Schlummernde Träume: Märchen zwischen Traum und Wirklichkeit
Von Christian Mörsch und Karin Schweitzer
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Über dieses E-Book
Einige der Märchen sind auch für Kinder unter 12 Jahren geeignet.
Zwei Brüder besuchen die Welten des Schicksals und des Zufalls.
Was sie dort finden, wird ihr Leben verändern.
Das Geheimnis des Lächelns verbirgt sich hinter einer verschlossenen Tür, doch das ist noch nicht das ganze Geheimnis.
Ein Prinz beschließt, das Rätsel von Leben und Tod zu lösen und trifft auf einen Magier, der einen verlockenden Trank zusammengebraut hat.
Ein Lichtlein macht sich auf die Suche nach der Dunkelheit und ein kleines Wort nach seinem Namen.
Diese und andere Märchen führen den Leser in die Welt der Träume, die in den Herzen der Menschen schlummern und darauf warten, geweckt zu werden.
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Buchvorschau
Schlummernde Träume - Christian Mörsch
Christian Mörsch
Schlummernde Träume
Märchen zwischen Traum und Wirklichkeit
Schlummernde Träume
Ein Gedanke,
ein Wunsch,
ein Traum
erwacht aus tiefem Schlaf,
eine flimmernde Fata Morgana,
vorstellbar, doch nicht greifbar.
Da ist ein Weg
durch heißen Wüstensand,
trocken und mühsam.
Gedankentropfen fallen vom Himmel,
fallen auf glühenden Boden.
Gedankentropfen – bloß hier und da –
verdunsten, als wären sie nie dagewesen.
Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne,
Wolken geduldiger Traumtröpfchen.
Regen,
Regen fällt auf heißen Wüstensand
und vertreibt die flimmernde Hitze.
Leben sprießt aus verloren geglaubter Erde
und lässt Wünsche wachsen
auf der Oase der Wirklichkeit.
Der Lebenstrank
Eines Tages würde es ihm gehören. Der Prinz blickte über das Land seines Vaters, die weiten Wälder, die Felder, auf denen reife Ähren im Wind hin- und herschaukelten, das prunkvolle Schloss und die Städte, die sich an die Ufer des Flusses schmiegten. Früher einmal hatte das Land seinem Großvater gehört. Wie oft hatte er als kleiner Junge auf seinem Schoß gesessen und seinen Geschichten zugehört? Er wusste nicht mehr viel von ihm – nur sein Name war geblieben. Großvaters Schaukelstuhl stand regungslos im Kaminzimmer, und neben ihm schien der Tod lauernd darauf zu warten, dass auch Vater alt wurde.
Die Sonne färbte sich rot und versank hinter dem Horizont. Morgen würde er in die Welt hinausziehen, wie es sich für einen Prinzen seines Alters gehörte. Er würde sie alle vermissen: Vater, Mutter, die Köchin, die ihn schon vor dem Essen den süßen Nachtisch probieren ließ, und den Wachmann, der ihm manchmal erlaubt hatte, sich heimlich aus dem Schloss zu stehlen, um mit den Kindern aus der Stadt zu spielen.
Sein Bett würde er vermissen, in dem es sich so herrlich träumen ließ, den Baum vor seinem Fenster, den er selbst als kleiner Junge gepflanzt hatte, und die verstaubte Bibliothek, in der es so wunderbar spannende Bücher gab.
All das musste er zurücklassen. Nur ein Schwert, Pfeil und Bogen, einen warmen Mantel, Proviant für die ersten Tage seiner Reise und eine Handvoll Silbermünzen konnte der Rücken seines Pferdes tragen.
Noch vor der Morgendämmerung ritt er davon. Schon bald erreichte er das unbekannte Land, das hinter dem Horizont lag. Er ritt durch fremde Städte und Dörfer, durch unberührte Wälder und namenlose Straßen. So vergingen viele Monate, an denen er Tag für Tag neue Dinge entdeckte und das Leben genoss. Eines Morgens aber stieß er auf einen unbequemen Weggefährten.
Es war ein nebliger Morgen. Man konnte nach allen Seiten kaum weiter als ein paar Ellen sehen. Zuerst war es nur ein verschwommener Schatten. Dann schälte sich ein Reiter aus dem Nebel. Er trug eine rote Rüstung. Der Prinz blickte ihm unsicher entgegen. Irgendetwas an dem Reiter kam ihm bekannt vor. Plötzlich sah er das Bild seines Großvaters! Warum musste er ausgerechnet jetzt an Großvater denken? – Wieder betrachtete er die rote Rüstung.
Woher kannte er den Reiter? – Woher ...? Und dann wusste er es: Der rote Reiter! Großvater hatte von ihm erzählt! Nur eine Figur in einer Geschichte, und nun stand er leibhaftig vor ihm! Der Prinz wurde blass vor Angst und gab seinem Pferd die Sporen. Doch so schnell er auch ritt, der rote Reiter kam näher und näher. Der Prinz schwenkte sein Pferd herum, damit er dem Angreifer ins Gesicht sehen konnte. Doch der rote Reiter hielt den Kopf gesenkt. Der Prinz hob sein Schwert und wollte gerade zum Schlag ausholen, als der rote Reiter den Kopf hob. Seine Augen trafen ihn wie der Stich eines Dolches. Im gleichen Augenblick spürte er einen Schlag gegen seinen Kopf. Er taumelte und riss sein Schwert in die Höhe. Doch es war bereits zu spät. Sein Pferd bäumte sich auf und warf ihn zu Boden. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sein linkes Bein. Er schloss die Augen und wartete auf den Todesstoss. Der Angreifer aber wendete sein Pferd und ritt lachend davon.
Es dauerte bis zum Abend, als er endlich das nächste Dorf erreichte. Er blutete noch immer, und sein Bein schmerzte.
Das Dorf schien menschenleer zu sein. Niemand war auf der Straße. Nur ein einsamer Vogel flog erschrocken davon, als er den blutenden Reiter erblickte. Der Prinz klopfte an jede Tür. Doch nirgendwo wurde ihm geöffnet. Schließlich kam er zum letzten Haus im Dorf. Er klopfte und abermals vernahm er nichts als Stille. Gerade, als er sich enttäuscht abwenden wollte, hörte er ein Geräusch. Es war jemand im Haus! Er klopfte wieder, dieses Mal etwas lauter.
„Ist da jemand?", rief der Prinz flehend.
Ein Mann schaute ängstlich aus einem Fenster und verschwand sofort wieder, als der Prinz ihn bemerkte.
„So öffnet mir doch! Ich bin verwundet!"
Plötzlich wurden Stimmen laut.
„Lass ihn nicht herein!"
„Dann gehe ich zu ihm", hörte er eine junge Frauenstimme.
„Du gehst nicht!"
„Hast du nicht gehört? Er ist verletzt!"
„Er will uns nur aus dem Haus locken!", rief eine Stimme, die einer älteren Frau zu gehören schien.
„Ich gehe!"
Hanka brachte ihn in einen Schuppen und verband seine Wunden. Dann ließ sie den Prinz allein, kam aber bald darauf mit einer dampfenden Suppenschüssel zurück.
„Warum versteckt ihr euch in euren Häusern?", fragte der Prinz, als er die Schüssel geleert hatte.
„Wir fürchten uns vor dem Tod."
„Und ihr habt gedacht ...?"
Sie nickte und ging hinaus.
So vergingen viele Tage. Hanka sah jeden Tag nach ihm und legte heilende Pflanzen auf seine Wunden.
Von seinem Strohlager konnte er eine Wiese sehen. Bunte Blumen hatten ihre Blüten geöffnet und blickten strahlend in die Sonne. „Warum blühen sie nur so schön, wenn sie vielleicht schon morgen wieder verwelkt sind?, dachte der Prinz. „Warum war alles, was lebte, zum Sterben verdammt? Wenn doch alles so bleiben könnte wie es ist – für alle Zeit! Die Menschen im Dorf müssten sich nicht mehr in ihren Häusern verstecken. Niemand, noch nicht einmal der rote Reiter, würde ihn jemals töten. Und der Tod würde vergebens hinter Großvaters Schaukelstuhl darauf warten, dass Vater alt wurde.
Als seine Wunden endlich verheilt waren, beschloss er, das Rätsel von Leben und Tod zu lösen. Am Abend vor seinem Aufbruch stand er am Fenster und lauschte dem Raunen des umherstreifenden Windes.
„Der Wind geht, wohin er will", sagte Hanka leise.
Der Prinz schwieg.
„Wirst du wiederkommen?"
Er nickte.
„Pass auf dich auf!", sagte Hanka und küsste ihn auf die Stirn.
Das gewellte Land zog sich zu einer Kette abgetragener Hügel hin, die, kahl und rundrückig, ein wenig wie schlafende Greise wirkten. Er zog durch unzählige Dörfer. Doch nirgendwo fand er eine Antwort auf seine Fragen.
Eines Abends kam er an die Hütte eines alten Magiers. Aus dem windschiefen Schornstein quoll grüner Rauch und mischte sich mit dem Weiß der Wolken.
„Ich werde ewig leben – ewig!"
Der Magier hörte nicht das Klopfen an der Tür.
„Ich werde ewig leben. Ewig!", rief er wieder und wieder.
Der Prinz öffnete die Tür und blickte in einen abgedunkelten Raum. In der Mitte hing ein brodelnder Kessel über einem Feuer.
„Ich werde ewig leben! Ewig!", rief der Magier abermals und lachte.
„Was soll das heißen?"
Der Magier hielt erschrocken inne und drehte sich um.
„Was soll das heißen, Ihr würdet ewig leben?", wiederholte der Prinz.
Der Magier