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Platz der Engel: Ein Klimaroman
Platz der Engel: Ein Klimaroman
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eBook510 Seiten6 Stunden

Platz der Engel: Ein Klimaroman

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Über dieses E-Book

"Unsere Erde ist ein Platz der Engel, den wir bewahren und beschützen müssen."
Gabriele Kiefer

Die Welt wird überrollt von den Ereignissen der Klimakatastrophe: Hitzewellen und Hagelschläge, Wirbelstürme und Überschwemmungen beuteln die Menschen überall auf der Erde. Als eine Reihe von Tornados ganz Portugal verwüstet, muss Europa handeln und richtet einen Energiepass ein, der den persönlichen CO2-Verbrauch reguliert. Martha sieht sich und ihre Familie unversehens im Zentrum des Geschehens. Denn gleichzeitig gewinnt die Protestbewegung AQUA an Einfluss, zu der auch ihre Enkelin Marie gehört. Mitten in dieser sich rapide verändernden Alltagswelt fegt plötzlich ein Orkan durch die Stadt und fordert ein blutiges Opfer.

Kenntnisreich und brandaktuell skizziert Gabriele Kiefer, wie die Welt von morgen die Menschen von heute aus der Bahn wirft. Zugleich zeigt sie die Chancen einer Energiewende auf.
SpracheDeutsch
HerausgeberZweitausendeins
Erscheinungsdatum28. Nov. 2019
ISBN9783963180682
Platz der Engel: Ein Klimaroman

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    Buchvorschau

    Platz der Engel - Gabriele Kiefer

    Nachwort

    Erstes Buch

    Prolog

    Eine Reise durch die Luft hatte Marie sich immer leicht wie den Kuss einer Erinnerung vorgestellt. Aber sie befand sich nicht auf einer Reise, und die Orkanböe war keine safrangelbe Rikscha, die im farbenreichen Indien inmitten von viel Lärm und fremden Gerüchen auf sie warten würde. Dieser Orkan hob sie vielmehr mit einer für sie schier unfassbaren Naturgewalt vom Boden, als wollte die dunkle Seite des Himmels ausgerechnet an ihr Rache üben und sie der Macht von monströsen Winden ausliefern, die kein Erbarmen kannten. Mit jeder Faser ihres Körpers fühlte sie auch die beklemmende Angst, beim Runterfallen auf der Erde zu zerplatzen. Dabei war sie doch erst sechzehn.

    Unter dem Schutz eines weit herausragenden Dachgiebels sah Marie den schräg geneigten Kopf einer Ringeltaube. Den Leichtsinn seiner Neugierde büßte der Vogel umgehend. Die Orkanböen zerfetzten erst die Flügel, die Ringeltaube riss vor Schmerz den Schnabel auf, dann wurde sie kopflos gegen das Dach geschleudert.

    Doch Marie vernahm keinen Laut, nicht einmal das Heulen des Sturms, nicht das unheilvolle Brausen der letzten Minuten, nicht die Schreie der panisch herumirrenden Menschen auf der Straße. Auf dem Weg nach oben hörte sie überhaupt keine Geräusche. Sie spürte nur, dass die Böe sie in ihren starken Armen in dieses düstere Gewölbe aus bittergrauen Wolken trug.

    Wo waren all die Menschen, die sie vergeblich vor einem Orkan dieser Stärke gewarnt hatte? Und jetzt sollte ausgerechnet sie bei einem Orkan den Tod finden? Vor einigen Minuten hatte das Leben noch in allen Farben vor ihr gelegen.

    Sie stieg höher, ohne es zu wollen und auch ohne den Gedanken stoppen zu können, bald tot zu sein. Sie wollte nicht sterben, nicht heute, nicht jetzt.

    Aber die Menschen auf der Straße wurden nicht nur merklich kleiner und hätten sie aus dieser Distanz nicht einmal mehr auffangen können. Ihre Gesichter waren plötzlich blutig zerschnitten, die Hosen, Jacken und Kleider vom durchsickernden Blut hässlich rot gefärbt.

    Mit banaler Gnadenlosigkeit hatte der Orkan all die Glasscherben aufgehoben, in Millionen Splitter zerteilt und kokett wieder abregnen lassen, denn die Eltern hatten zur Rettung ihrer Kinder überall Schaufenster eingeschlagen. Bei jedem neuen Splitterhagel schrien die Menschen um Hilfe. Marie konnte es an ihren Mündern erkennen, Gesichter voller Furcht, Schmerz und Verzweiflung.

    In der Strategiegruppe letzte Woche hatten sie noch darüber diskutiert. Marie hatte ein Konzept vorgelegt. Auch bei AQUA gab es kritische Stimmen, die glaubten, sie neige zur Übertreibung. Marie hatte darauf gepocht, diejenigen Straßenzüge zu kategorisieren, die bei Orkanen gefährdet waren. Auf denen durfte keinesfalls etwa das Straßenfest einer Grundschule stattfinden, um die Besucher und Kinder bei starken Stürmen nicht der Gefahr von »Düsenwinden« auszusetzen, wie die Experten sie nannten.

    Die Grundschule ihrer Geschwister veranstaltete jedes Jahr so ein kilometerlanges Spektakel mit Wurfbuden, Kuchenständen und Musikbühnen. Nur diesmal war es gründlich schiefgelaufen. Trotz aller Wetterwarnungen fehlte ein Katastrophenplan. Das hatte sie sofort erkannt bei der Suche nach ihren jüngeren Geschwistern Sarah und Tim, an der Seite ihrer Großmutter Martha, die sie nicht mehr Großmutter nennen sollte, Martha, deren Entschlusskraft sie immer bewundert hatte.

    Die Kinder hatte Martha in Sicherheit bringen können. Sie aber hing kerzengerade in der Luft, gefangen im Seil der Hüpfburg und wünschte sich an die Hand der Mutter, wollte den Atem ihres weichen Trostes spüren, hören, dass gut ausgehen würde, was nicht gut ausgehen konnte.

    Sie würde das Flugzeug nach Indien nicht erwischen. Niemanden wiedersehen, im Herzen bei ihnen sein. Das war die letzte Gewissheit. Sie schloss die Augen. Sie spürte den Abwärtssog.

    Und an einem Tag, als der Himmel sie mit seinem hungrigen Maul verschlang, bevor er sie wieder ausspuckte, als die finsteren Dämonen endlich Ruhe gaben und die Wolken sich wieder geordnet wie eine Bibliothek des Friedens, im Glanz der Sonne zeigten, an diesem Tag starb Marie, was vierundzwanzig Stunden vorher niemand für möglich gehalten hätte.

    Kapitel 1

    Jetzt strahlt der Himmel im Frühling schon blau wie ein kalifornischer Swimmingpool, stellte Martha verwundert fest und dachte daran, wie oft sie als Kind auf das seltene Azurblau des Hochsommers gewartet hatte, in dem innigen Wunsch, es für ihren Malkasten vom Himmel kratzen zu können.

    Martha erinnerte sich noch genau an ihren ersten Malkasten. Er war eine kantige Blechdose mit gewölbtem Deckel, die jahrelang nach dem weihnachtlichen Duft von Waldhonig und den würzigen Zutaten aus fein gemahlenen Nelken, Kardamom und Anis von Großmutters Lebkuchenmännern gerochen hatte.

    Vier Wochen vor Weihnachten begann die Großmutter, feine Linien aus einer Spritztüte mit weißem Zuckerguss auf die frisch gebackenen Lebkuchenmänner zu träufeln. Vorsichtig legte sie das getrocknete Backwerk dann zur Aufbewahrung in die mit englischen Rosen bedruckte Blechdose und gab Apfelschalen dazu, sonst wurde der Lebkuchen steinhart.

    Ihre märchenhafte Großmutter, die alle wegen der veilchenblauen Augen, den rosigen Wangen und der biegsamen Gestalt für ihre Mutter hielten. Der Pfarrer hatte Martha sogar einmal gefragt, ob der Vater mit der Mutter seiner verstorbenen Frau unter einem Dach in einem Bett schlafe.

    Statt einer Antwort hatte Martha dem Pfarrer wahrheitsmäßig gebeichtet, dass der Vater und die Großmutter am Wochenende abends oft bei einem Glas Wein und herzlich lachend vor goldenen Tapeten auf einer tannengrünen Ledercouch saßen.

    Warum ihre Großmutter trotzdem über Nacht mit einem Fremden verschwunden war, das würde Martha wohl nie erfahren. Die Dorfbewohner munkelten, der Mann in Uniform habe sie auf einem amerikanischen Motorrad in sein Land entführt. Ihr Vater hielt das für eine infame Lüge, eine plausible Erklärung für das Verhalten ihrer Großmutter konnte er aber auch Jahre später nicht liefern.

    Von ihrer Mutter kannte Martha wenigstens den Grabstein. Von der Großmutter waren ihr nur die Farben des Gartens und die Blechdose geblieben.

    Eine Weile nach ihrem Verschwinden hatte Martha begonnen, Farben in der Blechdose zu sammeln. Für das Lippenrot hatte sie Blut aus den aufgeritzten Fingerkuppen tropfen lassen, direkt neben den brummig gelben Schnipseln aus Sonnenblumen und Goldrute. Für das Grün zupfte sie Gras und Brennnesseln, ein schwaches Violett schenkte ihr der Lavendel.

    Anders als ihre Großmutter hatte sie im Frühjahr das wilde Vergissmeinnicht ausgerupft und im Juli die zarten Kornblumen geköpft. Doch wie die meisten blauen Blüten verblassten sie zu schnell, als Malfarbe taugten sie nichts.

    Lange her, dachte Martha, als sie über den Laptop zum Fenster hinaussah, damit sich ihre Augen im Blau des Himmels von dem digitalen Geflimmer ihres Bildschirms erholten.

    Verrückt nach der Farbe Blau war sie erst in Afghanistan geworden, damals, während ihrer Zeit als Restauratorin. Hoch oben im Norden von Afghanistan, in den bleichen Gebirgen, die schroff und abweisend wie eine Warnung in den Himmel ragten, wurde seit siebentausend Jahren unter vielen Mühen der blaue Halbedelstein Lapislazuli abgebaut. Aus dessen Pigmenten entstand das teure Ultramarin, die blaue Farbe, die über das Meer gesegelt kam. Bereits im Mittelalter hatten die Maler damit ein lichtechtes Blau auf die Leinwand zaubern können, stumm im Dank an all die Männer aus Steinbrüchen, die Händler, die Seefahrer, die ihnen diese allumfassende, begehrte Klangfarbe des Lichts ermöglicht hatten.

    In Marthas Ohren rauschten die Wellenbrecher, Kracher, die an den Bug eines Schiffes schlugen, geschmückt von weißen Perlen aus Ozeanschaum.

    »Fünf Minuten Pause reichen dem Auge«, tönte Frau Maurer, die das Fortbildungsseminar leitete, den das Arbeitsamt für digitale Schafe wie Martha eingerichtet hatte.

    Martha starrte auf die Uhr. Ein volles Wochenendprogramm wartete auf sie. Morgen fand das Straßenfest von Tims und Sarahs Grundschule statt. Hoffentlich meckerte Eduard nicht wieder, dass seine älteste Enkelin Marie vorzeitig die Schule abgebrochen hatte. Denn heute stand nach dem Ende des Kurses die Geburtstagsfeier von Eduards einziger Tochter Chantal auf dem Programm, die ihm drei Enkel geschenkt hatte.

    Martha sah die Kursleiterin näherkommen. Leider überprüfte Frau Maurer trotz der Vitalität ihrer fünfundvierzig Jahre stets mit hängenden Mundwinkeln, ob ihre Anweisungen befolgt wurden. Martha senkte widerwillig den Blick.

    Abgeschirmt von weißen Pappwänden erschien ihr in der wabenförmig angelegten Computerkoje nichts mehr, wie es einmal war. Die Aufgabe der Woche wartete.

    Peppige Überschriften wurden verlangt, griffige Formeln für den einen grenzenlos guten Bericht, der ihre Abschlussnoten maßgeblich beeinflussen würde, wie Frau Maurer nicht aufhören konnte zu wiederholen. Ganz so, als hätten ihre erwachsenen Schüler im reiferen Alter den Sinn und Zweck von Noten vergessen.

    Warum musste ich mich auch von Sophie überreden lassen, diesen Kurs zu belegen, dachte Martha und sehnte sich nach der Kühle einer Kirche, nach dem muffigen Geruch von abgestandenem Weihrauch, seit Jahrhunderten als Stimmungsaufheller bewährt.

    In alten Kirchengemäuern fühlte sie sich geborgen. Die Säulen flößten ihr Respekt ein, die vollendete Stille, ohne erdrückende Probleme, womit sie prompt bei dem von Frau Maurer gegebenen Thema für ihren Artikel im »Kurs Internet kompakt. Berichte aus aller Welt« angelangt war: Portugal.

    Sie sah den blauen Himmel von Portugal wieder vor sich, eine Kopie des keuschen Blaus von Michelangelo. Zu jedem billigen Urlaubskatalog hätte dieses heitere Ferienblau des portugiesischen Himmels gepasst. Doch innerhalb kürzester Zeit waren aus Wolkenkrallen Unwetterwarnungen geworden und hatten sich zu Tornadorüsseln formiert auf die Erde sinken lassen. Martha tippte zum dritten Mal eine neue Überschrift in die Tasten: Naturkatastrophe spaltet Portugal in Überlebende und Retter!

    Als sei es erst gestern passiert. Der Rhythmus der Jahreszeiten war seit langem zur Wetterlyrik verkommen. Nach Jahresbeginn regierte in Gebieten mit milden Temperaturen plötzlich eine Kälte wie früher in Grönland. Zeitgleich spielte im Herzen Europas mitten im Winter der Frühling wie ein Prahlhans mit den Muskeln und schickte solange die Sonnenstrahlen auf die Erde, bis die Enten sich im Januar vor den verblühten Hyazinthen paarten.

    Das echte Frühjahr glänzte folgerichtig mit einem Sommergesicht. Zum Schaden der Bauern konnte das Frühjahr nicht alle Nachtfröste im Mai bändigen, was die Knospen erfrieren ließ. Der beleidigte Sommer pendelte dafür unentschieden zwischen gnadenlosen Hitzewellen und einem Gemischtwarenladen aus heftig schwankenden Temperaturen, unterbrochen von Phasen ergiebiger Starkregen-Gewitter.

    Auf der Wetterkarte balgten sich sportlich gerüstet die Kälte- und Wärmefronten in den erstaunlichsten Konstellationen und hetzten Stürme über den Globus; irgendein Land traf es immer, und diesmal war es eben Portugal.

    Von Waldbränden ausgezehrt, bot Portugal die idealen Bedingungen. Wenige Wochen nach Silvester waren Tornados in einem bislang nicht gekannten Ausmaß über die Atlantikküste hergefallen und ungehindert bis tief ins Landesinnere vorgedrungen.

    Mehrere Monate waren seitdem vergangen. Aber die Medien verdauten nur langsam die schrecklichen Geschehnisse. Auch für Frau Maurer war Portugal selbstredend ein Topthema. Seit Wochen bombardierte sie die Klasse mit Wetterkarten, Schautafeln und Trickfilmen über die Entstehung von Tornados.

    Als wäre nicht halb Europa unmittelbar nach der Katastrophe darüber informiert worden, dass es seit einiger Zeit wiederholt kleinere Wirbelstürme an den Küsten Spaniens und Portugals gegeben hatte. Nicht nur Deutschland hatte mit diesen schrecklichen Begleitern von Starkregen und Hagelschauern seit geraumer Zeit zu kämpfen.

    Dennoch war niemand und erst recht nicht zu dieser Jahreszeit in Portugal darauf vorbereitet gewesen, die großen Brüder der Windhosen kennenzulernen: Die Tornados. Als Ausnahmeerscheinung hatten die Tornados in vereinzelten Gebieten Europas, über die Jahrhunderte verteilt, längst traurige Berühmtheit durch die Höhe ihrer Opfer erlangt, ganze Dörfer oder Stadtteile ausradiert. Aber das lag lange zurück.

    In den Augen der Öffentlichkeit waren die Schäden der Windhosen in der letzten Zeit bis auf wenige abgelegene Regionen überschaubar geblieben. Wegen ein paar ausgerissener Bäume oder abgedeckter Dächer regte sich in Südeuropa niemand lange ernsthaft auf.

    Auch in Deutschland redeten nur wenige davon, dass ein für die letzten Jahrzehnte ungewohnt heftiges Naturereignis Europa zunehmend heimsuchte. Die Bevölkerung nahm es hin, solange man kein Opfer persönlich kannte. Die Wissenschaftler kreisten die Gebiete ein; die NASA hatte schon im Jahre 2017 Wolkenkrallen vor Portugal gesichtet, die zu Tornadorüsseln führen konnten, und zwar lange vor der üblichen Sturmphase im Herbst. Martha schrieb ihren Absatz weiter.

    Es gab keine Zeit, es fehlte ein Notfallplan, Mensch und Vieh an die Grenzen Portugals zu evakuieren. Ein Tornado reihte sich an den nächsten, sie verteilten sich über die ganze Küste. Der Schiffsverkehr wurde umgehend eingestellt oder in den Norden verlegt. Zunächst fegten die Tornados in Portugal kilometerlange Küstenstriche ins Wasser, bevor sie sich ohne Abschwächung ins Landesinnere begaben und dort Verwüstungen ungeahnten Ausmaßes anrichteten.

    Martha mochte gar nicht an die Bilder denken. Nicht nur die kleineren Ortschaften an der Küste hatten die Tornados mit Wucht getroffen und waren zu einem archaisch anmutenden Trümmerfeld geworden. Ein nur halbwegs zerstörter Balkongiebel zeugte da noch vom Glanz vergangener Tage.

    Felder glichen aufgerissenen Wunden, entwurzelte Olivenhaine einer erbärmlichen Ansammlung Holz, die Rebstöcke der Weinberge schienen wie niedergemetzelt. Ob weiß getünchte, alte Kirchen, deren Glockentürme zu Pulver zermahlen waren, nobel gestylte Villen mit ihren blauen Fliesen um Türen und Fenster, oder die rustikal angelegten Bauernhöfe – rein gar nichts hatte sich der allumfassenden Kraft der Tornados widersetzen können.

    Von Städten mit einem jahrhundertealten Stadtkern blieben lediglich einsturzgefährdete Steinhaufen übrig. Aus einst intakten Industrieanlagen loderte überall das Feuer, und Gas zischte aus geplatzten Rohren und geborstenen Tanks. Vormals gepflegte Wohnanlagen waren fensterlos, die Treppenhäuser ohne schützende Fassade nicht mehr zu betreten. Die Dächer hingen schief verwinkelt herunter; unter der Last des Gewichts gaben die Stockwerke nach und raubten den Häusern die Statik. Die Tornados hatten sich umfassend durch Portugal gepflügt, dass man das Gefühl hatte, Larven und nicht Menschen kämen staubverkrustet aus den Trümmern gekrochen.

    Martha setzte ihren Artikel fort.

    So, wie die Wirbelstürme die Vereinigten Staaten aufgerüttelt hatten, ist Europa aus seinem Traum gerissen worden, von den Folgen des dramatischen Klimawandels weitgehend verschont zu bleiben. Politiker sprechen bereits von der Tornadisierung Europas. Denn Tornados in dieser Stärke, Anzahl und über so eine große Fläche verteilt, sind bisher in Europa nicht vorstellbar gewesen. Wissenschaftler vermuten eine Veränderung der Jetstreams, der die Luftmassen in höheren Lagen bewegt und von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird, die dem Anstieg der Temperaturen weltweit geschuldet sind.

    Sie alle waren mit einer neuen Dimension des Grauens konfrontiert worden. Martha zumindest empfand seit Portugal Europa nicht mehr länger als Länderdecke, in der einige Regionen intensiver dem Klimawandel ausgesetzt waren, als andere.

    Es gab keinen Gradmesser an Elend zwischen den Opfern von österreichischen Schlammlawinen und norddeutschen Deichbrüchen. Die Folgen für ein überflutetes Berlin waren vielleicht erträglicher, als das ausgedörrte Rom oder das unter sengender Hitze leidende Brandenburg, dem das Wasser ausging.

    Sämtliche Küstenstädte Europas sorgte der instabil werdende Boden, der völlig neue Anforderungen an Bauwerke stellte. Einige hatten schon vorher nicht dem geltenden Baurecht entsprochen. Die Kronjuwelen der Küste sahen sich aber plötzlich mit der Last von Stürmen und den steigenden Meerestemperaturen konfrontiert; das war, als wenn man warmes Wasser auf eine Sandburg schütten würde. Dazu kam der über die Jahre angewachsene Verkehr. Die Paarung aus zugebauten Flächen und Baustoffe zersetzender Meeresluft bildete eine unheilvolle Allianz. Sie brachte Gebäude und Brücken zum Einsturz, die bis dahin als sicher galten.

    Jedes europäische Land hatte eben inzwischen auf seine Art mit den Folgen des Wetterwandels zu kämpfen. Hagelkörner groß wie Eier kannten sie alle.

    Wie so viele hatte Martha seit Jahren auf dem Phänomen von Wetterkapriolen beharrt, die es seit Menschengedenken gegeben hatte und stets geben würde. Sie hatte die Klagen der Bauern seufzend registriert und die hohen Obst- und Gemüsekosten toleriert. Aber aus dem Schatten der schleichenden Wahrnehmung heraus waren sie in der Summe nicht mehr länger Ausnahme, sondern die Regel.

    Das Wetter änderte sich überall, auch in Europa, der Klimawandel war nicht nur auf der Wetterkarte angekommen. Er wehte vielmehr in den Alltag, wann immer es ihm passte. Der Fluch der Unberechenbarkeit konnte jeden vor der Haustür treffen, in der Schule, auf einer Geschäftsreise oder im Urlaub.

    Aber solche Bemerkungen hätte Frau Maurer als ehemalige Chef-Redakteurin einer großen Zeitung sofort aus dem Text gestrichen. Abgeklärt, wie Frau Maurer war, verwies sie darauf, dass nur erfahrene Journalisten Prognosen mit Meinungen und Fakten mischen durften. Anfänger dagegen hatten sich den Details zu widmen, dem Einmaleins des Berufs.

    Martha fiel eine frisch blondierte Haarsträhne ins Gesicht, für Eduard vor Jahren noch ein vertrautes Zeichen, zum Liebesspiel überzugehen. Auf sein Augenzwinkern hin hatte Martha sich lasziv auf die Werkbank in Eduards penibel aufgeräumtem Keller gelegt, die vibrierenden Sägeblätter vor Augen, das metallische Zittern. Bei jeder ihrer Bewegungen wackelten die nach Größe aufgereihten Schraubenzieher in ihren Halterungen, als wären sie Wächter der Leidenschaft. Stieg die Ekstase, konnten sie beide keine Rücksicht mehr auf hemmende Schraubstöcke, Schachteln voller Muttern und Dichtungen nehmen. Sie glitten auf den kühlen Steinboden, wälzten sich kurzatmig, stöhnten zügellos vor Lust, bis sie all ihre Liebe zu einem Festival der Sinne bündelten und in Schweiß gebadet splitterfasernackt aneinanderklebten.

    Was war Eduard früher für ein Wüstling gewesen, voller Einfälle und vor Esprit sprühend. Nichts hatte sie je vermuten lassen, dass aus diesem Charmebolzen einmal ein mürrischer Alter werden würde.

    Inzwischen war Eduards kantiges Gesicht notorisch unrasiert und die ehemals sportlichen Beine waren krumm wie die Säbel in den Museumsvitrinen des ägyptischen Nationalmuseums in Kairo. Das Museum lag inmitten eines Gewimmels aus Seitenstraßen, aus dem tagsüber Menschenmassen quollen, dass man glaubte, in der Menge verloren zu gehen. Martha hatte das nie gekümmert. Sie war schließlich keine Touristin, sondern als Restauratorin auf dem Weg zur Arbeit ins Museum unterwegs gewesen.

    Das Ziel vor Augen, kannte sie bei dem hektischen Treiben auf den Märkten Kairos nicht den Anflug von Nervosität. Streit zwischen aufgeregten Händlern und flinken Dieben führte rasch zu Handgreiflichkeiten, aber Martha hatte das nie gekümmert.

    Sie hatte der Angst früher einfach in keinem Land der Welt Raum gewährt, wozu auch?

    Heute hingegen bescherte ihr die Angst Räume voller Albträume. Gefängnisräume, aus denen es kein Entrinnen gab, die ihre Atemwege lähmten, ihr Herz gespenstisch schnell hochschlagen oder sogar aussetzen ließen. Erst unlängst hatte Martha sich in einer Kirche auf einer knarzenden Holzbank wiedergefunden und sich nach den beschützenden Armen ihres verstorbenen Vaters gesehnt, den sie nur selten in die Kirche begleiten durfte. Dabei war ihr Vater kein normaler katholischer Kirchgänger gewesen, wie die anderen in der Verwandtschaft. Niemals hätten ihre Tanten und Onkel sonntags die Predigt des Pfarrers verpasst, undenkbar in einem Dorf im Rheinland.

    Buße und Sünde hießen die Schwerter für die Gerüchteküche des Dorftratschs, die ein jeder fürchten musste, der sonntags lieber im Bett liegen blieb und somit auch auf das sonntägliche Besäufnis in der Dorfkneipe verzichten durfte.

    Ihr Vater dagegen hatte Gott den Tod seiner Frau in Rechnung gestellt, ihm nicht verziehen, dass ihre Mutter unmittelbar nach Marthas Geburt gestorben war. Den Tod seiner Frau hatte er nicht als Strafe verstanden, ihr Vater hatte sich gegen jede Bitterkeit gewehrt. Ihn kümmerte kein Geschwätz, die Dorfkneipe mied er seit jeher. Den Spott der Nachbarschaft ignorierte er und sorgte lieber in jeder freien Minute für seine Martha. Er gedachte täglich seiner verstorbenen Frau, die Gott ihm aus einem Missverständnis heraus nicht gegönnt hatte. Aus diesem Grund musste die Kirche für ihren Vater leer sein.

    Allein saß er dann vor Wut brodelnd auf einer Bank. Er rang mit den Händen flehend um Gottes Gunst, ihm wenigstens Martha zu lassen, was anscheinend für ihn ebenso anstrengend wie für Gott war, glaubte er doch, dass man Gott nicht allzu oft anrufen durfte, sonst wurde Gott unwillig und wandte sich ab.

    Besenkammergott hatte Onkel Heinrich das genannt, weil ihr Vater Gott benutzte, als könne man ihn ruhig eine Zeit lang in die Besenkammer stellen und erst wieder herausholen, wenn es einem passte. Aber Onkel Heinrichs Kommentare hatten ihren Vater weder gestört noch davon abgehalten, weiterhin ohne die liebe Verwandtschaft die Kirche zu besuchen.

    Und nun suchte sie plötzlich selbst regelmäßig Kirchen auf, nicht um die verblichenen Farben zu studieren, den Einfallswinkel des Lichts zu berechnen, die Sonnenuhr im Kopf, das Mondlicht im Gedächtnis, um die passende Farbwahl einzuschätzen und anschließend in Katalogen und Fachgeschäften nach dem passenden Ton zu suchen. Wie oft hatte sie sich schon gefragt, ob sie nur deshalb Restaurateurin geworden war, um ihres Vaters kaputter Welt wenigstens in einer Kirchenkuppel Linderung zu verschaffen? Unzählige Kirchen hatte sie restauriert und Tonnen von hellblauer Himmelsfarbe millimetergenau neben barocken Engelswangen platziert. In Kirchen hatte sie gespachtelt, gehämmert und gemalt. Aber niemals wäre ihr im Traum eingefallen, dass sie einmal in einer Kirche Gott bitten würde, ihre Familie und Freunde vor den Folgen einer sich rapide ändernden Natur zu schützen.

    Martha spürte die Wärme von Frau Maurers gewaltigen Brüsten, die Stupsnase der Lehrerin tauchte neben ihr auf.

    »Denken Sie daran, Martha, was wir besprochen haben. Auch der Internetuser ist ein Leser, der nicht ausschließlich über die trübsinnigen Fakten informiert werden möchte, sondern über alle möglichen positiven Schlussfolgerungen. Man darf den Leser nicht hilflos wie einen nassen Waschlappen an der Leine hängen lassen. Wir haben eine Aufgabe. In den heutigen Zeiten müssen die Medien sich ihrer Verantwortung bewusst sein, sonst verkommen sie zu Halunken, die mit der Angst der Menschen Kasse machen. Haben Sie das verstanden?«

    Martha nickte ihr milde lächelnd zu. Die meiste Zeit über hielt sie Frau Maurer für einen Hausdrachen, dem sie am liebsten nie begegnet wäre. Aber wenn Frau Maurer für die Pressemoral kämpfte, erschien sie ihr direkt menschlich, obwohl sie Frau Maurers Meinung nicht teilte. Kein Leser sollte eingelullt werden, sondern Herr seiner eigenen Meinung sein.

    Martha setzte ihren Artikel fort.

    Die europäischen Staaten haben ein beispielloses Netzwerk erschaffen, um Portugal wiederaufzubauen. Manche sprechen davon, dass erst das Leid das moderne Europa zusammengeschweißt hat. Nie zuvor hat es einen reibungsloseren Zusammenschluss von staatlicher Hilfe und privater Unterstützung in der Europäischen Union gegeben. Aufgrund der vielen Initiativen sind die gröbsten materiellen Schäden in Rekordzeit beseitigt worden, womit ein Weltwirtschaftskollaps verhindert wurde.

    Es blieb die Frage nach der Zukunft. Auch davon wollte Frau Maurer nichts hören. Niemand wagte sich auszumalen, was weiter auf sie zukommen könnte, vor allen Dingen nicht, in welchem Zeitrahmen. Die hehren Ziele des Pariser Abkommens zur Reduzierung der Erderwärmung und Senkung des CO2-Ausstoßes erschienen angesichts der Dynamik der Ereignisse selbst den ausgewiesenen Experten mit einem veralteten Schulbuch vergleichbar.

    Über Jahrzehnte hatten sämtliche Wissenschaftsgremien über die Gefahren des Klimawandels aufgeklärt, gewarnt, aber auch sie registrierten mit Erstaunen die rasante Entwicklung, die ihre Prognosen ins Jahrbuch der Geschichte schoben.

    In Asien und Afrika hielten Überschwemmungen und Dürreperioden die Ärmsten der Armen im Würgegriff umklammert. Aber das ferne Afrika, die Küsten Asiens, das waren bislang Randnotizen in den Zeitungen gewesen, oder kurze Fernsehausschnitte in den Nachrichtensendungen. Wen berührte das über ein spendenfreudiges Mitleid hinaus, solange man sich persönlich in Sicherheit wähnte?

    An die heimischen Hitzewellen hatte man sich nicht eben gewöhnt, geschweige denn an die Regengüsse, die an Stärke und Dauer alle Rekorde schlugen.

    Gut, die Stürme waren kraftvoller und zahlreicher geworden, die Jahreszeiten launischer und an den Enden ausgefranst. Aber ein halbwegs normaler Sommer ließ doch alle gleich glauben, die Apokalypse liege in weiter Ferne. Nichts hatte auf eine Katastrophe innerhalb Europas hingewiesen, wie sie nun in Portugal stattgefunden hatte.

    Martha bezweifelte, dass sich die Natur mit Portugal zufriedengeben würde! Beim Friseur gestern hatten sie auch über nichts anderes geredet. Jeder führte sich plötzlich wie ein Experte auf und kannte die richtige Analyse, den überzeugenden Wissenschaftler, dessen Prognose man vertrauen konnte.

    Und Eduard?! Der platzte vor Wohlbehagen, der labte sich am Untergang der Welt. Endlich konnte er seinen Pessimismus in sämtlichen Facetten genießen.

    Martha fiel prompt wieder Sophies Kommentar ein, als sie sich bei ihr vor Monaten schon über Eduards permanentes Jammern beschwert hatte, weil sie glaubte, es nicht mehr ertragen zu können.

    »Martha, dein Vater war doch auch so ein Trauerkloß. Vielleicht möchte Eduard dir mit seinen dunklen Gesängen eine Art Heimat bieten? Könnte natürlich sein, dass sich die Geschichte irgendwann verselbstständigt hat. Aber was ist, wenn er bei anderen Menschen gar nicht als Trauerkloß gilt?«

    Nur Eduard zuliebe hatte Martha ihre Arbeit aufgegeben, um mit ihm gemeinsam seinen Ruhestand zu genießen. Nach dem anfänglichen Glücksrausch von freier Zeit im Überdruss hatten sie bald sämtliche lang aufgeschobenen Reparaturen erledigt und die Ferienwohnungen ihrer Freunde abgeklappert. Wie von Geisterhand regiert verwandelte sich der Ruhestand allmählich in die Hölle der Langeweile, die Eduards Streitlust befeuerte, während Martha die Aussicht, jemals wieder etwas bewegen zu können, fehlte. Sie hatte die Dynamik ihres Berufs, den hohen Grad der Zufriedenheit unterschätzt, den es ihr verschaffte, wieder mal ein Kirchenkunstwerk retten zu können oder in einem fremden Land in einem renommierten Museum als Fachkraft anerkannt zu werden.

    Zurück in den Beruf als Restauratorin konnte sie nicht mehr, die Kontakte waren längst verloren. Dazu war die Welt seit dem Klimawandel in neue Gefahrenzonen aufgeteilt. In Asien fürchtete man die Überflutungen, in Australien die Buschbrände, und in Afrika verdorrte jeder noch so kümmerliche Halm. Und Eduard entdeckte in jedem Rotwein die Ankündigung eines Herzinfarkts und im Sonnenaufgang das weiße Licht des Todes.

    Vor allem aber kreidete sie Eduard an, dass er sich dagegen sperrte, ihre Freundin Sophie bei ihnen wohnen zu lassen. Martha kam ihr Elternhaus in der letzten Zeit oft seltsam leblos vor. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie bliebe nur wegen der Enkelkinder bei Eduard, die noch nicht mal ihre eigenen waren, sich aber täuschend echt anfühlten.

    »Dein Zuckerpüppchen ist aus dem Bett gefallen«, murmelte Sophie hinüber.

    Martha drehte sich zur Tür um, in der Frau Maurer drohend stand. Ihrer Miene nach schien Frau Maurer es heute wiedermal als eine schier unlösbare Aufgabe anzusehen, sie alle zu Redakteuren für die Vielzahl an neuen Spartensendern auszubilden, mit Unterstützung des Arbeitsamts, das seit einigen Jahren erfahrene Menschen für digitale Berufe gewinnen wollte, auch um die Altersarmut zu schmälern.

    Eduards üppige Rente ersparte ihr diese Sorge. Auf Sophies Bitte hin hatte Martha aber bereitwillig der Teilnahme an dem Kurs zugestimmt. Sie wollte mit den technischen Möglichkeiten Schritt halten, die Welt veränderte sich in einem Tempo, das all diejenigen bestrafte, für die Neugierde ein Fremdwort war.

    Frau Maurer, eine stämmige Rothaarige, verdeckte immer noch die zierliche Eva, ihr Zuckerpüppchen, wie Sophie sie abschätzig nannte, solange sie Eva nicht in der Nähe wusste. Außer ihren zuckrig wirkenden Wimpern gab es nichts Puppenhaftes an der drahtigen Eva, die wie ein Kreisel ständig in Bewegung war. Manchmal entdeckte Martha allerdings in Evas Augen das einsame Kind, das sich zu oft auf der Flucht fühlte.

    Frau Maurers Stimme schwoll an. Obwohl sie sonst eher gelassen die Launen von Eva ertrug, die mit knapp über Zwanzig wesentlich jünger als die anderen Kursteilnehmer war.

    »Sie hat sich die Haare blau gefärbt«, gab Sophie von der Seite die

    Neuigkeit weiter und rollte mit dem Stuhl in den Gang, Martha folgte ihr. Sophie schüttelte den Kopf.

    »Ihr Gesicht ist blau angemalt. Meine Güte. Wie hat sie das denn angestellt? Was soll das?«

    »Schon die Kelten haben sich vor einer Schlacht den Körper zum Schutz mit blauer Farbe angemalt. Das hatte was mit den Kräutern zu tun, aus denen sie hergestellt wurde, irgendeine antiseptische Wirkung«, erinnerte sich Martha.

    Sophie zuckte betont gelangweilt mit den Schultern. Seit sie mit den dreizehn unehelichen Kindern aus Kuba das Erbe ihres Vaters hatte teilen müssen, packten Sophie zunehmend snobistische Anflüge.

    »Ach, wirklich? Glaubst du, Eva befindet sich auf dem Weg zu einer Schlacht? Vielleicht hat wieder irgendjemand Eva beim Rauchen im Keller erwischt. Ihre aberwitzigen Verspätungen sind doch wahrhaftig nicht ungewöhnlich! Hast du schon gehört, dass in Italien das Rauchverbot in Bars und Restaurants aufgehoben worden ist? Es heißt, die Menschen haben Angst, ihnen könnte ein ähnliches Schicksal wie den Portugiesen blühen! Ist das nicht lustig?«, lachte Sophie glucksend.

    »Alles rückt an eine andere Stelle«, murmelte Martha und angelte nach der Frühstücksdose, die sie heute Morgen in aller Eile für Eva zurechtgemacht hatte. Angeblich raubte ihre karitative Ader Eduard noch den letzten Cent. Für Menschen wie Eva kannte Eduard kein Verständnis, gerade weil Eva zeitweise wohl auf der Straße lebte, wie Martha vermutete.

    Sophie beobachtete Martha mit spitzem Mund.

    »Hast du Eva wieder einen Fünfzigeuroschein in Butter gewickelt und Marmelade drauf gestrichen? Schau mich nicht so an. Glaubst du, vor deiner Freundin kannst du ein Geheimnis verbergen?«, fragte Sophie und leckte sich die Lippen.

    »Du bist eine dumme, eifersüchtige Schachtel«, stellte Martha ungehalten fest.

    »Nur weil Eva auf der Toilette unter dem Wasserhahn die Erdbeermarmelade von den Geldscheinen abwäscht! Soll ich mich etwa blind stellen? Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, empörte sich Sophie und zog nebenbei aus ihrer Strohtasche einen Spiegel. Nach einer eingehenden Prüfung zupfte sich Sophie das pompös toupierte, kohlrabenschwarz gefärbte Haar zurecht, das sie zum Knoten hochgesteckt trug.

    »Hallo, da bin ich«, begrüßte Eva lauthals die Teilnehmer des Kurses, die ihre Köpfe aus den Kojen streckten und sichtlich von Evas blauem Gesicht und den blaugefärbten Händen beeindruckt waren.

    Die blaue Farbe verkleinerte optisch Evas ohnehin zartes Gesicht. Eingerahmt von ihrer blau abstehenden Löwenmähne leuchtete Eva wie die geborene Siegerin. Sie schien auch bester Laune zu sein.

    Großen Schrittes durchquerte Eva den Klassenraum, als wolle sie ihn abmessen und zeigte strahlend gelblich weiße Zähne hinter blauen Lippen, deren Saum zum Mund rosa geblieben war. Ihre Arme pendelten über die dunkelblaue Röhrenhose, in der Martha sie jeden Tag sah und zu der sie heute einen erbarmungslos verwaschenen, aber leuchtend blauen Pulli trug. Eva griff, kaum dass sie ihren Bürostuhl neben Martha gezogen hatte, gierig mit blau geschminkten Fingern nach Marthas Butterbrotdose, um sie mit einem Handgriff zu öffnen. Ein Stoßseufzer der Erleichterung entfuhr ihr.

    »Du Gute. Ich habe einen Kohldampf heute!«

    Eva schlang das Käsebrot hinunter. Es musste ihre erste Mahlzeit sein, dabei lag die Mittagspause schon eine Stunde zurück. Sie erschien Martha noch dünner, als beim letzten Mal; selbst unter der blauen Schminke erkannte sie die eingefallenen Wangen und den flatternden Blick der Sorge, der auch bei guter Laune nie lange auf sich warten ließ. Sophie konnte ihre Neugierde kaum unterdrücken.

    »Was hatte die Maurer denn?«

    Eva verschob das Brot wie ein Hamster in die Backen und erklärte mit vollem Mund: »Wirst du gleich hören, aber eines kann ich euch verraten: Es gibt tolle Neuigkeiten, auch wenn die Maurer das wieder anders verpacken wird.«

    In der Tat klatschte Frau Maurer in die Hände und bat die wenigen noch in ihrer Internetarbeit versunkenen Teilnehmer des Kurses zu den Stuhlreihen des Gesprächskreises, der den Beginn und das Ende jeder Unterrichtsstunde bestimmte. Martha konnte die Unruhe der anderen Kursteilnehmer spüren. Alle musterten die blaue Eva, die munter weiter kaute. Wieder klatschte Frau Maurer energisch in die Hände.

    »Alle bitte herhören. Eva hat mir eine Botschaft unseres Rektors überbracht. Die Bundeskanzlerin hat soeben eine Fernseherklärung abgegeben, die von nationaler Bedeutung ist. Deshalb wird die Schule für heute geschlossen. Dann können sich alle mit den Einzelheiten der Rede vertraut machen. Kommen wir zu der außerordentlich wichtigen Fernsehbotschaft! Was wollt ihr hören? Erst die gute Nachricht oder erst die schlechte?«, fragte Frau Maurer in gewohnter Lehrerinnenmanier und zupfte an den Rüschen ihrer orangefarbenen Bluse, die sie zum braunen Samtrock trug.

    Martha schnürte sich der Hals zu. Bei der letzten Fernseherklärung der Bundeskanzlerin hatte sich Portugal noch im Würgegriff der Tornados befunden. Parallel zur Sendung liefen in Abstimmung mit ihren europäischen Kollegen alle erdenklichen Hilfsmaßnahmen an, die von der Entsendung fliegender Krankenstationen bis hin zu Staffeln aus Suchhunden und den notwendigen Sanitätsdiensten gingen.

    Die Mobilisierung der Soldaten aller europäischen Nachbarn hatte die anschließende live übertragene Konferenzschaltung bestätigt und war quasi per Knopfdruck für alle Zuschauer sichtbar in Gang gesetzt worden. In ganz Europa rückten Truppen aus. Soldaten bestiegen Kolonnen von Lastwagen mit Gerätschaften zur Räumung, füllten unzählige Geschwader von Flugzeugen und bestiegen bauchige Schiffe, teils sogar von privaten Reedereien zur Verfügung gestellt. Portugal sollte nicht für das Ende Europas stehen.

    Darüber hatten sie letzte Woche schreiben müssen. Denn erstmals in der europäischen Geschichte hatten sämtliche Staaten der EU, vom nördlichen Schweden, östlichen Polen und südlichen Griechenland, von Malta bis Belgien und Frankreich, für Hilfsmaßnahmen ihre Truppen über alle Landesgrenzen hinweggeschickt, um das portugiesische Volk aus dem Schutt zu graben und von einer einzigartigen Architektur zu retten, was noch der Rettung wert war. Hunderttausende mussten trotz einer völlig zerstörten Infrastruktur aus Straßen, Flughäfen und Bahnhöfen innerhalb von Stunden aus ihren eingestürzten Häusern befreit werden.

    Der gesamte spanische Zug- und Flugverkehr war gestoppt worden, um die Menschen von den Küsten Portugals ins sichere Innere von Spanien zu bringen, wo ihnen von einem Heer aus Freiwilligen Unterschlupf gewährt worden war. Die portugiesischen Überlebenden flossen in Strömen nach Spanien, wie Martha wusste, weil Frau Maurer ihr im Zuge einer Aufgabengliederung das Thema Spanien aufgebrummt hatte.

    Sophie hatte hingegen über die Koordinierung der europäischen Truppen berichten müssen, diesem reibungslos funktionierenden Spiel der Giganten, die in bunt leuchtenden Zeltstädten campiert hatten. Auf einem aus dem Hubschrauber heraus geschossenen Foto entdeckte Sophie als bildende Künstlerin sofort die eindrucksvolle, impressionistische Leuchtkraft, die von den über Kilometer verstreuten farbigen Zelten ausging. Ein vom journalistischen Standpunkt her betrachtet eher nebensächliches Element, was bedeutete, dass sie vor der gesamten Klasse in aller Strenge zur Ordnung gerufen wurde.

    Gemeinsames Lernen hieß das bei Frau Maurer. Kaum entdeckte sie bei einem Teilnehmer einen Fehler, warnte Frau Maurer gleich den kompletten Kurs eindringlich davor. So durften sie auch diesmal alle einen zusätzlichen, vor Enthusiasmus strotzenden Bericht über die internationale Truppenzusammenarbeit schreiben, was Sophie diverse Kaffeerunden gekostet hatte. Aber die Struktur der Europäischen Union kannten sie danach alle auswendig.

    »Schwärmen Sie, meine Damen und Herren, schwärmen Sie darüber, dass es eine solch einzigartige Koordination von Menschen und Geräten in dieser Dimension noch nie gab«, hatte ihnen Frau Maurer eindringlich geraten.

    Am Ende der Stunde hatte jeder Kursteilnehmer gewusst, dass der Rat der EU über eine europäische Katastrophenschutztruppe nachdachte, die speziell geschult und entsprechend ausgerüstet werden sollte; das hatte Martha wenig getröstet, auch wenn die Abstimmung der Hilfsmaßnahmen in Portugal unverhofft zu einer organisatorischen Meisterleistung geraten war.

    Aber spätestens seit Portugal sah es Martha als endgültig bewiesen an, dass die Menschheit der Natur einen Krieg erklärt hatte, den sie nur verlieren konnte.

    Eduard hielt dies selbstredend für sentimentalen Quatsch.

    Er argumentierte, dass es die Natur nicht kümmere, wenn die Menschen sich in den letzten Jahrhunderten viel zu zahlreich an den Küsten niedergelassen hatten. In der Geschichte Portugals habe es bereits im letzten Jahrhundert Tornados an den Küsten gegeben, an die sich nur keiner mehr erinnere. Den Menschen fehle der Respekt vor der Natur. Man habe schlichtweg zu viele Häuser auf Sand an den Strand gebaut. Nicht umsonst wären früher nur die Fischer bereit gewesen, in Strandnähe zu wohnen. Traditionell hätten alle Küstendörfer auf höher und gut zu verteidigenden und vom Meer geschützten Berggipfeln im Landesinneren gelegen, womit für Eduard bewiesen war, dass Martha die Situation wieder einmal völlig falsch einschätzte.

    Das Spezialthema ihrer Kursnachbarin Luise, der steigende Meeresspiegel und die sich erwärmenden Meerestemperaturen, hatte Martha wohlweislich gar nicht erst angeschnitten. Sie musste nicht alles im Leben mit Eduard bis zu Ende diskutieren. Diese Lektion hatte sie früh im Zusammenleben mit Eduard gelernt.

    Martha sah sich im Klassenzimmer um. Eva rollte zwar nach der Ankündigung der Lehrerin demonstrativ mit den Augen, aber der Rest der Kursteilnehmer wirkte sichtbar schockiert.

    Seit geraumer Zeit waren die Stimmen des Protests gegen die Folgen des Klimawandels zunehmend lauter geworden. Schüler und Studenten gingen regelmäßig auf die Straße und zogen die ältere Generation plötzlich in die moralische Verantwortung für das CO2-Debakel. Das kam einer generellen Vorverurteilung gleich, derer sich niemand so recht zu wehren wusste. Die Tatsachen lagen auf dem Tisch, da gab es kein Rütteln, einzig den hauchdünnen Einwand, dass auch die Jugend nicht anders gehandelt hätte, wäre sie in der Haut ihrer Eltern und Großeltern gewesen. Aber wer mochte das einsehen, für den die Fluten und Gefahren des Klimawandels einen festen Bestandteil der Zukunft bedeuteten?

    »Frau Maurer, tun Sie mir den Gefallen, beginnen Sie mit der schlechten Nachricht, meinen Nerven zuliebe«, bat Sophie nun eindringlich und steckte theatralisch ihre Lesebrille ins Haar.

    Zustimmendes Gemurmel bestätigte Sophie in ihrem Wunsch. Überall flammten Spekulationen über die Rede der Bundeskanzlerin auf. Frau Maurer musste den Kurs mehrmals zur Ordnung rufen, um wieder Ruhe in

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