Weißer Schnee: Zur Erinnerung
Von Petra Saf
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Über dieses E-Book
Anne sitzt fest, ein Schneesturm hat die Ostküste für einige Tage fest im Griff.
Für Anne der Beginn einer Reise, ihrer Reise in die Vergangenheit ihrer Familie.
Nordschweden 1865
Jonas sitzt auch fest, in einem kargen Leben am elterlichen Hof und in einer Schneiderlehre.
Er will eine bessere Zukunft in einem fernen Land im Süden, das später Schlesien heißen soll, und bricht auf.
Eine Familie in Gedanken auf dem Weg zueinander.
Dafür ist es nie zu spät.
Petra Saf
Petra Saf wurde in Österreich geboren und ist deutsche Staatsbürgerin. Sie lebt und arbeitet in Tirol. Ihre künstlerische Tätigkeit umfasst das Schreiben von Romanen und Kinderbüchern. Eine weitere Leidenschaft ist die Hunde- und Landschaftsfotografie. Ihre Werke illustriert sie ausschliesslich mit eigenen Fotos.
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Buchvorschau
Weißer Schnee - Petra Saf
Inhalt
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cover.jpgPetra Saf
Weißer Schnee
Zur Erinnerung
Petra Saf
img1.pngBibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Roman, Trilogie, Band 1
Impressum
Texte: © 2019 Copyright by Petra Saf
Umschlaggestaltung: © 2019 Copyright by Petra Saf
Photography
Druck und Vertrieb: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Für Euch
Reden hätte geholfen,
das Schweigen tat es auch.
Wenn Vergangenheit fehlt,
wird sie geschrieben.
1
Anne
Anne sitzt in einem dieser Cafés, die kein Café sind, zumindest nicht so eines, wie sie es aus Europa kennt. Die Nacht war kurz, die Notlandung am gestrigen Abend heftig, das Wetter grauenvoll, wie das eben oft so ist in den Monaten der Winterstürme an der amerikanischen Ostküste.
Glück im Unglück, sie hat in letzter Minute eines der wenigen, noch verfügbaren Hotelzimmer in Manhattan gefunden. Nicht im Waldorf wie sonst, sondern in einem neuen Boutique Hotel in einer Seitenstraße. Moderner und nicht so modrig wie das noble alte Waldorf, das sich mit seinen Kristalllustern in den Gängen immer ein wenig wie die Titanic anfühlt. So zumindest empfindet sie das jedes Mal, wenn sie dort durch die verwinkelten Gänge geht.
Anders in diesem neuen Hotel. Die Lobby riecht frisch gestrichen, die Rezeptionistin auch. Alles ist, als sei es noch nie berührt worden. Der Front Desk, der Lift, der Teppichboden im Zimmer - weniger modern, aber so amerikanisch - das Bad und alles übrige auch. Aber an einem Tag wie diesem ist alles Neue eine Wohltat auf der Seele.
Das Wetter soll sich in den nächsten Tagen weiter derart verschlechtern, dass eine Totalsperre aller Flughäfen verordnet worden sei, teilt ihr die Rezeptionistin mit. Was für eine Willkommensnachricht gleich beim Check-in, sozusagen Hand in Hand mit der Magnetkarte fürs Zimmer. Sie bucht ohne langes Nachfragen gleich vier Nächte, das ist die durchschnittliche Verweildauer von heftigen Schneestürmen über New York. Anne weiß das, sie ist nicht zum ersten Mal in der Stadt. Dann folgt Routine, wie immer gleich ins Zimmer, Dusche und schlafen.
Um 7h weckt sie das Geräusch des Aufzuges, das klingt, als würde sich die Tür gleich neben ihr öffnen und wie angenehm, der Zimmerservice mit dem Frühstückswagen hereinrollen. Allein das bleibt ein Wunschtraum, denn es gibt keinen Zimmerservice an diesem chaotischen Wintermorgen, der die Stadt, ihre Einrichtungen und Bewohner lähmt. Der Zimmerservice geht nicht einmal ans Telefon und die Rezeption erklärt ihr, dass viele Mitarbeiter heute morgen nicht zum Dienst erschienen seien, da verkehrstechnisch gar nichts mehr geht.
Anne wird also auswärts frühstücken müssen.
Die Straßen sind nicht geräumt, der Schnee liegt fast kniehoch, es gibt kaum Taxis und eines der wenigen Zeichen von Leben sind die Warmluftschwaden, die aus den Kanaldeckeln emporsteigen.
Anne liebt den Schnee, seitdem sie denken kann, aber warum, das weiß sie nicht so richtig. Sie umrundet mehrere Blöcke, die meisten Coffee Shops sind noch geschlossen, aber dann nach fast einer halben Stunde, ist da eine kleine Bäckerei, die gerade als sie vorbeigehen will, die Lichter anmacht und in der, sie traut kaum ihren Augen, ein alter Mann mit weißer Bäckerschürze in diesem Moment einen Mohnstrudel in eine der Vitrinen stellt.
Richtigen Mohnstrudel, saftig, dick und goldbraun gebacken, überzogen mit einer dichten Schicht aus Puderzucker, weiß wie der Schnee. Mohnstrudel wie er in Polen oder besser gesagt im schlesischen Teil Polens Tradition ist. Mohnstrudel wie ihn der Vater liebt, als wäre darin die Süße der Kindheit verpackt. Immer wieder verlangt er danach, frisch gebacken, und sehr süß muss er sein. Denn es ist wohl in Wirklichkeit keine süße Kindheit gewesen, glaubt sie. Das ist ihre Annahme, ein Verdacht, denn er hat nie wirklich von seiner Kindheit erzählt.
Anne findet, dieses Café ist der richtige Ort für Ihr Frühstück und tritt ein. Da sitzt sie nun vor einem halben Liter schwarzem Kaffee und einem Stück lauwarmem Mohnstrudel.
Der Duft des warmen Mohns steigt ihr in den Kopf und mit dem Duft wirre Gedanken, wie es gewesen sein könnte, damals als eine Familie sich auf den Weg machte, um eine Familie zu werden, deren einzelne Mitglieder sich dann wiederum auf den Weg machten, um keine Familie mehr zu sein.
Das Leben ist seltsam.
Man wird geboren, wächst heran, beginnt auf eigenen Füssen zu stehen und zu gehen, betritt und bereist die große weite Welt, kennt fast alles und nie
genug, erlebt vieles und will immer mehr.
Aber wo man herkommt, das wissen viele nicht, denkt Anne. Das trifft auch für sie selbst zu.
Ihre Geschichte und Zeitzählung beginnen mit den Eltern und den Großeltern mütterlicherseits. Die Zeit davor hat irgendjemand geschwärzt. Antworten auf Fragen bekommt sie nicht, man solle die Vergangenheit ruhen lassen.
Das ist es, was die Vergangenheit am besten kann, sagen die Eltern.
Wie kann man nur so ignorant, uninteressiert, unreflektiert sein, so banal im Jetzt dahinleben? Wie kann man die nächste Generation über frühere Generationen im Unwissen lassen? Haben die Eltern denn nicht verstanden, dass Vergangenes Teil der Gegenwart ist und die Vergangenheit die beste Lehrerin der Zukunft ist?
Manchmal kann Anne nur schwer glauben, dass ihre Eltern so sind wie sie sind.
Und nachdem sie weiß, dass es den ganzen Tag schneien wird und es selbst in New York für sie nichts zu kaufen gibt, was sie nicht schon besitzt, beginnt sie zu träumen.
Davon wie es gewesen sein könnte, wozu es geführt haben könnte, warum es nicht anders kommen konnte und was von allem geblieben ist.
Wovon nie erzählt wurde, weil die Worte nicht gefunden werden konnten oder wollten.
Annes Traum von der Geschichte einer Familie beginnt an einem verschneiten Dezembertag des Jahres 2008 in New York City.
Wo und wann er enden wird?
Das wird man sehen.
2
Jonas
Jonas ist zwanzig Jahre alt, heute ist sein Geburtstag, ein kalter und hungriger Tag, wie fast alle Tage in diesem kargen Winter, ganz oben im Norden Schwedens. Sie schreiben den 26.November, im Jahr 1865.
Die Eltern betreiben einen kleinen Hof, der längst seinen bescheidenen Glanz verloren hat. Der Anstrich ist verblasst, die Fensterläden knarren, die Türen ächzen, es gibt nur einen gemeinsamen Wohnraum, dort wärmt ein Herd das Wasser für alle Bedarfe. Dann sind da noch zwei kleine Räume, die zum Schlafen dienen.
Jonas hat drei Schwestern, kühle Schönheiten, blond mit blauengrauen Augen, alle älter als er und unverheiratet, denn wer heiratet schon gerne arm. Das wird einmal auch für ihn gelten, fürchtet er. Die Mutter hat darauf bestanden, dass die Mädchen die Schule besuchen. Sie waren gute Schülerinnen. Seitdem helfen sie am Hof, es gibt genug zu tun. Eine weitere Ausbildung für Mädchen steht nicht zur Diskussion, denn eines Tages wird schon jemand kommen, der sie zur Frau nimmt.
Alle Kinder haben ihr Aussehen vom Vater geerbt,
seine blaugrauen Augen leuchten heute unter silbernem Haar, der einst drahtige Körper ist von der vielen Arbeit abgenutzt. Er soll einmal ein schöner Mann gewesen sein, sagen die Leute.
Ja und die Mutter, Haare schwarz wie Mohn, eine Haut weiß wie Schnee, und stets einen traurigen Blick, traurig wie ihr Leben.
Der Vater hat sie aus einer für die Zeit wohlhabenden jüdischen Handelsfamilie heraus geheiratet, gegen den Willen aller, gegen den Willen seiner lutherischen Kirche. Hinein in eine Mischehe, in der die Mutter versucht hat, alles Jüdische zu vergessen, und in der sie doch mit jedem Kind, das sie gebar, innerlich daran zerbrochen ist, zu wissen, dass es ein lutherisches Kind sein würde. Die Mutter hatte damals keine andere Wahl, der Vater hatte sie geschwängert. Das war und ist der einzige Grund für ihre Verbindung, wissen die Leute, aber nicht die Kinder.
Von den Großeltern weiß Jonas nur sehr wenig. Väterlicherseits sind da keine mehr. Sie haben sich am Hof in einen frühen Tod geschuftet. Beide Großeltern und deren Vorfahren sollen nie etwas anderes als das Dorf gesehen haben. Ja und vor vielen Jahrhunderten sollen sie aus Finnland eingewandert sein, so die Überlieferung.
Der Großvater und die Großmutter mütterlicherseits leben noch. Jonas kann sich aber nur dunkel an sie erinnern. Sie seien weggezogen, hat die Mutter einmal gesagt, in die große Stadt.
Der Großvater handelt mit allerlei Waren, dafür braucht man das Meer und einen Hafen in der Nähe, das weiß Jonas. Wenn die Kinder fragen, warum man die Großeltern denn nicht öfter besuche, kommt meist die Antwort, weil man dort in der feinen Gesellschaft nicht gerne gesehen sei.
Und dann sind da noch zwei weitere Blondschöpfe mit blaugrauen Augen, aber sie leben auf einem anderen Hof, mit einer anderen Mutter und keinem Vater. Offiziell.
Jonas hat die beiden nie kennengelernt, aber damals in der Schule hat er sie gesehen und die Leute tuscheln gehört. Ein Gesicht hätten sie, sein Gesicht oder besser gesagt, das des Vaters.
Das nächste Dorf ist eine gute halbe Stunde Fußmarsch entfernt, dort arbeitet Jonas, er ist Schneiderlehrling, eine andere Ausbildungsmöglichkeit gibt es nicht, es ist ein kleines Dorf.
Tagein tagaus vermisst er junge, alte, schöne, hässliche, freundliche, widerwärtige und manchmal auch heitere Kunden, die sich alle paar Jahre einen neuen Wintermantel leisten, besser gesagt leisten müssen. Die Arbeit ist so wie das Leben hier oben, eintönig, karg und ohne große Perspektiven.
Und Trinkgeld für den Schneiderlehrling? Was ist das, wer hat das schon. Aber Jonas will nicht klagen. Viele seiner ehemaligen Schulfreunde, die meisten auch Kinder eines Bauern, haben keine Lehrstelle oder Arbeit gefunden.
Er selbst ist nun im dritten Lehrjahr, wird seine Ausbildung bald abschließen und dann, ja dann will er etwas schaffen. Nur was, das weiß Jonas noch nicht so genau. Besser, grösser, aufregender und wohlhabender soll es sein. Bunter, fröhlicher und glücklicher als sein heutiges Leben. Wie, wo und wann das sein kein, das ist offen.
Der Vater hingegen hofft, dass Jonas eines Tages den Hof übernehmen wird. Mindestens einmal die Woche erwähnt er es am Frühstückstisch. Jonas antwortet nie, aber sein Blick sagt alles. Dann lässt der Vater missmutig den alten Löffel in den dampfenden, geschmacklosen Getreidebrei fallen, trinkt den letzten Schluck bitteren Tee, schaut ihn still an, sagt nichts und doch alles, und verlässt die Stube. Zurück bleibt der Rest der Familie, ebenso wortlos, denn was hat man sich schon zu sagen in einem Leben, das jenseits des Hofes nichts kennt.
Bei der Arbeit erzählen die Kunden Jonas von der anderen Welt da draußen, der reichen, der schönen, der lebenslustigen. Nein, nicht hier im Norden Schwedens, man muss südlicher reisen und am besten über das Meer, auf das Festland, ins Reich der Preußen oder Habsburger. Dort gibt es die prunkvollsten Städte, Kultur, Kunst, Musik, wunderschöne Frauen, den besten Kuchen und die Hochburgen der Stoff- und Textilindustrie, von denen auch der Schneider kauft.
Für die Kunden, die es sich leisten können.
Jonas versucht die Arbeit bei solchen Erzählungen immer ein wenig in die Länge zu ziehen, da noch ein Stich, hier noch eine Korrektur. Zu schön ist der Film vor seinen Augen. Eine Reise in eine bessere Welt, eine eigene Schneiderei und eine Familie, der er alles bieten kann.
Meist endet der Traum mit einem harschen Rüffel vom Meister. Er solle nicht rumtrödeln, sonst müsse man ihm etwas vom Lohn abziehen. Und überhaupt sei die Arbeit keine Märchenstunde und das Leben kein Preiselbeerkompott, wie der Meister immer zu sagen pflegt.
Das macht Jonas traurig und er fragt sich, wie denn all die Menschen, die heute ein besseres Leben als er führen, eben dorthin gekommen sind. Nur durch Geburt und Erbschaft? Das glaubt er nicht. Er wird die noble Kundschaft weiter aufmerksam beobachten. Solange bis er herausgefunden hat, was zu tun ist, um selbst ein nobler Herr zu werden.
Und dann ist da dieser eine Tag.
Jonas bahnt sich früh morgens den Weg durch den knietiefen Neuschnee zur Arbeit. Es ist noch dunkel, als er in der Schneiderei ankommt. Zu seinen Aufgaben gehört es, alles für den Meister und die Kunden vorzubereiten. Schnittmuster sortieren, Schneiderkreide und Nadeln ordnen, Garne farblich abstimmen, alles für jedes Modell und jeden Kunden. Dann noch Schnee schmelzen und mit dem gewonnenen Wasser Tee aufgießen, aus einer Art Baumflechte,
die angeblich gut gegen Erkältungen wirkt, denn mit der Kundschaft kommen die Grippe, Husten, Fieber und vieles. Und so manches bleibt.
Er hat seine Arbeit fast beendet, als es an der Tür klopft. Glasfenster sind unleistbar für den Schneider, also muss Jonas die Tür öffnen, um zu sehen, wer es ist.
Er öffnet die Tür, erstarrt wie zu Stein - die Türklinke ist sein einziger Halt - und versinkt in den tiefsten, braunen Augen, die er je gesehen hat. Ein wenig wie die seiner Mutter. Unter dem Umhang ragt ein schwarzer langer Zopf hervor, den der schmelzende Schnee in einen Eiszapfen verwandelt hat.
Das Wunderwesen ist klein, zart und irgendwie erbarmungswürdig.
Und als ihn die großen braunen Augen loslassen und er den Blick hebt, sieht er ein anderes, wesentlich größeres, braunäugiges Wesen, mit zornigem Blick aus ebenso dunklen Augen.
Man habe ihnen gesagt, die Schneiderei sei nicht weit von der Kutschenstation entfernt, der Weg mit Sicherheit freigeschaufelt und nebenan ein Café. Wohl alles frei erfunden und dreiste Lügen, noch dazu bei einer Neukundschaft.
Jonas erinnert sich an all das, was er über gutes Benehmen gehört hat, nicht zuhause, sondern von Kunden. Er bittet die griesgrämige Dame und das Zauberwesen in die Stube, klopft den Schnee von
ihren Mänteln, bittet sie abzulegen, hängt die Mäntel fein säuberlich an den Ofen und eilt in den Hinterhof - dort ist die Abstellkammer, die als Küche dient - trocknet zwei der eben gewaschenen, ärmlichen Teetassen und eilt mit dem warmen Gebräu zurück in die Stube.
Das Zauberwesen hat den Zopf gelockert, um das Haar zu trocknen. Jonas sieht wildes, schwarzes Haar um sanfte Augen.
In dem Moment betritt der Meister den Laden und entschuldigt sich vielmals für das tölpelhafte Verhalten seines Lehrlings. Natürlich sei der Weg normalerweise geschaufelt und das mit dem Café nebenan, das müsse ein Missverständnis gewesen sein.
Er nennt die Dame Frau Doktor, macht unentwegt den Diener und tritt Jonas heftig ins Schienbein, wie er es immer tut, wenn er ihm zeigen will, dass etwas absolut nicht stimmt.
Die Frau Doktor ist keine eigentliche Frau Doktor, sondern vielmehr nur die Gemahlin eines Herrn Doktor aus der nahegelegenen Stadt. Die Schneiderei wurde ihr für ihre Tochter empfohlen. Das Mädchen ist so zierlich, dass niemand für sie nähen will oder besser gesagt für die Mutter, deren Ruf sich im ganzen Land mit Windeseile verbreitet hat.
Frau Doktor erzählt, ihre Tochter brauche den Mantel für eine lange Reise. Der Herr Doktor habe einen Lehrstuhl in einer Stadt im Habsburger Reich angenommen und in zwei Wochen sei Abreise.
Nein, man werde dann dort leben und hoffentlich nie wieder nach Schweden zurückkehren. In der neuen Heimat werde alles viel nobler sein als im hier oben im ungehobelten Norden.
Der Meister weist Jonas an, die Vermessung beim Fräulein Tochter vorzunehmen, der Beginn einer kleinen, schmerzhaft süßen Ewigkeit. Er beginnt mit der Rückenlänge, dann Armlänge, Gesäß, Halsumfang und als er die Taille umfasst, nimmt er eilig Abstand, entschuldigt sich für einen Moment und läuft in die Abstellkammer. Nur dieses Mal nicht, um Tee zu holen.
Wenn er doch nur mit dem Wunderwesen auf Reisen gehen könnte, träumt Jonas.
Zurück im Raum wird schnell noch der Anprobetermin vereinbart und schon steht die nächste Kundschaft in der Tür. Es ist die Magd vom Nachbarhof, die ihr ganzes Erspartes zum Schneider trägt, nur um Jonas nahe zu sein.
Aber der blickt durch sie hindurch, zu den beiden Gestalten, die die Straße zurück zur Kutschenstation stapfen.
Und das Mädchen blickt zurück zu ihm, tiefbraune Augen auf einer Haut weiß wie der Schnee, mit Haaren schwarz wie Mohn.
3
Viktoria
»Mam, darf es noch ein Refill sein?«, fragt der Kellner.
Die schwarze Brühe ergießt sich in ihre leere Tasse, vom Mohnstrudel sind nur noch ein paar Krumen Zucker geblieben. Sie weiß nicht, wie lange sie so gesessen hat, ob sie im Tagtraum gesprochen hat oder wer in all der Zeit neben ihr gesessen hat. Aber wahrscheinlich niemand, denn ein Blick auf die Uhr sagt ihr, Manhattan schläft noch und wird bei dem Wetter weitere ein bis zwei Stunden die Straße meiden.
Ihr Telefon meldet eine E-Mail. Ihre Freundin aus Maine fragt, ob es ihr gut gehe. Der Wetterbericht habe sich noch weiter verschlechtert, sie solle Manhattan auf keinen Fall verlassen. Eigentlich schade, denn Anne hatte an einen Ausflug in die Hamptons gedacht.
Und dann ist da noch eine Mail, von gestern, die ihr wohl im Chaos der Anreise entgangen ist. Von ihm. Er findet das alles gar nicht gut, ausgerechnet eine Notlandung und nun tagelang in New York, wieso das denn sein müsse. Sie wisse doch, dass er von seiner damaligen Freundin eben in diese Stadt betrogen und verlassen worden sei. Er ertrage das kaum, wisse nicht wie er diese Tage ohne Hilfe überstehen solle, die Angst steige wieder in ihm auf, sie solle ihn sofort anrufen, das Hotel nicht verlassen und auf keinen Fall ausgehen. Er warte, es gehe um ihn.
Natürlich, es geht immer um ihn.
Keine Frage, wie es ihr denn gehe, ob alles den Umständen entsprechend gut sei, sie noch ein Zimmer bekommen habe, er irgendetwas für sie tun könne. Alles dreht sich ausschließlich um ihn, das geht nun schon seit zwei Jahren so. Seine Bedürfnisse, seine Ängste, seine sexuellen Vorlieben, seine Ehe, seine Mutter, seine Kinder, seine Geschäfte und überhaupt ausschließlich alles, was in diesem Orbit so um ihn kreist.
Aber heute nicht. Sie drückt die Ausschalttaste, diese Tage gehören ihr und nur ihr.
Am Nebentisch hat sich eine ältere Dame Platz genommen. Schlank, schwarz gekleidet, rote Nägel, das lange graue Haar zu einem Zopf gebunden, auffallend geschminkt, am Handgelenk eine silberne alte Uhr und eine Zahl, dick tätowiert, viel zu breit für das zierliche Gelenk.
Sie bestellt Kaffee und Mohnstrudel, wie Anne, und bemerkt Annes Blick auf der Zahl.
»Sie sind aus Deutschland mein Kind, nicht wahr?«, sagt sie.
Anne nickt wortlos, ist wie vom Blitz getroffen, fasst sich dann aber rasch und stellt sich kurz vor.
»Ja, Anne ist mein Name, guten Morgen!«
»Ach schön, wie meine verstorbene Schwester, guten Morgen! Ich bin Viktoria!«, sagt die würdevolle Dame.
Anne nimmt einen Schluck Kaffee, weiß nicht wie und ob sie die Unterhaltung fortsetzen soll. Vielleicht will Viktoria ja ihren Frieden.
Viktoria nimmt ihr die Entscheidung ab.
»Sie haben die Nummer auf meinem Handgelenk so angesehen. Das ist meine Erinnerung an zuhause, an Schlesien, an Auschwitz. Eigentlich wurden die Tätowierungen stets weiter oben am Arm gesetzt, aber ich war zu der Zeit an der Elle verletzt, trug einen Verband und so hat sich der Mann in der Uniform eben mein Handgelenk als Platz für die Zahl ausgesucht«, erklärt Viktoria.
Und sie beginnt zu erzählen.
Nein, sie sei nicht verhärmt. Sie habe in einem kleinen, armen Dorf in Schlesien namens, Weißbach gelebt, mit ihrer Mutter Bertha - einer Jüdin - und ihrer Zwillingsschwester Anne. Die Mutter sei Näherin gewesen. Einen Vater habe es nicht gegeben.
Eine alleinstehende Frau mit unehelichen Zwillingen zu der Zeit, das muss hart gewesen sein, denkt Anne, will aber nicht unhöflich sein und lässt es dabei bewenden.
Es sei schwer gewesen, in einer jüdischen Familie noch dazu ohne Vater aufzuwachsen, in einem Land, in dem sich fast alle feindselig begegneten.
Polen gegen Deutsche, Deutsche gegen Polen, Katholiken gegen Protestanten, ja und alle gegen die Juden.
Und so viele Familientragödien bis zum Krieg, den sie aber nur noch teilweise vorort erlebt habe, denn eine wohlhabende Verwandte in Amerika hatte sie im Jahr 1941 zu sich geholt, warum das wolle sie nicht erzählen. Die Mutter und die Schwester seien geblieben und früh verstorben. Warum darüber wolle sie ebenso wenig sprechen. Nur soviel, es sei kein freiwilliger Tod gewesen und auch kein schöner. Hätten die beiden damals doch nur auf sie gehört.
»Seien Sie froh und dankbar, Kind, dass sie so leben können, wie sie das heute tun. Wir hätten das auch gerne getan, zuhause in Schlesien« sagt sie. Dann entschuldigte sie sich, sie wolle nun ein wenig lesen, was sich in der Welt zutrage. Nach einer Weile zahlt sie, streift sich lange schwarze Handschuhe über die zarten Hände und die schwarze Nummer, lächelt Anne an, bedankt sich für das kurze Gespräch, besser gesagt das nette Zuhören und verlässt anmutig das Café.
Anne blickt ihr nach, dieser Gang, diese Gestik, dieses Gesicht, faszinierend und irgendwie vertraut.
Es gibt sie diese Momente, in denen wir Menschen begegnen, in die wir mehr hineininterpretieren, als da ist.
So erklärt sich Anne eben diesen Moment. Sie hat zufällig eine Dame getroffen, die sie berührt, aus welchem Grund auch immer.
Der Schneefall ist stärker geworden, ein starker Wind weht um die Häuserblöcke und lässt die Schneeflocken seitwärts durch die Straßen peitschen. Weniger einladend kennt Anne New York nicht, aber noch ein Kaffee ist auch keine Option und ein wenig durch die leeren Straßen zu schweifen, das grenzt bei dieser sonst so hektischen Stadt an ein kleines Wunder. Also wird sie ein wenig durch die Stadt streifen.
Sie zahlt an der Theke, packt sich warm ein und taucht ein in das Winterwunderland New York. Zuerst Lexington, dann Fifth Avenue, die ersten Geschäfte öffnen und Bloomingdales singt den Tag mit I am dreaming of a White Christmas ein, des Vaters liebstes Weihnachtslied.
Anne weiß nicht, ob und wie idyllisch seine Kindheit und seine Weihnachtsfeste waren. Sie weiß nur, dass das Lied wohl dafür steht, wie er sich Weihnachten vorstellt.
Oh nein, das Telefon klingelt, sie hatte zwar die Emailfunktion deaktiviert, aber nicht den Handyempfang. Das Display zeigt keine Nummer, sie nimmt ab und realisiert binnen Sekunden, dass sie das wohl besser nicht getan hätte.
Er, für ihn vier Uhr morgens, für sie das