Die Freundin aus der Jenseitswelt
Von Melanie Maine und Finisia Moschiano
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Buchvorschau
Die Freundin aus der Jenseitswelt - Melanie Maine
Moschiano
Grauschwarzes Gewölk lag wie ein Trauerschleier über dem Land. Ständig niedergehender Regen erweckte den Eindruck, als ob selbst der Himmel über das grausame Schicksal weinte.
Das Wimmern der Totenglocke zeigte Patricia Brandsey die Richtung des Weges zu dem uralten Friedhof im Moor. Und am Rande des Moores hatte ihr ein morsches, halb verwittertes Schild aus altersgrauem Holz von der Autostraße her den Weg in eine unheimliche Welt gewiesen.
Die junge Frau bebte vor Furcht, als sie ihren Fuß von der Teerstraße auf den schlammigen Weg setzen musste. Ein schmaler Pfad, der durch mannshohes Schilf und Riedgräser hinein ins Herz des Moores führte. Jeder Fehltritt konnte hier den sicheren Tod bedeuten.
Es war Herbst. Die Zeit des Todes und des Verfalls. An den Ästen der windgeschüttelten Bäume welkte das Laub dahin und taumelte rot und gelb gefärbt zu Boden, um zu sterben. Wie umherirrende Seelen wurden Myriaden abgestorbener Blätter vor Patricia durch scharfe Windstöße durch die Luft gewirbelt.
Mühsam durchdrang der matte Schein der Mittagssonne die den Himmel beherrschenden Trauerwolken. Ihr fahler Schein hüllten vor Patricias Augen die Moorlandschaft in geisterhaftes Zwielicht.
„Susanna! Für dich, liebe Susy! Nur für dich gehe ich diesen Weg!" hörte sich Patricia selbst flüstern. Und diese Worte halfen ihr, die Angst vor dem gefahrvollen Weg so weit zu bezwingen, dass sie es wagte, den ersten Schritt von der sicheren Autostraße auf dem von nassen Schlamm überzogenen Knüppeldamm zu machen.
Das Holz des Dammes war morsch und brüchig. Es knackte bei jedem Schritt unter ihren Füßen. Doch Patsy musste sich zusammenreißen und diesen Weg zu Ende gehen. Den Weg zu dem schauerlichen Ort, wo die Menschen dieser Gegend ihre Verstorbenen zum ewigen Schlaf in die braunschwarze Erde einsenken.
Patricia spürte, wie sie vor Angst innerlich zu zittern begann. Um sie herum erklang das hässliche Quaken der Frösche und das höhnische Keckern der Elstern in hohen Geäst der Bäume. Aus der rissigen Borke ihrer Rinde glaubte Patsy die runzeligen Gesichter vergessener Waldgeister zu erkennen, die mit grimmigem Blick zu ihr herüber starrten.
Unzählige Schauer-Legenden von unheimlichen Mooren und den Gefahren, die unter der trügerischen schlammigen Oberfläche lauern, hatten Patricia Brandsey bereits als kleines Mädchen fasziniert. Alte Geschichten, die ihr die Großmutter erzählte und bei denen man sich so richtig gruseln konnte. Von Moorhexen, die Irrlichter aussandten, um einsame Wanderer in ihre geheimen Schlupfwinkeln zu führen. Oder von den umherirrenden Geistern der Unglücklichen, die der trügerische Sumpf hinabgesaugt hatte. Verlorene Seelen, die nun umher schwirrten, um neue Opfer für die unergründliche Tiefe zu finden.
„Ich will nicht. hörte sich Patricia zu sich selbst flüstern, während sie sich eisern zwang, den einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen. „Ich habe Angst. Und ich will nach Hause.
Rauschte es da nicht in den uralten Trauerweiden als Antwort? Flüsterten ihr die sich im leichten Wind bewegenden Riedgräser vielleicht eine Warnung zu? Und dort, der hohle, heisere Schrei einer Krähe. War das nicht der schwarze Bote einer Moorhexe, von der ihre Großmutter einst so schaurig-schöne Balladen zu singen wusste?
„Reiß dich zusammen, Patsy. befahl sich die junge Frau selbst und und die Angst in ihr erschrak beim Anblick der festen Stimme aus ihrem Inneren. „Es gibt keine andere Möglichkeit das Ziel deiner Reise zu erreichen. Du hast doch schon auf der Karte gesehen, dass hinter Creag-Minor in diesem Teil der Highlands die Straße endet. Nun stell dich nicht so an wie ein kleines Mädchen. Der Weg ist doch trotz des Schlammes über dem Knüppeldamm gut zu erkennen. Und wo ein Weg ist, da sind schon andere Menschen gegangen. Auch solche, die wesentlich mehr Gewicht auf die Waage bringen als du. Also werden diese Rundhölzer auf dem Schlamm dich auch tragen.
„Häh!" gellte der Schrei der Krähe als Antwort. Patsy schreckte aus ihren Gedanken empor. Wollte sie dieser schwarze Vogel verhöhnen? Oder vielleicht warnen?
„Einbildung. Das bildest du dir alles nur ein. beruhigte sich Patricia selbst. „Es gibt absolut keinen Grund, sich zu fürchten. Und nun geh schon voran. Susanna wartet. Willst du, dass deine beste, deiner allerbeste Freundin, ihren letzten Weg alleine gehen muss?
„Kraawaah!" Mit weit ausgebreiteten Schwingen segelte die Krähe in die Richtung, in die auch Patricias Weg führte. Mit weit aufgerissenen Augen sah Patricia dem schwarzen Vogel nach, der wenige Herzschläge später über den Wipfeln der Bäume verschwunden war.
„Verdammt, Patsy! Du bist es Susy schuldig dabei zu sein, wenn man sie zum Schlaf der Ewigkeit bettet. schimpfte die junge Frau mit sich selbst. „Diese halbe Meile über das Moor, das wirst du doch schaffen, Patsy. Also reiß dich zusammen...
Jetzt öffnete der Himmel auch noch seine Schleusen. Es war kein Wasserguss, sondern nur ein dünner Sprühregen. Doch er sorgte nicht dafür, dass sich Patricia Brandseys Laune besserte. Rasch schützte sie mit der Kapuze ihres Wettermantels aus festem, grünen Lodenstoff ihr langes, kastanienfarbenes Haar, das in natürlicher Lockenpracht bis auf die Schultern herab wallte, vor dem stetig niederfallenden Nieselregen.
„Schottland. Ich beginne dich zu lieben." sagte Patricia mit bitterer Stimme, als ihr der Wind die Regenschauern ins Gesicht wehte. In einem der unzähligen Briefe hatte Susanna ihre Freundin bereits vor dem Wetter hier oben in den Highlands vorgewarnt. Selbst wenn sie in den Sommermonaten für ein oder zwei Wochen zu Besuch nach Cronach-Tay kommen würde, sollte sie keineswegs auf den Regenmantel verzichten.
In rührender Fürsorge hatte Susanna Patsy bereits vor Wochen per Paket Kleidung geschickt, wie sie im nordwestlichen Teil Schottland außerhalb der Sommermonate getragen wird. Sogar festes Schuhwerk war dabei. Die modischen Schuhe Londons waren hier auf den unebenen Straßen und Wegen völlig fehl am Platz. Und mit der Kleidung, mit der sie in London losgefahren war, hätte sich Patricia mit Garantie bei diesem Wetter eine üble Erkältung geholt. Die junge Frau war jetzt froh, dass sie die leichte Sommerkleidung, mit der sie London gestern morgen verlassen hatte, beim letzten Tankstopp in Muir of Ord gegen das robuste schottische Tuch gewechselt hatte.
Susanna Collins. Die gute Seele. Seit ihrem fünften Lebensjahr war Susy Patricias beste, ihre allerbeste Freundin. Die beiden Frauen waren wie Geschwister und ihre Freundschaft bewährte sich in allen Höhen und Tiefen der Kinderzeit, des wilden Teenager-Lebens im Swinging London und auch später als reife Frauen.
Beide waren in der Dorset-Street im Whitechapel-District Londons aufgewachsen. Hier hatte einst der berüchtigte Frauenmörder Jack the Ripper sein Unwesen getrieben. Bei einbrechender Dunkelheit hatten sich die beiden Mädchen mit unheimlichen Erzählungen über den geheimnisvollen Frauenmörder immer selbst Angst gemacht.
Es war bekannt, dass Jack the Ripper niemals gefasst worden war. Und die beiden Mädchen stellten sich vor, dass er vielleicht noch lebte und jederzeit wieder zuschlagen konnte. Heute war Jack the Ripper bestimmt ein uralter Mann. Aber eine Bestie in Menschengestalt mit einem scharfen, blitzenden Messer. Und wenn er jetzt, gerade in diesem Augenblick hier auftauchte und die beiden Mädchen fand?
Die Vorstellung vom plötzlichen Erscheinen des Unheimlichen ließ den beiden Mädchen eine angenehme Gänsehaut über den Rücken rieseln. Und dann machten sie sich gegenseitig Mut, was sie dann tun würden, wenn der Ripper auftauchte. Und wie sie ihn besiegen würden. Ja, und sie erzählten sich dann gegenseitig, was dann die Zeitungen über zwei mutige Girls aus Whitechapel schreiben würden, die es geschafft hatten, den unheimlichen Mörder endlich zu überführen und dingfest zu machen.
Das die Schreckenstaten Jack the Rippers damals schon fast ein Jahrhundert zurück lagen und die Bestie von Whitechapel schon wegen dieser langen Zeit längst tot sein musste, bedachten Patsy und Susy damals nicht. Wer wird Jahre zählen, wenn es drum geht, sich gegenseitig mit schrecklichen Geschichten ganz toll zu gruseln.
Die Angst der Kindertage vor Jack the Ripper wurde später für Patricia Brandsey und Susanna Collins ein Job. Clevere Reiseagenturen veranstalteten Trips für Touristen auf den Spuren des Ripper durch Whitechapel. Und weil Susy und Patsy hier aufgewachsen waren und jeden Winkel von Whitechapel kannten, wurden sie schnell als Führerinnen engagiert, die neugierige Besucher zu all den Winkel im District führten, wo der Ripper vor hundert Jahren zugeschlagen hatte. Und geduldig diskutierten sie mit den Touristen, ob denn nun tatsächlich der Leibarzt der seligen Queen Victoria oder sonst einer vom britischen Hochadel der unheimliche Mörder war und man seinerzeit die wahre Identität des Ripper von allerhöchster Stelle vertuscht hatte.
Jeder Tag brachte neue Touristen und stets gingen Patricia und Susanna die gleichen Wege. Bis dann irgendwann Henry Mc Cronach aufgetaucht war.
Er gehörte zu Susannas Gruppe und hatte während der Führung mehr Blicke für die junge Frau an der Spitze der Touristenschar als für die Straßen und Plätze, an denen der Ripper die Prostituierten auf entsetzliche Weise mit einem scharfen Messer getötet hatte. Bei der Rückkehr zur Agentur sagte Susy ihrer besten Freundin für den heutigen, schon fast traditionellen gemeinsamen abendlichen Tee ab.
Am nächsten Tag lag bei der Whitechapel-Agentur Susanna Collins Kündigung im Briefkasten. Und eine Woche später erhielt Patricia den ersten Brief aus Schottland. Susy hatte in Greetna Green an der Grenze zwischen England und Schottland geheiratet. In besonderen Fällen durfte diese Zeremonie dort noch nach dem uralten Ritus durch den Schmied vollzogen werden. Die Brautleute legten die Hände ineinander und der Schmied senkte leicht den Hammer darauf. So schmiedete er die Liebenden auf immer und ewig zusammen. Ein schöner, uralter Brauch, der in Schottland heute noch gepflegt wird. Auch, wenn diese Art der Eheschließung vor dem Gesetz in den meisten Fällen keine Gültigkeit hat. Aber Susy und ihr Henry hatten diese Angelegenheit auf der Durchreise bereits auf dem Standesamt in Nottingham geregelt. Der Hammerschlag von Greetna Greene war nur eine rituelle Besiegelung einer vor dem Gesetz rechtsgültig geschlossenen Ehe.
Susanna Collins war nun also verheiratet und hieß jetzt Susanna Mc Cronach. Sie lebte mit ihrem Henry irgendwo im Herzen der Highlands in einem alten Herrenhaus inmitten einer Moorlandschaft und war sehr glücklich. Jetzt plagten Susy die Gewissensbisse, dass sie sich so rasch davon gemacht hatte, ohne sich wenigstens von ihrer besten Freundin gebührend zu verabschieden. Um die Sache wieder gut zu machen, lud sie Patricia Brandsey für die nächsten Sommermonate zu einem Urlaub in Schottland ein.
Doch was nützt alle Planung des Menschen, wenn in dem ewigen Buch, das nur Gott allein zu lesen versteht, diese Planung nicht verzeichnet ist.
Denn der Tod löst alle Versprechen. Und er zerstört alle Gedanken und Träume.
Rasch kommt er herbei, der ewige Schnitter. Und er reißt den Menschen mitten heraus aus seiner Bahn des Lebens. Egal, ob er das Leben in hohem Alter vollendet hat oder in der Blüte seiner Jugend steht.
Mit ihren siebenundzwanzig Jahren verschwendete Susanna Collins, jetzt Susanna Mc Cronach, noch keinen Gedanken an den Tod. Doch dann hatte jene unheimliche Kraft, die stets als bleiches Gerippe mit der Sense dargestellt wird, die Sanduhr über Susanna Mc Cronach gehoben.
Was die Knochenfinger hielten, war Susannas Lebensuhr, durch die letzte Sandkörner verrannen.
Nur ein kurzes Aufflackern des Glücks gönnte das grausame Geschick Susys Lebenskerze. Dann war die Flamme erloschen.
Der Knochenfinger des Todes hatte Susanna Mc Cronach gewunken. Und auf diesen Wink musste sie die Reise in die Ewigkeit antreten...
***
Wie hatte sich Patricia auf diesen Sommer gefreut, in dem sie ihre Ferien bei Susy in den Highlands verbringen wollte. Welche Pläne hatten die beiden jungen Frauen in ihren Briefen geschmiedet. Und dann hatte Patricia eines Tages nach Mitternacht auf ihrem Computer eine E-mail gefunden, die in kalten, knappen Zeilen die Nachricht von Susannas Tod verkündete.
Ohne zu zögern rief Patricia noch in der Nacht ihren Chef an. Sie wollte einige Tage frei haben, um nach Schottland zu fahren, um ihre Freundin auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Und als Mr. Havart ihr höchst ungnädig den Urlaub verweigerte, hatte sie kurzerhand den Job gekündigt, einige Kleidungsstücke in zwei Koffer gerafft und sich auf den Weg nach Schottland gemacht.
War es auch Patricia nicht mehr vergönnt, Susanna lebend in die Arme zu schließen. Auf ihrem letzten Weg sollte Susy die beste Freundin ihres diesseitigen Lebens an ihrer Seite wissen. Das war ihr Patsy für die lange Zeit treuer Freundschaft schuldig.
Warum musste das Schicksal so hart sein? Warum hatte es diese junge, lebenssprühende Frau mitten aus dem Leben gerissen? Wie konnte es geschehen, dass Susy so plötzlich sterben musste?
Wie hatte sich Patsy darauf gefreut, ihre Freundin glücklich vereint mit dem Mann, den sie liebte, vorzufinden und für einige Tage dieses Glück zu teilen. Doch die ewigen Mächte hatte es anders bestimmt.
Susanna Mc Cronach war tot. Kurz und knapp stand in der E-mail wie in einem Telegramm zu lesen. Wie Susy gestorben war und warum, darüber gab der kalte Wortlaut des Nachricht im Computer keine Auskunft. Nur der Ort und der Zeitpunkt der Beisetzung war vermerkt.