noch Wertarbeit!", und während er dies sagte, klopfte er an seine metallene Maschine. Ich betrachtete Peters Maschinchen. Wo war ich hier? In einem Museum?

    „Hier sehen Sie, das Kabel ist noch textilummantelt und hat schon einen Schukostecker. Ein Zugeständnis an die Neuzeit."

    Herr Peters zog den Deckel des Bohnenbehälters an dem runden Knuddelknopf hoch, füllte acht Maß Bohnen in den geöffneten Trichter und verschloss den Behälter mit dem Deckel.

    „Und hier bitte, sehen Sie! Das ist das Stellrad für den Feinheitsgrad. Bitte nicht verstellen! Lassen Sie es, wie es ist", sagte Herr Peters.

    „Ich habe für diese Bohne die richtige Körnung eingestellt. Dann hier, der Kippschalter für An und Aus."

    Er steckte den Schukostecker in die Steckdose, stellte den Kippschalter auf An und es hämmerte, als ob eine Baufirma die rückwärtige Wand mit einem Boschhammer durchstieß.

    „Das ist Musik", freute sich Herr Peters und lachte vergnügt. Für mich war es der Horror. Diese dämliche Knatterei muss man sich heute nicht mehr antun. Herrn Peters zum Gefallen setzte ich ein erstauntes und interessiertes Gesicht auf.

    „So, fertig gemahlen. Ausschalten."

    Herr Peters tippte mit seinem Zeigefinger an meine Brust.

    „Das sage ich Ihnen, immer erst ausschalten, bevor Sie den Kaffeemehlbehälter hier an diesem Griff herausziehen. Und gleich wird es spannend."

    Herr Peters zog den Kaffeemehlbehälter, der in meinen Augen wie eine Minibombe aussah, demonstrativ heraus, zog den Deckel von der Schütte ab und kippte das Kaffeemehl in den bereit gestellten Filter seiner Melitta Kaffeemaschine, die ebenfalls Jahre auf dem Buckel hatte. Mit seiner linken Hand klopfte er mit kleinen schnellen und behutsamen Schlägen unter die Bombe, damit alles Mehl herausfiel. Das Aroma des Kaffees erfüllte die Teeküche.

    „Achten Sie bitte darauf, dass der Kaffee frisch ist. In der Ecke sehen Sie die Thermoskannen. Wenn der Kaffee durchgelaufen ist, gleich in die Kannen gießen, nie auf der heißen Platte stehen lassen, sonst schmeckt er wie Rattengift! Es gibt nichts Schlimmeres als Kaffee, der wie Rattengift schmeckt." betonte Herr Peters. Sagte er Rattengift? Woher will er wissen, wie Rattengift schmeckt?

    Und zuletzt teilte er mir mit, dass er seine Kaffeemühle selbst reinigen würde. Ich solle sie einfach in den Schrank zurückstellen.

    „Wo haben Sie das Ding her?", sprudelte es aus mir heraus.

    „Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal, Herr Kühne", versicherte Herr Peters und er führte mich, während die Melitta Kaffeemaschine blubberte, in einen langen Flur, in dem auf beiden Seiten Regale bis unter die Decke reichten, Peters Noten- und Bücherarchiv. Ich kam mir vor wie Alice im Spiegelland. Die Schaufensterscheiben sind die Spiegel und die Welt dahinter das Geschäft des wundersamen Herrn Peters. Hier lief die Zeit anders. Wenn ich den Laden betrat, wurde ich in eine andere Welt versetzt.

    Ich überlegte, ob Herr Peters fliegen konnte. Die Deckenhöhe schätzte ich auf vier Meter fünfzig. Wie konnte er die oberen Regale erreichen? Er mochte ein Meter siebzig groß sein, mit meinen eigenen ein Meter zweiundachtzig konnte ich ihm auf seine grauen Stoppelhaare sehen.

    „Fliegen kann ich nicht", sagte er und sah mich mit seinen kleinen graublauen Augen über seine heruntergerutschte Halbbrille freundlich an. Ich war verblüfft. Konnte er meine Gedanken lesen?

    Er zupfte mich am Ärmel und schob mich an meinem Arm in Richtung des Flurendes. Dort gab es drei Türen. Eine hatte die Aufschrift „Zum Hof".

    Die andere ein Schild mit „WC". Die dritte Tür war wesentlich kleiner, man hätte sich bücken müssen, um hindurch zu gelangen. An der Tür war ein Schild mit

    Zutritt verboten

    angebracht. Herr Peters erklärte mir,

    „Das ist wörtlich gemeint. Hier beginnt ein Gang, der nach einigen Metern zugeschüttet ist. Niemand weiß, was sich dahinter verbirgt. Den Schlüssel zur Tür habe ich abgezogen."

    „Sind Sie dort schon einmal hineingegangen, Herr Peters?"

    Er sah mich an und schwieg. Nach einer kurzen Pause sagte er,

    „Ein neugieriger Musiker ist hineingekrochen, ein Herr Schnabel. Er ist nicht zurückgekehrt und wurde nicht mehr gesehen."

    Ich sah Herrn Peters entsetzt an.

    „Ein Herr Schnabel?"

    „Ein Scherz, Herr Kühne, Sie müssen mir das nicht glauben."

    Herr Peters sah sich um. Er wies auf eine Stelle im Regalsystem, das dort mit einem Einschnitt unterbrochen war.

    „Feinstes Kirschholz", sagte er stolz und endlich ließ er mich los. Er zog eine Leiter aus dem Spalt zwischen den Regalen hervor und wies auf deren oberes Ende hin. Dort waren zwei stabile Messingeinhängehaken fest mit den Holmen der Leiter verschraubt.

    „Bitte achten Sie darauf, belehrte mich Herr Peters, „dass Sie die Einhängehaken dort oben über die Umlaufschiene hängen. Wenn Sie die Leiter dann hinaufsteigen, kann Ihnen nichts passieren. Ich hoffe, Sie sind schwindelfrei.

    Ich nickte.

    „Schwindelfrei bin ich, aber, wenn ich das hier betrachte, ist diese Höhe gewöhnungsbedürftig".

    Herr Peters grinste zufrieden.

    „Viereinhalb Meter Deckenhöhe, Gründerzeit!" Er zog einen Korb aus einem unteren Regalfach.

    „Hier, diesen Korb können Sie in die Sprossen einhängen. Das hilft, Wege zu sparen."

    Er nickte und schien zu überlegen. Dann sah er mich mit wichtiger Miene an,

    „Fürs Erste habe ich Ihnen alles gezeigt, was Sie für den Anfang wissen müssen. Gewöhnen Sie sich erst mal ein. Dann werden wir weitersehen."

    Er führte mich in die Teeküche zurück. Ein verführerischer Kaffeeduft erfüllte den Raum. Herr Peters lud mich zu einem Tässchen in seine Plauderecke ein. Das hatte ich mir redlich verdient.

    Wenn ich eines bei Hofers gerne tat und zur vollsten Zufriedenheit von Herrn Peters ausführen konnte, dann war es, den Kaffee kochen. Ich ging in der täglichen Zeremonie des Mahlens der Kaffeebohnen auf. Es war für mich eine Zeitmaschine und an das Geknatter der Maschine gewöhnte ich mich. Die Glaskaffeekanne auszuspülen und die Kaffeemaschine mit frischem Wasser aufzufüllen und zu bedienen, war keine Arbeit für mich, zumal ich diesen Kaffee selber gerne trank. Herr Peters musste sich darüber keine Gedanken machen. Ich behaupte, ich wurde in der Zeit bei Herrn Peters zum wahren Kaffeeexperten.

    An einem Morgen, ich kam tatsächlich zu spät und Herr Peters lauerte in der Ladentür auf mein Erscheinen, sagte er doch tatsächlich zu mir,

    „Vergessen Sie nicht das Rattengift!"

    Ich glaube, ich hatte mich vor Lachen bepinkelt.

    6. Die Plauderecke, in die Herr Peters seine Gäste bat, befand sich auf der anderen Seite des Ladens und war durch die Schaufensterscheibe von außen nicht einsehbar. Sie bestand aus Möbeln vergangener Zeiten. Sein Stolz waren der aus Weiden geflochtene, runde Tisch mit der Glasplatte und dem darunter befindlichen Zwischenfach für Prospekte, sowie drei kleinere gemütliche Cocktailsessel mit dünnen Beinchen und an den Kanten abgesessenem Bezugsstoff. Vintage-Einrichtung total! Wenn ich morgens in den Laden spazierte, putzte er eifrig die Glasplatte.

    Herr Peters war noch vom alten Schlag. Bei ihm stellte sich keine Hektik ein. Er unterhielt sich gerne mit den Kunden und er ließ sich bei seiner Beratung viel Zeit. Sein Alter konnte man Herrn Peters nicht ansehen. Ich schätzte ihn auf Anfang sechzig. Zusammen mit seinen alten Sachen wirkte er auf mich wie ein menschliches Relikt aus einer anderen Epoche. Und dann sagte er mir voller Stolz, er sei fünfundsiebzig Jahre und fühle sich wie sechzig.

    „Immer mit der Ruhe, immer mit der Ruhe", hörte ich ihn mit einem Singsang sagen, der im Laden zu hören war, wenn er irgendwelche Noten aus seinem Archiv heraussuchte. Dies sagte er auch, wenn ein Kunde ungeduldig wurde.

    Als Rita mir diesen Job anbot, erzählte sie mir noch einiges mehr über Herrn Peters. Der sei total in Ordnung. Das konnte ich inzwischen bestätigen. Herr Peters war genauso nett, wie Rita ihn mir geschildert hatte. Wenn ich etwas nicht sofort kapierte und ihn fragte, half er geduldig beim Heraussuchen der bestellten Noten. Ansonsten ließ er mich in Ruhe, sofern am Abend – und darauf legte er großen Wert – die aufgetragenen Arbeiten erledigt waren.

    Nach einer Weile fand ich es cool, den ganzen Sommer über jeden Tag ins Geschäft zu gehen. Rita meinte vor ihrer Abreise am Telefon, wenn Herr Peters auf die Einnahmen seines Geschäftes angewiesen wäre, hätte er den Laden dichtgemacht. Der Rückgang des Umsatzes lag am Internet, wo man die Noten schnell herunterladen konnte und an der Tatsache, dass weniger musiziert wurde.

    Herr Peters lebte nicht wirklich von seiner alten Stammkundschaft und vom Hörensagen. Sein Geschäft sei sein Hobby. Er habe sein Auskommen durch Mieteinnahmen, ihm gehöre das Haus bis unters Dach und zwei weitere Häuser in der Straße seien sein Eigentum, zum Beispiel das Gebäude, in dem sich der Imbiss befindet.

    Die Musikalienhandlung Hofers lag an einer ungünstigen Stelle. Es war, wie man sagt, keine 1A Geschäftslage. Hofers war das einzige Geschäft auf dieser Straßenseite. Dann kam lange nichts mehr.

    Aus diesem Grunde gab wenig Laufkundschaft, obwohl aus den U-Bahn und S-Bahn Schächten, die um die Ecke lagen, viele Menschen in regelmäßiger Taktung herausquollen. Sie fanden von dort nicht den Weg zu Hofers, sondern nahmen den direkten Weg zur Bushaltestelle, die gegenüber von Hofers lag. Bei diesen Menschen handelte es sich nicht um potenzielle Käufer von Hofers. Wenn sie Appetit auf eine Currywurst mit Pommes hatten, sprangen sie in den Imbiss, Noten machen nicht satt.

    Wenn unsere Ladentür offenstand und der Wind den Duft von Currywurst, Fritten, Frikadellen und Hähnchen gemischt mit der Abgasluft ins Geschäft trug und mein Magen knurrte, weil er seit Stunden nichts zu verdauen hatte, desto angenehmer wurde mir der Geruch aus dem Imbiss.

    Gewöhnlich lud Herr Peters mich mittags zu einer Currywurst mit Pommes oder zu einem halben Hähnchen ein. Er huschte dann in den Imbiss und kam mit unserem Mittagessen zurück.

    Und dann schickte Herr Peters mich in den Imbiss, um das Essen zu holen. Im Eingang entdeckte ich an der hinteren Wand zwei alte Merkur Spielautomaten. Davor saßen zwei Typen, jeder mit einer Bierflasche in der Hand, die ihr Glück bei Hot Frootastic suchten. Was für Deppen!

    Beim nächsten Mal war ein Automat frei und bevor ich meine Bestellung aufgab, verspielte ich Kleingeld. Der Automat spuckte keinen Gewinn aus. Frechheit! Ein anderes Mal, während die Fritten im Fett brutzelten, erspielte ich mir ein extra Taschengeld in Form von fünf zwei Euro Münzen. Das nächste Mal vergaß ich beim Spielen am Automaten die Zeit und Herr Peters empfing mich mit einem strafenden Blick.

    Sein scharfes „Herrgott, wo bleiben Sie?" bedeutete für mich eine Warnung, meine Aufenthalte im Imbiss nicht zu übertreiben. Für meine Verspätung gab ich ihm eine Ausrede, bei der ich dachte, er würde sie schlucken.

    „Herr Peters, entschuldigen Sie vielmals. Mich trifft keine Schuld. Die haben gerade das Fett in den Fritteusen ausgewechselt. Das dauerte."

    Herr Peters ließ sich nicht beirren, sondern teilte mir mit, dass er meinen Aufenthalt bei ihm im Geschäft hier und heute auf der Stelle abbrechen könnte. Das saß. Da ich protestierte, verriet mir Herr Peters, er hätte nach mir Ausschau gehalten, weil ich mit dem Essen nicht zur gewohnten Zeit zurückkam und hätte mich vor dem Spielautomaten hocken sehen.

    „Erzählen Sie mir bitte keine Märchen, das Fett wird zweimal die Woche ausgewechselt und das ist montags und mittwochs vor Geschäftsbeginn. Er verstand keinen Spaß. „Beschämend, Herr Kühne! Herr Peters war ein Schnüffler.

    Das war das einzige Mal, dass Herr Peters einen unangenehmen Ton anschlug. Einen weiteren Anlass gab ich ihm dazu nicht. Er blieb noch ein paar Tage kurz angebunden und holte das Mittagessen wieder selbst. Ich wurde hiervon kurzerhand entbunden und fand während der Arbeitszeit keinen Grund mehr, den Imbiss aufzusuchen.

    Herr Peters erhöhte nach diesem Vorfall mein Arbeitspensum. Täglich wurde es mehr.

    „Ich denke, sagte Herr Peters, als er mir einen Stapel unsortierter Notenbände brachte, „dass Sie noch Kapazität haben.

    Inzwischen musste ich für mein Geld richtig malochen.

    7. An einem frühen Nachmittag bemerkte ich an der gegenüberliegenden Bushaltestelle eine junge Frau, die alle anderen Menschen überragte. Ich traute meinen Augen nicht. So groß kann keine Frau sein. Das muss ja eine Strafe sein!

    Am nächsten Tag fiel sie mir wieder auf. Beim näheren Hinsehen erkannte ich, dass es sich bei ihr um eine Scheinriesin handelte. Sie trug zu ihrer größeren Erscheinung Schuhe, wie ich sie in meinem Leben noch nie gesehen hatte. Echt, ich übertreibe nicht, die sahen aus wie Klumpen und nicht wie elegante Highheels. Die waren breit wie lang und hoch und vorne rund und nach innen gebogen.

    Wie sie mit diesen Ungetümen an den Füßen gehen konnte, war mir ein Rätsel. Ohne gehässig sein zu wollen, sie hatten eine Ähnlichkeit mit Gewichten aus einem Fitnessstudio oder wie überdimensionierte Hufe eines Brauereipferdes, wenn man sie von vorne sah. Es war verblüffend anzusehen, wie die junge Frau ohne zu stolpern und mit eiligen Schritten dem ankommenden Bus entgegensprang und darin verschwand. Als hätte sie unter den Sohlen Sprungfedern. Lady Gaga wäre neidisch auf sie gewesen.

    Am darauffolgenden Tag erblickte ich diese Frau wieder und auch am vierten Tag erschien sie zur selben Zeit. Jedes Mal hatte sie auf die gleiche Weise ihre, in der Sonne leicht rötlich schimmernden Haare mit einem breiten Tuch mit afrikanischen Mustern hochgebunden. Das ließ sie noch größer erscheinen.

    Wenn sie auftauchte, blieb ich an ihrem Anblick hängen. Es sah zu komisch aus, weil von meinem Platz aus die anderen Menschen an der Haltestelle, im Gegensatz zu der Lady, wie Zwerge aussahen.

    Auf Dauer hätte mich diese auffällige junge Frau langweilen können; ich harrte mit meinem Blick auf der gegenüberliegenden Seite nur aus, um nicht die Gelegenheit zu verpassen, Zeuge eines Geschehens zu werden, was den Umständen nach passieren musste. Ich war überzeugt, dass ich meine Zeit nicht umsonst damit verbrachte und bald für meine Ausdauer belohnt werden würde.

    Ich wartete darauf, dass diese Riesin bei ihren artistischen Darbietungen, mit großen Schritten in den Bus zu springen, irgendwann so richtig auf die Schnauze flog. Es konnte nicht gutgehen, wie sie sich fortbewegte. Im Geiste sah ich es bereits geschehen. Sie würde hinknallen. Und irgendwie hatte sie es verdient! Was läuft sie auf solchen Monstren umher?

    Wer mich kennt, wird nicht behaupten können, dass ich von Natur aus ein Voyeur bin oder ein Stalker, der nachts durch die Straßen schleicht und in die Fenster glotzt. Ich besitze kein Fernglas. Sie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1