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Die Klarinettistin: Liebesroman
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eBook314 Seiten4 Stunden

Die Klarinettistin: Liebesroman

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Über dieses E-Book

Martina Mauritius betreibt eine Art Erholungsheim für weibliche VIPs in den Niederlanden. Als die Star-Klarinettistin Lena van Langen einen Nervenzusammenbruch erleidet, zieht sie sich auf Martinas Anwesen zurück. Nach anfänglichen Schwierigkeiten miteinander beginnt Martina Gefühle für Lena zu entwickeln, doch ihr Berufsethos verbietet jegliche Annäherung. Zumal in der begleitenden Psychotherapie herauskommt, dass Lena große Probleme mit Sexualität in jeglicher Hinsicht hat. Die Therapie hilft Lena, zu sich zu finden, doch flieht sie zunächst vor den neuen Gefühlen, die auf sie einstürmen ...
SpracheDeutsch
Herausgeberédition eles
Erscheinungsdatum4. Okt. 2016
ISBN9783956091988
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    Buchvorschau

    Die Klarinettistin - Ina Sembt

    Musikliebhaberinnen

    Prolog

    »Du siehst müde aus«, bemerkte Martinas Freundin Janneke, als sie sich in einem ihrer Lieblingscafés in Amsterdam gegenübersaßen. »Waren wohl kurze Nächte, was?«

    »Durchaus«, antwortete Martina knapp und nippte an ihrem Kakao. Sie wusste nicht, ob sie bereit war, Janneke zu erzählen, wie sie diese Nächte verbracht hatte: mit einer Zufallsbekanntschaft namens Doris und mit ziemlich viel Sex. Wobei die Freundin sich das sicher denken konnte. Der entscheidende Punkt, über den Martina lieber nicht nachdenken wollte, war, dass sie immer weniger Gefallen an dieser Art sexueller Befriedigung fand. Seit ihrem 40. Geburtstag vor einigen Jahren gelang es ihr immer seltener, sich nach einem One-Night-Stand ausgeruht und voller Tatendrang zu fühlen, so wie früher.

    Ich weigere mich zu akzeptieren, dass ich mitten in der Midlife-Crisis bin, dachte sie jetzt missmutig.

    Glücklicherweise hakte Janneke nicht weiter nach. Stattdessen fragte sie: »Schläfst du heute Nacht zu Hause und isst mit uns zu Abend?«

    Ihr Blick wärmte Martina und vertrieb die grausame Kälte, die sie in sich hochsteigen fühlte. Sie nickte dankbar. Es war schön, dass sie Jannekes und Tonis so normales wie erfrischendes Familienleben heute Abend noch einmal genießen durfte, bevor sie wieder nach Oostkapelle aufbrach, wo sie morgen eine neue Klientin aufnehmen würde. Sie war die Patentante von Thies, Jannekes Dreijährigem. Seit kurzem waren die beiden außerdem Eltern einer kleinen Tochter, Sina, die ihnen derzeit den wohlverdienten Schlaf raubte, aber der ganze Stolz der beiden Mütter war. Martina fand den Gedanken tröstlich, dass es in den Niederlanden so viel einfacher für lesbische Paare war als in Deutschland, Kinder mittels einer Insemination zu bekommen. Sie und Ragnhild hatten es auch versucht . . . Leider hatte Ragnhild das Kind verloren. Jetzt lebte die Partnerin nicht mehr. Martina seufzte tief.

    Aber heute Abend hatte sie gar keine Zeit für Trübseligkeiten: Thies und Sina würden ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Sie rang sich ein Lächeln ab und winkte dem Kellner, um die Rechnung zu bezahlen.

    1

    Gutgelaunt und in aufgeregter Erwartung parkte Martina ihren Wagen in unmittelbarer Nähe des Terminals. Der Abend mit Janneke, Toni und den beiden Kindern war wirklich schön gewesen und hatte die trüben Gedanken verscheucht. Jetzt fühlte sie sich sogar endlich ausgeruht und erholt. Und heute war dazu auch noch ihr Glückstag: Sie fand einen Parkplatz direkt vor einem der Eingänge.

    Sie nahm es als gutes Omen für ihren neuen Gast, den sie noch nicht persönlich kennengelernt hatte. Eigentlich verstieß das gegen ihre selbst auferlegten Regeln. Normalerweise suchte sie immer den persönlichen Kontakt über Skype oder zumindest E-Mail, bevor sie eine Besucherin in ihrem Rückzugsort für gestrauchelte, überforderte Frauen aufnahm, denen sie half, ihr Leben wieder zu meistern. Aber die Managerin der weltberühmten Klarinettistin, die für die nächsten vier oder fünf Monate, vielleicht auch länger, in ihrem Haus logieren sollte, hatte sich derart für ihre Chefin eingesetzt, dass Martina gar nichts anderes übriggeblieben war, als dem Aufenthalt der Musikerin zuzustimmen.

    Jetzt sah sie der Ankunft ihres neuen Gastes mit gespannter Neugier entgegen. Dass der Weltstar der klassischen Musik eine Herausforderung sein würde, hatte deren Managerin mehr als einmal durch die Blume zu verstehen gegeben. Die Frage, warum sie diese Frau überhaupt als Besucherin akzeptiert hatte, konnte sich Martina noch immer nicht wirklich beantworten. Wahrscheinlich weil die Managerin so verzweifelte Mails geschrieben und am Telefon so eine erotische Stimme gehabt hatte.

    Beschwingt betrat Martina die Ankunftshalle des Amsterdamer Flughafens Schiphol. Vermutlich wusste die Musikerin gar nichts über sie als Gastgeberin und ihre Philosophie, weil sie direkt aus einer nordamerikanischen Fachklinik für Psychiatrie kam und seit ihrer Einweisung nur eine Handvoll Kontakte aus ihrem privaten und beruflichen Umfeld hatte haben dürfen. Carol, die Managerin, hatte Martina eingeschärft, ihre Chefin nicht zu überfordern. Dieser Hinweis wäre gar nicht nötig gewesen: Die Frauen, die zu ihr kamen, brauchten allesamt eine behutsame Behandlung, da die meisten von ihnen eine schwere Zeit durchgemacht hatten und in erster Linie Ruhe und rücksichtsvolles Entgegenkommen benötigten. Bisher war es Martina auch immer gelungen, sich genau auf die Bedürfnisse ihrer Klientinnen einzustellen und ihnen gezielt so zu helfen, dass sie letztlich gestärkt in ihr Leben zurückfanden. Ob ihr das bei der Klarinettistin gelingen würde, wusste sie nicht. Sie schien eine komplizierte Persönlichkeit zu sein, wenn man Carol glauben durfte. Außerdem kannte sich Martina überhaupt nicht mit klassischer Musik aus. Herausforderungen waren jedoch eine ihrer Stärken. Sie freute sich schon darauf, die anstehende Aufgabe mit Professionalität und Engagement zu meistern.

    Dem Bildschirm in der Ankunftshalle entnahm Martina, dass die Maschine mit ihrer neuen Klientin bereits gelandet war. Sie würde also in Kürze durch den Zoll kommen. Martina machte sich auf zum richtigen Ausgang und wartete geduldig. Da alle ihre Klientinnen prominente Persönlichkeiten waren, nahm sie davon Abstand, mit einem Namensschild durch das Terminal zu laufen, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf ihre Gäste zu lenken. Stattdessen prägte sie sich vorher die Gesichtszüge der Person ein, die sie empfangen würde. Sie hatte sich das Foto der Klarinettistin auf deren Homepage genau angesehen und hielt nun nach einer Frau Ende dreißig Ausschau, mit kurzen, dunklen Haaren, die mit einer Handvoll grauer Strähnen durchsetzt waren. Die ersten Passagiere traten bereits durch die Tür. Sie betrachtete sie eingehend. Bis jetzt war das richtige Gesicht noch nicht dabei gewesen.

    Eine Frau mit Kurzhaarschnitt und einer Sonnenbrille trat durch den Spalt und blickte sich suchend um. Das könnte sie sein. Martina ging auf die Frau zu und fragte: »Entschuldigen Sie bitte. Sind Sie Frau van Langen?«

    Durch die Sonnenbrille konnte sie die Reaktion ihres Gegenübers nicht deuten. Die Frau blickte sie durch die dunkle Brille an und nickte nur. Ihre Züge wirkten starr, wie in Stein gemeißelt. Ihre helle, fast fahle Haut verriet, dass sie in den letzten Monaten kaum die Sonne gesehen hatte.

    Martina streckte ihr die rechte Hand entgegen und sagte: »Martina Mauritius. Guten Tag und herzlich willkommen!«

    Die andere ignorierte ihre Hand und quetschte nur ein »Tag!« heraus.

    Na gut, dann nicht. Vielleicht war sie übermüdet, offenbar kam sie ja direkt aus Nordamerika. Martina warf einen Blick auf den winzigen Koffer, den die Frau hinter sich herzog, und fragte verdutzt: »Ist das Ihr ganzes Gepäck?«

    »Sie werden doch wohl eine Waschmaschine im Haus haben?«, kam es grob aus Richtung der Sonnenbrille. »Und ich bin mir sicher, dass es auch in Holland so etwas wie Bekleidungsgeschäfte gibt.«

    Martina zog unmerklich die Augenbrauen hoch. Witzig sind wir heute auch, dachte sie sarkastisch. Und inkorrekt noch dazu. Schließlich wird sie die nächsten Wochen zwar in den Niederlanden verbringen, aber nicht in der Provinz Nord- oder Südholland, sondern in Zeeland. Doch sie verzichtete darauf, die Terminologie richtigzustellen. Stattdessen sagte sie unbeirrt freundlich: »Ich hatte Glück mit dem Parkplatz. Wir haben es nicht weit.« Damit setzte sie sich in Richtung Ausgang in Bewegung.

    Sie ging voraus in der Annahme, dass Frau van Langen in der Lage war, ihr übersichtliches Gepäck selbst zu bewältigen. Dabei hatte sie Carols Rat im Ohr: »Fassen Sie sie nur nicht mit Glaceehandschuhen an. Das mag sie gar nicht.« Normalerweise hörte Martina nicht auf solche Ratschläge, sondern machte sich lieber selbst ein Bild. In diesem Fall entschied sie allerdings ganz im Einklang mit Carols Empfehlung, dass Ignoranz genau die richtige Verhaltensweise wäre.

    Beim Auto angekommen, sah Martina aus den Augenwinkeln Frau van Langens abschätzigen Blick. Im nächsten Moment muffelte die Klarinettistin auch schon: »Ein anderes Modell war wohl nicht in Ihrem Budget? Dabei nehmen Sie es von den Lebendigen.«

    Immerhin hat sie sich über meine Preise informiert, dachte Martina und gab sich alle Mühe, das Ganze mit Humor zu sehen. Sie ließ die arrogante und noch dazu reichlich unverschämte Aussage – immerhin bot sie einiges für besagte Preise – unkommentiert, setzte ihr lieblichstes Lächeln auf und sagte freundlich: »Ich hoffe, Sie fahren trotzdem mit.« Im Stillen sagte sie sich: Wählerisch ist die Dame auch noch. Aber ich lasse mich nicht provozieren.

    Sie öffnete den Kofferraum des Kastenwagens, der bereits ihren eigenen Koffer sowie ihr Fahrrad beherbergte. Zugegeben, der Wagen war keine Limousine, aber er bot Stauraum im Überfluss, und Martina liebte es, ihr eingefahrenes Tourenrad überallhin mitnehmen zu können. Und Frau van Langens kleiner Trolley würde sich auf der großzügigen Ladefläche noch mit Leichtigkeit unterbringen lassen. Sie nahm dem Gast den kleinen Koffer ab, verstaute ihn im Kofferraum und bat die Fremde, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Ein anderer Sitzplatz stand nicht zur Verfügung, da sie die Rückbank heruntergeklappt hatte, um Platz für das Fahrrad zu schaffen.

    Sie sitzt wahrscheinlich lieber im Fond und lässt sich durch die Gegend chauffieren, dachte Martina zynisch, während sie selbst auf den Fahrersitz kletterte und den Motor startete. Und dabei macht sie unqualifizierte Bemerkungen. Wetten? Sie schluckte ein Kichern hinunter.

    Durch einen Seitenblick vergewisserte sie sich, dass der Weg frei war, dann fuhr sie vorsichtig an. Es dauerte nicht lange, und sie waren auf der Autobahn Richtung Rotterdam unterwegs.

    »Wie lang fahren wir?«, fragte Frau van Langen im Befehlston.

    Martina ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. »Etwa zwei Stunden.«

    »Ich dachte, es geht schneller.« Die andere schien etwas ungehalten über den weiten Weg. Doch das war nun wirklich nicht Martinas Problem. Die Musikerin hatte sich offenbar überhaupt nicht auf ihren Aufenthalt vorbereitet und es noch nicht einmal für nötig gehalten, sich die geographische Lage ihres neuen Domizils genauer anzusehen. Schon wieder muffelte es vom Beifahrersitz: »Aber wahrscheinlich ist dieses Ungetüm auch noch eine lahme Ente.«

    »Es sind etwas über 160 Kilometer, und die letzten 70 legen wir auf der Landstraße zurück. Das dauert nun mal seine Zeit. Im Übrigen beträgt die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen in den Niederlanden 130 Stundenkilometer.« Martina versuchte, sachlich und beruhigend zu klingen. Ein schnippisches »Und ich habe nicht vor, Ihretwegen die Geschwindigkeitsbegrenzung zu ignorieren!« konnte sie sich allerdings nicht verkneifen.

    »Wofür bezahle ich Sie dann?«, war die patzige Antwort.

    Doch das leichte Zittern in Lena van Langens Stimme war Martina nicht entgangen. Und das ungehaltene Benehmen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Martinas neuer Gast offenbar kurz vor einem Heulkrampf stand. Auch das noch . . . Martina würde wirklich sehr behutsam vorgehen müssen. Auf eine erwachsene Frau, die auf den Arm will, habe ich im Moment so gar keine Lust, dachte sie leicht genervt. Vor allem, wenn sie gleichzeitig so tut, als sei sie eine von der ganz harten Sorte.

    »Das dauert mir alles zu lange. Ich bin seit gestern früh unterwegs. Ich bin hungrig und müde.« Frau van Langen klang wie ein trotziges Kind, das seinen Willen nicht bekam. Das hatte Martina gerade noch gefehlt, dass sie sich jetzt alle fünf Minuten diese Quengelei würde anhören müssen. Sie beschloss, einfach nicht darauf zu reagieren.

    Das erwies sich als die richtige Strategie, denn kaum hatte die Klarinettistin ihre trotzigen Worte ausgesprochen, war sie auch schon eingeschlafen. Sie scheint wirklich müde zu sein, dachte Martina, schon etwas versöhnter. Na ja, ich weiß ja selbst, dass so ein langer Flug ganz schön schlaucht. – Aber jetzt bin ich viel zu schnell viel zu nachsichtig mit ihr, fiel ihr auf. Sie beschloss, sich derartiges Genörgel und sonstige Frechheiten im täglichen Umgang mit der Musikerin nicht gefallen zu lassen.

    Martina war eine sichere und besonnene Fahrerin, und so verlief die Fahrt sehr ruhig. Frau van Langen schlief während der gesamten Fahrzeit friedlich weiter. Schließlich waren sie am Ziel: einem recht großzügigen Anwesen zwischen den beiden Örtchen Oostkapelle und Vrouwenpolder, wenige Meter von der niederländischen Nordseeküste entfernt inmitten der Dünen gelegen. Ein Ort, an dem alle Welt Urlaub machte. Um diese Jahreszeit freilich war es ausgesprochen ruhig, nahezu ausgestorben: Die Ferien waren vorbei, die Menschen bereiteten sich auf das Ende der Saison und damit die ungemütlichste Jahreszeit vor, mehr als die Hälfte der Restaurants befand sich bereits in der Winterpause.

    Martina parkte den Wagen und drehte sich zu ihrer immer noch schlafenden Beifahrerin um. Einen Augenblick betrachtete sie das entspannte Gesicht der Fremden, deren Atemzüge flach, aber gleichmäßig waren. Sie sieht verdammt gut aus. Und mit Sicherheit ist sie lesbisch. Diese Vermutung ließ sie einen Moment innehalten. Komisch, darüber habe ich in der Presse gar nichts gelesen . . . Vielleicht weiß sie es selbst nicht.

    Amüsiert über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Mit knapp vierzig nicht zu wissen, dass oder ob man lesbisch war, schien ihr doch einigermaßen absurd. Auf der anderen Seite waren ihr während ihrer Arbeit immer wieder Frauen begegnet, die sich auch in fortgeschrittenem Alter ihrer sexuellen Orientierung nicht sicher waren. Es konnte ja nicht jede schon mit sechzehn wissen, dass sie lesbisch war. Das war zumindest das Alter gewesen, in dem Martina klargeworden war, dass sie nur auf Frauen stand.

    Jedenfalls wünschte sie Lena van Langen, dass sie ihr Coming-out schon hinter sich hatte. Dadurch wurde doch so einiges leichter. Und falls nicht, wäre es in ihrer, Martinas, Obhut vielleicht einfacher, ihre Sexualität zu entdecken, als im mehr oder weniger öffentlichen Alltag eines Weltstars. Obwohl Martina und die Klarinettistin nicht den besten Start gehabt hatten, fühlte sie sich in diesem intimen Moment der Betrachtung mit der Musikerin verbunden. Sie lächelte.

    Sanft legte sie ihre Hand auf Frau van Langens linken Arm und weckte sie so behutsam wie möglich, um sie nicht zu erschrecken oder sich erneut eine herrische Bemerkung einzufangen. Die Fremde blinzelte, bevor sie die Augen öffnete. Kurz vor dem Einschlafen hatte sie die Sonnenbrille abgesetzt und im Handschuhfach verstaut. Jetzt sah Martina in ein leuchtendes Braun, in dem sich die tiefstehende Sonne spiegelte und das ihr in diesem Augenblick vorkam wie das glänzende Fell eines Rehkitzes. Sie schmunzelte: Ein Rehkitz – mit fast vierzig? Na ja, vielleicht ist sie genauso unberührt. Aber eine unberührte Frau mit knapp vierzig – wo gibt es denn so was?

    Nur ganz kurz war der Blick des Weltstars unsicher, bevor sie sich daran erinnerte, wo sie sich befand und wer da gerade neben ihr saß. »Wo sind wir?«, fragte Frau van Langen barsch, so als hätte Martina sie entführt.

    »Wir sind da«, informierte Martina sie. »Hier werden Sie in den nächsten Monaten wohnen.«

    »Das werden wir noch sehen.« Der Ton der Fremden war immer noch feindselig. Weggeblasen waren alle Assoziationen mit einem Reh.

    Martina stieg aus, öffnete den Kofferraum und hievte die Koffer heraus. Um ihr Fahrrad herauszuholen, musste sie ein wenig in die Ladefläche klettern. Sie löste die Gurte, die das Gefährt gehalten hatten, schob es rückwärts aus dem Laderaum heraus und radelte die paar Meter zum Schuppen, um es dort zu verstauen, während die Klarinettistin aus dem Wagen stieg. Nachdem sie den Schuppen wieder verschlossen hatte, schlenderte sie langsam zum Auto zurück und widmete sich den Gepäckstücken, die auf dem Boden standen.

    »Ich transportiere meinen Koffer selbst«, kam es ebenso unwirsch wie zuvor von dem neuen Gast. Augenblicklich ließ Martina den Koffer der anderen los und ging mit ihrem eigenen auf das Haus zu. Die Fremde schien einen Moment unschlüssig, nahm aber schließlich doch ihren Trolley und folgte ihr durch die Tür.

    Martina hatte sich schon die Jacke ausgezogen und ihren Koffer zur Seite gestellt. »Kann ich Ihnen zuerst etwas anbieten?«, fragte sie höflich. »Oder wollen Sie gleich Ihre Wohnräume inspizieren und eine kleine Hausführung unternehmen?«

    »Ich habe Durst«, kam es schroff zurück, in demselben nörgeligen Ton wie am Flughafen.

    Martina blieb ganz geschäftsmäßig. »Was kann ich Ihnen bringen: Wasser, Tee, Kaffee, Saft?« Ihre Stimme war provozierend gelassen.

    »Wasser!« Schon wieder dieser Befehlston.

    Na ja, wenigstens nicht das nervige Quengeln. »Still oder mit Kohlensäure?«

    »Still!«

    Martina ging in die Küche, wo sie zuerst tief durchatmete und anschließend zwei Gläser mit stillem Wasser einschenkte, die sie im Wohnzimmer servierte. Frau van Langen nahm ihr ungeduldig ein Glas ab und trank es in einem Zug aus.

    »Jetzt würde ich gern Ihr Haus sehen«, sagte sie, als sie das leere Glas auf dem Tisch abstellte. Es klang etwas versöhnlicher, schien aber immer noch nicht ihr normaler Tonfall zu sein. Martina fragte sich, wie ihr normaler Tonfall wohl klingen mochte, denn den hatte sie ja noch gar nicht vernommen.

    »Bitte hier entlang«, sagte sie einladend und begann ihren Gast durch das Haus zu führen. Neben den Wohnräumen im Erdgeschoss zeigte sie Frau van Langen den wunderschönen Wintergarten mit Blick auf die Nordsee, der zum Gemeinschaftsbereich gehörte. Bevor sie sie in eine der zwei Wohnungen im ersten Stockwerk führte, die für sie reserviert war, ging sie mit ihr in den Keller, der neben einem Fitnessraum und einem Saunabereich ein kleines Schwimmbecken beherbergte. Der Pool war Martinas ganzer Stolz. Sie hatte ihn zusätzlich einbauen lassen, nachdem sie das Anwesen gekauft hatte, und jede ihrer Klientinnen hatte es bisher geliebt, schon morgens ihre Bahnen zu ziehen und so eine erste Trainingseinheit zu verrichten.

    »Hier absolviere ich jeden Morgen mein Schwimmtraining«, erklärte Martina. »Dieser Bereich steht Ihnen selbstverständlich auch zur Verfügung.«

    »Wer macht hier sauber?«, fragte die Fremde bissig.

    »Ein Hausmeister kümmert sich um die tägliche Reinigung des Beckens.« Äußerlich blieb Martina sachlich und ruhig, innerlich kochte sie fast. Das kann ja heiter werden, wenn das so weitergeht. Dann könnte sie die Erste sein, die ich rauswerfe.

    Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sprach Frau van Langen während des restlichen Rundgangs nur noch wenig – und deutlich weniger scharf. Und als sie wieder in der Küche angekommen waren und Martina begann, einen Salat als Abendessen zuzubereiten, schickte sich ihr Gast sogar an, beim Schneiden der Zutaten zu helfen.

    Wenn das ein Friedensangebot sein soll, überlegte Martina, ist es sehr subtil.

    »Mögen Sie Wein zum Essen?«, fragte sie in neutralem Ton. Und um bissiges Nachhaken erst gar nicht zuzulassen, fügte sie hinzu: »Ich beziehe meinen Wein aus Deutschland. Sie haben die Wahl zwischen Mosel- und Naheweinen. Rot oder weiß?«

    »Ich bevorzuge rot«, war die kurz angebundene Antwort. »Die Wahl des Flusses überlasse ich Ihnen.« Sie sah kurz in Martinas Richtung und schob hinterher: »Die nordamerikanischen Weine schätze ich überhaupt nicht.«

    Martina beschloss, diesen Zusatz nun wirklich als Versöhnungsangebot zu werten. Und vielleicht war ihre Anspielung auf den Fluss ja sogar ein Versuch, Humor zu zeigen, dachte sie und lächelte innerlich. Nach außen gab sie sich weiterhin professionell-distanziert: »Merlot oder Dornfelder?«

    Die andere schien von dem Angebot überrascht, denn sie hob anerkennend die Augenbrauen, während sie antwortete: »Merlot.«

    »Ich hole eine Flasche aus meinem Weinkühlschrank«, beeilte Martina sich zu betonen, um jeder sarkastischen Bemerkung zur richtigen Behandlung von Rotwein zuvorzukommen. Sie besaß tatsächlich einen Weinkühlschrank mit intelligenter Kühlung und einem eigenen Regal für jede Rebsorte, so dass jedes Getränk angemessen temperiert werden konnte. Und offensichtlich hatte sie den Gast sowohl mit ihrem Angebot an Weinen als auch mit deren professioneller Lagerung zum Schweigen gebracht, denn Lena van Langen enthielt sich diesmal jedes Kommentars.

    Martina hatte sich angewöhnt, den Merlot in einem dickbauchigen Bordeauxglas zu servieren. Darin konnten sich das Aroma und der Geschmack voll entfalten. Sie wappnete sich schon für boshafte Kritik an der unpassenden Wahl des Glases, aber die Fremde nickte nur schweigend, als sie ihr das Weinglas reichte.

    Sie saßen sich am Esszimmertisch gegenüber und hoben ihre Gläser, ohne sie jedoch gegeneinander klingen zu lassen. Frau van Langens Blick hatte fast etwas Weiches angenommen, als sie verträumt einen Schluck nahm. Sie schloss sogar für einen kurzen Moment die Augen, während sie die Flüssigkeit im Mund hin und her bewegte, und schien sich ganz dem Geschmack hinzugeben. Sie scheint eine Kennerin zu sein, dachte Martina anerkennend. Wie schön.

    Die Musikerin schluckte den Wein hinunter und bemerkte mit hörbarer Wertschätzung in der Stimme: »Der ist gut.«

    So viel Lob aus dem Mund des Weltstars hatte Martina gar nicht erwartet, ebenso wenig wie diese gewisse Sanftheit in ihrem Tonfall. Wahrscheinlich ist sie wirklich nur erschöpft von der Reise und deshalb so unwirsch. Ich gebe ihr eine zweite Chance, beschloss sie. Morgen. Sie lächelte ihr Gegenüber zurückhaltend an und nahm selbst einen zweiten Schluck des köstlichen Tropfens.

    Das Abendessen nahmen sie weitgehend schweigend zu sich. Die Musikerin konzentrierte sich ganz auf ihren eigenen Teller und ließ keinen Blickkontakt zu. Martina wunderte sich beinahe, dass sie die Sonnenbrille nicht wieder aufgesetzt hatte, um eine sichtbare Distanz zu schaffen. Als etwas später der Tisch abgeräumt und das Geschirr in der Spülmaschine untergebracht war – wobei Frau van Langen überraschenderweise geholfen hatte –, verabschiedete sich die Klarinettistin mit den Worten: »Ich gehe ins Bett. Ich bin sehr müde.« Sie wandte sich schon zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um: »Und danke für die leckere Mahlzeit, das hat mir gutgetan.« Den Blick hielt sie weiterhin gesenkt.

    Erneut war Martina überrascht. Ein Dank dieses anspruchsvollen Gastes kam vermutlich einer hohen Auszeichnung gleich. Aber warum sieht sie mir nicht ins Gesicht?, fragte sich Martina.

    Auch sie selbst begab sich wenig später ins Bett. Es war ein langer Tag gewesen. Während sie noch ein wenig in ihrem neuen Buch las, das sie sich heute Morgen in Amsterdam besorgt hatte, konnte sie die unerfreulichen Erlebnisse mit ihrer neuen Klientin ausblenden und schlief schließlich mit einem zuversichtlichen Gefühl ein.

    Am nächsten Morgen war Martina einmal mehr gutgelaunt aufgestanden, hatte ihre morgendlichen tausend Meter im Schwimmbecken absolviert und war dabei, das Frühstück zuzubereiten. Carol hatte ihr eine lange Liste gemailt mit den Vorlieben und Abneigungen der Klarinettistin in Bezug auf Lebensmittel und Speisen. Die Liste hatte Martina zwar abgespeichert, aber nicht gelesen. Sie wollte diese Informationen lieber von Lena selbst hören.

    Heute sorgte sie für die größtmögliche Auswahl. Von Müsli bis Brötchen inklusive Wurst und Käse tischte sie alles auf, frisch gepresster Orangensaft komplettierte das Angebot. Eier in jedweder Form wären ebenfalls schnell zubereitet. Martina war bereit für Lena van Langens großen Auftritt.

    Bis diese den Weg zum Frühstückstisch fand, dauerte es allerdings noch eine Weile. Vermutlich hatte die Anreise sie doch mehr mitgenommen, als sie selbst es erwartet hätte. Immerhin reiste sie sonst um die ganze Welt, und man hätte annehmen können, dass sie an lange Flüge und ebenso lange Tage gewöhnt war. Martina war längst mit dem Frühstück fertig, als der neue Gast verschlafen im Bademantel in der Küche auftauchte.

    »Morgen.« Die Stimme der Klarinettistin klang noch äußerst schläfrig.

    »Guten Morgen«, erwiderte Martina fröhlich. »Kann ich Sie mit einem Kaffee oder Tee erfreuen?«

    »Tee?«, fragte Lena skeptisch. »Frisch aufgebrüht?«

    »Was wohl sonst?«

    Die Aussicht auf frisch aufgebrühten Tee weckte offensichtlich die Lebensgeister der Musikerin, denn ihre Augen leuchteten regelrecht, und ihr Gesicht erschien wesentlich weniger abweisend als gestern. Ein solcher Luxus war ihr wohl in den Hotels, in denen sie während ihrer Tourneen logierte, nicht vergönnt.

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