Erzähl mir was von Afrika: Band 1
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Buchvorschau
Erzähl mir was von Afrika - Ronald Henss
Carmen Caputo
Nagobi und ihre Träume
Unbarmherzig brannten Sonnenstrahlen auf die staubbedeckte Erde Namibias und ließen die Luft vor Hitze flimmern. Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet. Die Trockenheit hatte die Hirsefelder zerstört, auch Jams und Maniok, und erschwerte das ohnehin mühselige Leben noch mehr.
Nagobi saß im Schatten der Holzhütte und sah den klaren Himmelszügen nach. Nein, Regen würde es auch die nächsten Wochen nicht geben, hatte Großvater gesagt, nicht mit diesem Himmel, nicht mit diesem Blau.
Nagobi dachte nicht weiter darüber nach. Sie hatte andere Gedanken in ihrem kleinen, dunklen Mädchenkopf.
In ihrem Schoß lag ein kleiner angeschmuddelter Schreibblock, der einzige Reichtum, den sie besaß. Sie schrieb gerne, die Handschrift zog flüssig über die durchgezogenen Linien, worauf sie sehr stolz war. Der Bleistift war alt und abgenutzt, nur kurze Zeit würde sie damit noch schreiben können. Geld, um einen neuen Stift kaufen zu können, besaß sie nicht.
„Er muss einfach noch ausreichen, dachte sie energisch, „ich muss es schaffen, ich muss einfach.
Dabei fegte sie etwas Staub von ihrem bunten Kleid, das Großmutter für sie genäht hatte, und begann zu schreiben.
Schon sehr früh – Nagobi hatte gerade Laufen gelernt – waren ihre Fantasie, ihr Ideenreichtum und ihre Neugier auf das Leben außerhalb des Dorfes ungewöhnlich gewesen. Nagobi fragte und fragte. Sie fragte, bis sie von den anderen Kindern belacht wurde und die Erwachsenen nur den Kopf schüttelten.
Die Männer ablehnend, denn Mädchen hatten nichts zu fragen, nicht in diesem Teil der Welt. Auch wenn Missionare und Hilfsorganisationen Schulen gebaut hatten und jeden Tag singende Kinder um sich scharten, tolerierten es die meisten Männer nur.
Die Frauen hingegen sahen Nagobi mitleidvoll an, denn sie ahnten, was für ein Leben ihr bevorstand und sie wussten, für ein Mädchen würde es besser sein, sich dem Dorf und den Traditionen anzupassen, je früher, desto besser.
Das war Großmutter Ragionis Rat: „Du musst lernen zu nicken, hörst du, Nagobi? Einfach nicken und du wirst ein gutes Leben haben."
Nagobi nickte nicht und weder störten sie die bösen Blicke der Männer noch das Gelächter der Kinder. Je älter sie wurde, umso mehr begann sie die Welt zu hinterfragen.
Eines Nachts hatte sie wach gelegen und beschlossen, einen Traum aufzuschreiben, die Seiten in eine Glasflasche zu stecken und in den Fluss zu werfen. Sie hatte an der großen Wandkarte von Mutter Rutha entdeckt, dass der kleine Fluss, der sich am Dorf entlangzieht, in den Auob mündet, der wiederum in den Malopo und der in den großen, in den Oranje, der direkt ins weite Meer hineinfließt.
„Irgendjemand wird sie finden und die Welt verändern", dachte sie, drehte sich um und schlief zufrieden ein.
„Was sitzt du denn hier herum, Nagobi, es gibt genügend Arbeit für dich! Verbittert starrte Martita zuerst auf das Mädchen, dann auf den Block in seinem Schoß. „Schreiben ist etwas für Reiche, merk dir das doch endlich.
Sie selbst hatte nie Schreiben oder Lesen gelernt. In ihrer Kindheit hatte auf dem Dorfplatz noch keine Schule gestanden, sie hatte nie etwas anderes gelernt als sich um Haus und Familie zu kümmern. So war das Leben, so war Martita geboren, so in Tradition erzogen; und sie hatte früh gelernt es hinzunehmen.
„Woher du nur diesen Unsinn im Kopf hast", schimpfte sie weiter.
Dieses Kind brachte ihr nur Ärger ein. Sogar die Dorfältesten hatten sich Gedanken über Nagobi gemacht und Martita darauf angesprochen.
„Martita, hatten sie gesagt, „Schreiben und Lesen akzeptieren wir inzwischen, aber die Fragerei deiner Tochter ist bedenklich.
Es hatte Mutter Rutha, einer deutschen Ordensschwester, einige Monate Überzeugungsarbeit gekostet, bis die Dorfältesten zögernd den Mädchen den Besuch der kostenlosen Schule erlaubt hatten. Aber damit war ihre Einsicht auch am Ende. Eine Frau blieb schließlich eine Frau, ob mit oder ohne Bildung, darüber waren sie sich einig.
„Du bist die Mutter, du musst ihr die Träume ausreden. Du musst sie auf das Leben als Frau vorbereiten."
Martita nickte wie sie immer nickte, wie sie es gelernt hatte zu nicken. Von Großmutter.
„Sie haben ja Recht, dachte Martita, „Aber soll es ihr wirklich so ergehen wie jeder hier im Dorf? Die Zeiten haben sich verändert, vielleicht verändern sich auch die Köpfe der Menschen.
Martita liebte ihre Tochter, vielleicht auch ein Stück ihrer Träume, vielleicht auch die Hoffnung, dass diese neue Generation Frauen, die mit Nagobi heranwuchs, stark sein würde, stärker als sie es je gewesen war. Sie war zu alt um es zu ändern, ihr Leben zu hart, als dass sie ihre Energie in Träume und Ziele hätte verschwenden können.
„Ach, Mama, lass mich doch, bitte! Nagobi verlegte sich aufs Betteln. „Du weißt doch, ich muss schreiben. Wenn nicht heute, dann schreibe ich morgen oder übermorgen, Mama, bitte ... Morgen helfe ich dir auch wieder beim Brotbacken. Bitte ...
„Träume! Du hast nichts als Unsinn im Kopf, schon als kleines Kind. Als ob du die Welt damit verändern könntest! Komm schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Vater wird schimpfen, wenn du die Steine nicht wäschst."
Verständnisvoll aber unnachgiebig sah Martita in Nagobis Augen, strich ihr über das Haar und lächelte. „Meine kleine Nagobi, wenn du wüsstest, wie sehr ich mir ein besseres Leben für dich wünsche." Martita seufzte auf.
Nagobi bemerkte die Traurigkeit in ihren Augen. „Stell dir nur vor, Mama, wie die Menschen am anderen Ende der Welt meine Worte lesen werden. Kannst du dir ihre Gesichter vorstellen? Vielleicht geht es anderen Frauen anders. Mutter Rutha erzählt uns manchmal von den Frauen in Europa, sie leben anders als wir."
In Nagobis Stimme lag eine Art Trotz, den zu zeigen sie nur ihrer Mutter gegenüber wagte.
„Nein! Martitas Stimme wurde hart. „Aber ich kann mir das Gesicht von deinem Vater vorstellen, wenn er heimkommt und sieht, dass du herumsitzt.
Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, drehte sich Martita um und ging ins Haus zurück.
„Ich beeile mich, Mama, ganz bestimmt", rief Nagobi hinter ihr her.
Sie senkte die Schultern und begann zu schreiben, Seite um Seite, unzählige Seiten, die Bücher füllen würden, wenn sie nur mehr Hefte und einen neuen Bleistift gehabt hätte ...
Jeder Mensch könnte schreiben und lesen; niemand würde auf die Ungebildeten herabsehen; jede Frau würde den Männern ebenbürtig sein, kein Mensch wäre besser als der nächste; für jeden gäbe es genügend zu essen, zu trinken; die Welt würde krieglos werden; lachende Kinder überall auf der Erde, lachende Frauen; und ... und ... Nagobi schrieb und schrieb, bis auch der letzte Rest Blei verschrieben war.
Langsam ertrank die Sonne gelbrot im Nebenfluss des Auob.
Sie lief ans Ufer hinunter und während das warme Wasser ihre nackten Füße umspülte, nahm sie die kleinen Zettel, rollte sie ineinander und steckte sie in die längliche Glasflasche, die sie seit Tagen bei sich getragen hatte.
Dann warf sie sie ins mückenbedeckte Wasser und sah ihr nach, wie sie langsam mit den kaum fühlbaren Windzügen fortglitt.
Nagobi dachte an Mutter und an die Steine, die sie immer noch nicht gewaschen hatte. Sie beeilte sich nach Hause zu kommen und spürte, wie sich ein warmes Gefühl in ihrem Herzen ausbreitete.
Längst hatte Martita begonnen, sich Sorgen zu machen. Sie stand vor der ärmlichen Hütte und wartete. „Nagobi, wo bist du nur so lange gewesen?" Sie nahm sie erleichtert in die Arme.
Nagobi senkte schuldbewusst den Kopf und schwieg, ganz entgegen ihrer sonstigen Art, den Mund nicht stillstehen zu lassen.
„Vater ist noch nicht da, geh und wasche die Steine."
Didier
Babas balle
Man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass er ein besonders sympathischer Junge war, der kleine Baba. Dafür war er viel zu sehr von sich selbst überzeugt und das, was man eine große Klappe nennt, gesellte sich, wie meistens in solchen Fällen, noch dazu. Er war nicht der typische Loser und das wusste er. Und ich auch. Wenn ich mir meine Volleyballmannschaft zusammenstellte, sicherte ich mir gern Babas Künste. Zugegeben, er spielte zu eigensinnig, drosch den Ball immer gleich rüber anstatt „passe zu spielen, wie das Zuspiel auf Französisch heißt. Aber im Gegensatz zu den anderen Kleinen, die unbedingt immer mitspielen wollten, bekam er den Ball wenigstens über das Netz. Seine Selbstsicherheit half ihm dabei. „La balle m’aime et moi, j’aime la balle!
, erklärte mir Baba mit stolz geblähter Brust einmal nach einem wunderbar herausgespielten Punkt. Ich sehe ihn noch heute vor mir: seinen meist unbekleideten, drahtigen Oberkörper, seine kurzen, schwarzen Locken, sein breites, weißes Grinsen, seine schmuddelige kurze, rote Sporthose. Schwer zu sagen, wie alt Baba war, vielleicht zehn. Die afrikanischen Kinder bleiben ja oft länger klein und schmächtig, weil die Reisgerichte manchen Wunsch des wachsenden Kinderkörpers unerfüllt lassen. Aber zum Volleyballspielen reichte es allemal.
Ich sehe auch die anderen noch alle vor mir, diesen „Kindergarten", die versammelte Jugend von acht bis achtzehn aus der Nachbarschaft des Centers, wie sie hinter dem Haus auf dem steinigen Acker baggerten und pritschten, auf jenem unebenen Spielfeld, das ich im September in einer schweißtreibenden Sammelaktion erst bespielbar gemacht hatte. Die dicken, roten Felsbrocken und die vielen kleineren Steine, die ich aufgesammelt hatte, liegen vielleicht heute noch als großer Haufen an der Rückseite des Hauses. Ich sehe auch noch vor mir, wie Baba, Martin oder Maldini – ihre richtigen Namen habe ich nie gekannt – den Ball über die hohe, graue Mauer auf das Nachbargrundstück droschen. Und Baba wohnte da irgendwo und kannte die Leute. Er war es meist, der dafür sorgte, dass der Ball bald wieder auftauchte. „Je vais checher la balle", rief er selbstbewusst und peste über den Basketballplatz zum Haupteingang des Peuple de l’Injil um vor Ort nach dem Ball zu forschen. Meist kam „la balle dann in hohem Bogen über die Mauer geflogen und das Spiel ging weiter. „La balle
– das französische Wort ist ja mit dem deutschen „Ball nicht ganz bedeutungsgleich, denn „la balle
heißt eigentlich Kugel und „ballon ist der Ausdruck für „Ball
, aber jeder, der schon einmal im französischsprachigen Afrika gewesen ist, wird bestätigen können, dass afrikanisches Französisch seine eigenen Gesetze hat, über die jedes Mitglied der Académie Française nur die Hände überm Kopf zusammenschlagen kann.
Volleyball war übrigens nur eines der Freizeit-Angebote, die unsere protestantische Missions-Außenstelle, die wir, dem muslimischen Gepräge von Conakry gemäß, als Peuple de l’Injil bezeichneten, für die Jugendlichen des Viertels bereithielten. Der Name ist ein französisch-arabischer Mix und bedeutet so viel wie „Volk des Evangeliums. Die Nennung des arabischen Begriffs „Injil
fungiert dabei als Wink mit dem Zaunpfahl und sollte in etwa folgende Botschaft übermitteln: „Schaut euch euren Koran mal genau an. Wir kommen auch drin vor!" Die amerikanischen Missionare, mit denen ich zusammenarbeitete, und ich, die deutsche Aushilfskraft, benutzten freilich lieber den einprägsameren und viel kürzeren Ausdruck Center. Und das war es ja auch, dieses Haus mit Unterrichtsräumen, einem Lesesaal, der sonntags zum Gottesdienstraum wurde, Tischfußball, einem Garten, einer